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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 24.06.2020 - XIII ZB 39/19 - asyl.net: M28808
https://www.asyl.net/rsdb/M28808
Leitsatz:

Wirksame Verfahrensabgabe begründet umfassende Zuständigkeit des aufnehmenden Gerichts:

"In einem Antrag auf Anordnung von Sicherungshaft ist eine nähere Erläuterung des für die Buchung eines Fluges mit Sicherheitsbegleitung erforderlichen Zeitaufwandes in aller Regel auch dann nicht geboten, wenn die beteiligte Behörde lediglich mitteilt, dass die Abschiebung in Absprache mit der für die Organisation sicherheitsbegleiteter Rückführungen zuständigen Stelle innerhalb eines bis zu sechs Wochen betragenden Zeitraums durchgeführt werden könne (im Anschluss an BGH, Beschlüsse vom 20. September 2018 ­ V ZB 4/17, InfAuslR 2019, 23, und vom 12. Februar 2020 ­ XIII ZB 26/19).

Eine wirksame Verfahrensabgabe nach § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG begründet eine umfassende Zuständigkeit des aufnehmenden Gerichts für alle weiteren erforderlichen Entscheidungen in diesem Verfahren. Das dem aufnehmenden Gericht übergeordnete Beschwerdegericht ist auch für die Entscheidung über eine vor der Abgabe erhobene Beschwerde gegen die Haftanordnung des abgebenden Gerichts zuständig (im Anschluss an BGH, Beschluss vom 2. März 2017 ­ V ZB 122/15, InfAuslR 2017, 293)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Überstellungshaft, Haftdauer, begleitete Abschiebung, Zuständigkeit, örtliche Zuständigkeit, Verfahrensabgabe, Haftantrag, Begründungserfordernis,
Normen: AufenthG § 106 Abs. 2 S. 2, FamFG § 417 Abs. 2 S. 2 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

6 a) Der Haftantrag der beteiligten Behörde war zulässig.

7 aa) Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. [...]

9 (1) In einem Antrag auf Anordnung von Sicherungshaft ist eine nähere Erläuterung des für die Buchung eines Fluges mit Sicherheitsbegleitung erforderlichen Zeitaufwands nach ständiger Rechtsprechung in aller Regel dann nicht geboten, wenn sich die Behörde auf eine Auskunft der zuständigen Stelle beruft, wonach dieser Zeitraum bis zu sechs Wochen beträgt. Nur wenn die Behörde einen längeren Zeitraum für die Organisation der Rückführung des Betroffenen für erforderlich hält, bedarf es einer auf den konkreten Fall bezogenen Begründung, die dies unter Ausführungen etwa zu der Art des Fluges, Buchungslage der in Betracht kommenden Luftverkehrsunternehmen, Anzahl der Begleitpersonen, Personalsituation und gegebenenfalls weiterer maßgeblicher Umstände nachvollziehbar erklärt (BGH, Beschlüsse vom 20. September 2018 - V ZB 4/17, InfAuslR 2019, 23 Rn. 11, und vom 12. Februar 2020 - XIII ZB 26/19, juris Rn. 9).

10 (2) Es kann dahinstehen, ob die Angaben im Antragsschreiben vom 21. August 2017, in dem die beteiligte Behörde lediglich mitgeteilt hat, dass nach Absprache mit dem Referat Zentrales Rückkehrmanagement des Landesverwaltungsamtes Sachsen-Anhalt bereits eine erneute Flugbuchung für den Betroffenen vorgenommen worden sei, ausreichten, den beantragten Haftzeitraum von sechs Wochen als für die Überstellung des Betroffenen innerhalb dieses Zeitraums erforderlich hinreichend zu erklären. Denn die Angaben im Haftantrag sind im Anhörungstermin in ausreichender Weise ergänzt worden, indem der Vertreter der beteiligten Behörde mitgeteilt hat, die geplante Rückführung könne bis zum 2. Oktober 2017 realisiert werden. Die beteiligte Behörde hat dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die Überstellung des Betroffenen nach Schweden, für die sie eine Sicherheitsbegleitung für erforderlich hielt, innerhalb des beantragten Haftzeitraums von sechs Wochen gelingen könne, diesen Zeitraum aber auch erfordere. [...]

