VG Weimar

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Zitieren als:
VG Weimar, Beschluss vom 15.07.2020 - 4 E 906/20 We - asyl.net: M28684
https://www.asyl.net/rsdb/M28684
Leitsatz:

Keine Unterbrechung der Dublin-Überstellungsfrist bei Aussetzung des Verfahrens wegen Corona-Pandemie:

1. Durch die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung nach § 80 Abs. 4 VwGO kann die in Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO vorgesehene Überstellungsfrist unterbrochen werden, wenn die Aussetzung sachlich geboten und frei von Willkür und Rechtsmissbrauch ist. Dies setzt voraus, dass zwischen der behördlichen Aussetzung und dem eingelegten Rechtsbehelf im Sinne des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO ein innerer Zusammenhang besteht.

2. Ein solcher innerer Zusammenhang liegt nicht vor, wenn die Aussetzung lediglich der Überbrückung vorübergehender Überstellungshindernisse dient, wie es bei Aussetzungen aufgrund der Corona-Pandemie der Fall ist. Diese sind somit nicht nach § 27 Abs. 4 Dublin III-VO gerechtfertigt.

(Leitsätze der Redaktion; weitere Entscheidungen in der gesonderten Rechtsprechungsübersicht zur Aussetzungspraxis des BAMF sowie der allgemeinen Datenbank zu Dublin-Entscheidungen)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Corona-Virus, Aussetzung der Vollziehung, Abschiebungsanordnung, Überstellungsfrist, Beschleunigungsgebot, vorläufiger Rechtsschutz,
Normen: VwGO § 80 Abs. 4, VwGO § 80 Abs. 5, VwGO § 80 Abs. 7, VwGO § 123 Abs. 1, AsylG § 34a Abs. 2 S. 2, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 27 Abs. 3, VO 604/2013 Art. 27 Abs. 4, VO 604/2013 Art. 28, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2 S. 1
Auszüge:

[...]

Die Überstellungsfrist wurde auch nicht durch die Aussetzung der Vollziehung mit Schreiben der Antragsgegnerin vom 07.04.2020 gem. § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO - widerrufen mit Schreiben vom 22.06.2020 - verlängert. [...]

Zwar ist die Klage 4 K 1528/19 We noch anhängig. Nach Ansicht des Gerichts muss aber ein innerer Zusammenhang zwischen der Aussetzung gem. § 80 Abs. 4 VwGO und dem eingelegten Rechtsbehelf bestehen, damit die Voraussetzungen des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO gegeben sind. Ansonsten ist die Aussetzung nicht "frei von Willkür" und nicht sachlich geboten.

Das Gericht folgt insoweit der überzeugenden Rechtsprechung des VG Schleswig-Holstein (Urteil vom 15.05.2020 - 10 A 596/19 -,juris) und des VG Aachen (Urteil vom 10.06.2020 - 9 K 2584/19.A -, juris). Demnach ist in der vorliegenden Fallkonstellation die - mittlerweile widerrufene - behördliche Aussetzung nicht mit Unionsrecht vereinbar, mit der Folge dass die mit Bekanntgabe des Beschlusses vom 28.11.2019 neu angelaufene Überstellungsfrist Ende Mai oder spätestens Anfang Juni 2020 abgelaufen ist: [...]

Nach diesen Kriterien führt die von der Antragsgegnerin "bis auf weiteres" erfolgte Aussetzung der Überstellungsentscheidung nicht zur Unterbrechung der Überstellungsfrist. Zwar mögen Zweifel bestanden haben, ob aufgrund der coronabedingten Einreisebeschränkungen nach Finnland tatsächliche Hindernisse einer Überstellung nach Finnland bestanden, die bei der Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG auch zu beachten sind ("sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann"). Jedoch sollte die Aussetzung vorliegend nicht dazu dienen, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, indem eine Prüfung der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung ermöglicht wird. So erfolgte die streitgegenständliche Aussetzung nicht etwa bis zum Abschluss der Klage als maßgeblichem Rechtsbehelf, sondern - zeitlich unbefristet - "bis auf weiteres". Die Aussetzung der Überstellungsentscheidung sollte daher ausschließlich der vorübergehend allgemein erschwerten Möglichkeit der Überstellung von Asylbewerben nach Finnland Rechnung tragen. Insofern unterscheidet sich der hier vorliegende Fall auch von der Entscheidung des BVerwG (Urteil vom 15.01.2019 - 1 C 15.18 -, juris). Zwar hat das BVerwG hier ausdrücklich die Aussetzung der Vollziehung gem. § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO als adäquates Mittel erachtet,~um eine "Endlosschleife" sich aneinanderreihender Unzulässigkeitsentscheidungen zu vermeiden, aber eben nicht eine Aussetzung "bis auf weiteres", sondern bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens (BVerwG, a.a.O., Rn. 49), um eine Klärung im Hauptsacheverfahren zu ermöglichen.

Ein Aussetzen der Durchführung der Überstellungsentscheidung lediglich zur Überbrückung vorübergehender Überstellungshindernisse ist aber weder vom Wortlaut noch vom Sinn und Zweck des von der Beklagten herangezogenen Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO gedeckt. Die Mitgliedstaaten können nach dieser Vorschrift vorsehen, dass die zuständigen Behörden beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO knüpft damit an das Einlegen eines Rechtsmittels an und dient nach seinem Sinn und Zweck dazu, effektiven Rechtsschutz hinsichtlich dieses Rechtsmittels zu gewährleisten. Eine von dem Abschluss eines konkreten Rechtsmittels losgelöste Aussetzung für den Fall einer allgemein fehlenden Möglichkeit der Überstellung ist hingegen nicht vorgesehen. Ebenso wenig liegt ein Fall des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO vor. [...]