VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Beschluss vom 08.04.2020 - 6 L 1015/20.GI.A - asyl.net: M28530
https://www.asyl.net/rsdb/M28530
Leitsatz:

Kein Eilrechtsschutz während behördlicher Aussetzung der Vollziehung der Dublin-Überstellung wegen Corona-Pandemie:

1. Einem Eilrechtsantrag mit dem Ziel, den Dublin-Bescheid wegen Ablauf der Überstellungsfrist aufzuheben, fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, wenn die Behörde die Vollziehung der Überstellungsentscheidung im Hinblick auf die Corona-Pandemie "bis auf weiteres" ausgesetzt hat und diese Entscheidung noch nicht widerrufen wurde.

2. Die Aussetzungsentscheidung ist nicht unionsrechtswidrig, da sie sich auf die Reisebeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie und somit einen vertretbaren Grund bezieht, der den der Dublin-III-Verordnung inhärenten Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaates nicht missbräuchlich verkennt.

3. Das Rechtsschutzbedürfnis ergibt sich nicht daraus, dass Betroffene mit einer gerichtlichen Aussetzungsentscheidung mehr Rechte erwerben können als mit einer behördlichen, wenn der Erwerb dieser Rechte rein hypothetisch ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Aussetzung der Vollziehung, Abschiebungsanordnung, Dublinverfahren, Suspensiveffekt, Rechtsschutzinteresse, Überstellungsfrist, Aussetzung des Verfahrens, Corona-Virus, Dublinverfahren, Fristablauf, Niederlande,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Bst. a, VO 604/2013 Art. 27 Abs. 4, VwGO § 80 Abs. 4, VwGO § 80 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Zwar ist die Aussetzungsentscheidung ausdrücklich unter dem Vorbehalt eines Widerrufs abgegeben worden. Gleichwohl steht die behördliche Entscheidung aber in ihren Wirkungen einer gerichtlichen Anordnung der aufschiebenden Wirkung gleich und hat zur Folge, dass die Abschiebungsanordnung nicht vollzogen werden darf (vgl. zu Letzterem BVerwG, Urteil vom 9.8.2016, NVwZ 2016,1492). Insbesondere ist nach § 80 b Abs. 1 S. 2 VwGO hinsichtlich der weiteren Geltungsdauer der Aussetzungsentscheidung grundsätzlich unerheblich, ob diese von der Behörde oder dem Gericht getroffen worden ist. Auch ist derzeit nicht absehbar, ob die Antragsgegnerin überhaupt von ihrem "Widerrufsvorbehalt" Gebrauch machen wird. Darüber hinaus könnte die Antragstellerin, wenn die Antragsgegnerin die Aussetzungsentscheidung während des Klageverfahrens vor dem erkennenden Gericht mit der Folge aufheben sollte, dass die gesetzliche Anordnung der sofortigen Vollziehung wieder auflebt, hiergegen innerhalb der Wochenfrist entsprechend § 34a Abs. 2 S. 1 AsylG die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 1.3.2012, NVwZ 2012, 571 zu § 5 Abs. 2 S. 3 VerkPBG und § 17e Abs. 4 FStrG). Auch wenn im Asylgesetz keine ausdrückliche Regelung bezüglich einer späteren Antragstellung vorhanden ist, müsste § 34a Abs. 2 S. 1 AsylG zur Wahrung der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG entsprechend ausgelegt werden. [...]

Ferner sieht es die unionsrechtlichen Grenzen für die Aussetzungsentscheidung der zuständigen Behörde während eines Rechtsbehelfs gemäß Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO als gewahrt an, wenn diese den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennt und auch sonst nicht missbräuchlich ist. Letzteres wäre dann gegeben, wenn bei klarer Rechtslage und offenkundig eröffneter Überstellungsmöglichkeit die behördliche Aussetzungsentscheidung allein dazu dient, die Überstellungsfrist zu unterbrechen, weil sie aufgrund behördlicher Versäumnisse ansonsten nicht (mehr) gewahrt werden könnte. Letzteres ist vorliegend offensichtlich zu verneinen. Vielmehr beruft sich das Bundesamt in dem seiner Aussetzungspraxis zu Grunde liegenden an die Präsidentinnen und Präsidenten der Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe gerichteten Schreiben vom 18.3.2020 (Az. 61 D-7600-11/20) gut vertretbar darauf, dass angesichts der Corona-Krise in Europa inzwischen die meisten Grenzen geschlossen und Reiseverbote ausgesprochen worden sind. [...]

Schließlich beruft sich die Antragstellerin für ein Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses an ihrem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auch ohne Erfolg auf § 61 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AsylG sowie § 55 Abs. 3 i.V.m. § 67 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 AsylG. Zwar ist nach § 61 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AsylG Voraussetzung für die Erlaubnis zur Ausübung einer Beschäftigung für einen in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen verpflichteten Ausländer, dass der Asylantrag nicht als offensichtlich unbegründet oder unzulässig abgelehnt wurde, es sei denn das Verwaltungsgericht hat die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Entscheidung des Bundesamtes angeordnet. Dass diese Einschränkung im Fall der Antragstellerin zum Tragen kommen würde ist derzeit jedoch lediglich hypothetischer Natur. [...] In gleicher Weise hypothetischer Natur sind derzeit die Ausführungen zu einem Ausschluss der Anrechnung der Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet bei dem Erwerb oder der Ausübung eines Rechtes oder einer Vergünstigung nach § 55 Abs. 3 AsylG nach dem Erlöschen der Aufenthaltsgestattung gemäß § 67 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 AsylG mit der Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung nach § 34 a AsylG. Zwar wirkt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eine Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO auf den Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes zurück, wenn das Gericht die Rückwirkung nicht zeitlich einschränkt (BVerwG, Urteil vom 20.1.2016, NVwZ 2016, 1333), während eine Aussetzungsentscheidung der Behörde nach § 80 Abs. 4 VwGO lediglich ex nunc wirkt, wenn nicht ausdrücklich etwas anderes angeordnet ist (Schoch, a.a.O., Rn. 318). Bisher steht jedoch weder fest, dass der Eilantrag der Antragstellerin inhaltlich Erfolg haben würde, noch, dass sie in eine Situation kommen wird, in der die Dauer des Besitzes der Aufenthaltsgestattung entscheidungserheblich wäre. Darüber hinaus dürfte jedenfalls im Rahmen Aufenthaltsgesetzes dessen § 85 entsprechend anzuwenden seien, wonach Unterbrechungen der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts bis zu einem Jahr außer Betracht bleiben können. [...]