VG Stade

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Zitieren als:
VG Stade, Beschluss vom 07.04.2020 - 2 A 277/19 - asyl.net: M28563
https://www.asyl.net/rsdb/M28563
Leitsatz:

Unvollständige Zulässigkeitsprüfung des Asylantrags unionsrechtswidrig:

1. Bei der Prüfung, ob ein Asylantrag aufgrund der Schutzberechtigung in einem anderen EU-Staat nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig ist, muss das BAMF zugleich prüfen, ob dort eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta droht. Fehlt es an diesem Prüfungsschritt, so ist der Bescheid als unionsrechtswidrig aufzuheben (anschließend an: EuGH, Urteil vom 13.11.2019 - C-540/17; C-541/17 Deutschland gg. Hamed und Omar - Asylmagazin 1-2/2020, s. 35 f. - asyl.net: M27836.

2. Es ist nicht ausreichend, wenn eine mögliche Verletzung von Art. 4 GR-Charta im Rahmen der Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG erfolgt.

(Leitsätze der Redaktion; die Entscheidung erging als PKH-Beschluss)

Schlagwörter: Prozesskostenhilfe, internationaler Schutz in EU-Staat, Unzulässigkeit, Zulässigkeit, ausländische Anerkennung, Drittstaatenregelung, internationaler Schutz, unzulässig, erster Asylstaat, systemische Mängel, Lebensbedingungen, Sekundärmigration, Anerkannte, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Aufnahmebedingungen, Versorgungslage, Hamed, Omar, Hamed und Omar, Vorabentscheidungsverfahren, Abschiebungsverbot,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 77 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1, EMRK Art. 3, RL 2005/85/EG Art. 25 Abs. 2, RL 2013/32/EU Art. 52 Abs. 1, RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 Bst. a, RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 1, GR-Charta Art. 4, GR-Charta Art. 52 Abs. 3, RL 2011/95/EU Art. 2,
Auszüge:

[...]

1. Gemessen an diesen Voraussetzungen hat die Klage gerichtet auf Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 15. Februar 2019, hilfsweise Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots im für die Beurteilung grundsätzlich maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 29. Juni 2012 - 12 PA 69/12 - , Rn. 2 m.w.N„ juris; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2017 - 2 BvR 496/17 - , Rn. 14, juris) hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids des Bundesamtes ist offen, so dass eine Rechtsverletzung des Klägers aus § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht ausgeschlossen ist.

Die Ablehnung des Asylantrags des Klägers unter Nr. 1 des Bescheids als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 Asylgesetz (AsylG) erfolgte ohne Prüfung, ob dem Kläger in Griechenland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Europäischen Grundrechte-Charta (GRCh) droht. Dies ist voraussichtlich unionsrechtswidrig. Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass sich ein Mitgliedstaat nicht auf Art. 33 Abs. 2 lit. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (im Folgenden: Verfahrensrichtlinie) berufen kann, um einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, wenn der Antragsteller in dem Mitgliedstaat, der ihm internationalen Schutz gewährt, der ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund der dortigen Lebensumstände eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh zu erfahren (vgl. EuGH, Beschluss vom 13. November 2019, Hamed, C-540/17 und C-541/17, EU:C:2019:964, Rn. 35). [...]

Vorliegend wurde der Antrag des Klägers auf internationalen Schutz vom Bundesamt auf Grundlage von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, mit dem Art. 33 Abs. 2 lit. a) Verfahrensrichtlinie im deutschen Recht umgesetzt wurde, abgelehnt. Diese Ablehnung könnte gegen die zuvor ausgeführte Regelung und die dazu ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verstoßen, denn es bestehen hinreichende Anzeichen dafür, dass der Kläger in Griechenland der ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund der dortigen Lebensumstände eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh zu erfahren. [...]

Dass das Bundesamt mit dem angegriffenen Bescheid ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) geprüft hat, das den Maßstab des Art. 4 GRCh unter Heranziehung des Art. 3 EMRK berücksichtigt, reicht nach der Rechtsprechung des EuGH nicht aus, denn dies würde zum einen den der Verfahrensrichtlinie als Vermutung zugrunde liegenden Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems entkräften und zum anderen sind mit der Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nicht die mit der Anerkennung als Flüchtling gewährten Rechte verbunden (vgl. EuGH, Beschluss vom 13. November 2019, Hamed, C-540/17 und C-541/17, EU:C:2019:964, Rn. 41 f.). Zudem wäre die Feststellung unter Nr. 2 des angegriffenen Bescheids, dass keine nationalen Abschiebungsverbote bestehen, aufzuheben, wenn die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG rechtswidrig sein sollte, da diese Feststellung dann vorgreiflich wäre. [...]