13 aa) Nach § 65 Abs. 4 FamFG kann die Beschwerde grundsätzlich nicht darauf gestützt werden, dass das Gericht des ersten Rechtszugs seine Zuständigkeit zu Unrecht angenommen hat. Dasselbe gilt gemäß § 72 Abs. 2 FamFG für die Rechtsbeschwerde. Anderes gilt nur dann, wenn das Haftgericht seine Zuständigkeit willkürlich bejaht hat (BGH, Beschluss vom 24. Juni 2020 - XIII ZB 44/19, zur Veröffentlichung bestimmt). [...]

15 (1) Gemäß § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG kann das Amtsgericht das Verfahren durch unanfechtbaren Beschluss an das Gericht abgeben, in dessen Bezirk die Zurückweisungshaft oder Abschiebungshaft jeweils vollzogen wird, wenn über die Fortdauer der Zurückweisungshaft oder der Abschiebungshaft zu entscheiden ist. Diese Voraussetzungen liegen vor.

16 (a) Das Amtsgericht Oschersleben hat im Beschluss vom 21. August 2017 die weiteren erforderlichen Entscheidungen über die Fortdauer der Haft dem Amtsgericht Hannover übertragen. Trotz der vom Gesetzeswortlaut abweichenden Formulierung war, wie der weitere Verfahrensverlauf bestätigt, die Entscheidung des Amtsgerichts Oschersleben erkennbar auf die Abgabe des gesamten Verfahrens gerichtet. Nach Eingang der Beschwerde des Betroffenen hat das Amtsgericht Oschersleben dementsprechend mit Verfügung vom 30. August 2017 die Gerichtsakten unter Bezugnahme auf den Beschluss vom 21. August 2017, die Mitteilung über die Aufnahme des Betroffenen in der Justizvollzugsanstalt Hannover und die Beschwerdeschrift an das Amtsgericht Hannover übersandt.

17 (b) Der Wirksamkeit der Verfahrensabgabe steht nicht entgegen, dass im Zeitpunkt der Abgabeentscheidung noch kein Antrag der beteiligten Behörde vorgelegen hat, über die Fortdauer der angeordneten Haft zu entscheiden. Die Abgabe des Verfahrens hängt nach § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG allein von Zweckmäßigkeitserwägungen ab (vgl. BVerfG, InfAuslR 2009, 249, 250). Diesen hat die Verfahrensabgabe an das Amtsgericht Hannover entsprochen, da im Zeitpunkt der Abgabe bereits feststand, dass die angeordnete Sicherungshaft in der Justizvollzugsanstalt Hannover vollzogen werden sollte, und nicht auszuschließen war, dass eine Entscheidung über die Fortdauer der Haft erforderlich werden könnte, die eine erneute persönliche Anhörung des Betroffenen erfordern würde. Dadurch hat zugleich auch ein wichtiger Grund für eine Verfahrensabgabe i.S.v. § 4 FamFG vorgelegen (vgl. Keidel/Sternal, FamFG, 20. Aufl., § 4 Rn. 28b). [...]

19 (2) Die wirksame Verfahrensabgabe gemäß § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG hat eine umfassende Zuständigkeit des Amtsgerichts Hannover für alle weiteren erforderlichen Entscheidungen in diesem Verfahren begründet. Das übergeordnete Landgericht Hannover ist daher für die Entscheidung über die vor der Abgabe erhobene Beschwerde gegen die Haftanordnung des Amtsgerichts Oschersleben zuständig gewesen.

20 (a) Der Bundesgerichtshof hat die Frage, welche Wirkung eine Verfahrensabgabe nach § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG hat, bislang noch nicht entschieden. Aus dem vom Beschwerdegericht in Bezug genommenen Beschluss vom 2. März 2017 (V ZB 122/15, InfAuslR 2017, 293 Rn. 9) folgt zwar, dass für eine Entscheidung über die Verlängerung der Abschiebungs- (oder Überstellungs-) Haft das Gericht am Haftort nach § 416 Satz 2, § 425 Abs. 3 FamFG originär zuständig ist, ohne dass es einer Abgabe nach § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG bedarf. Eine solche ist nur erforderlich, sofern - wie hier - auch die Entscheidungen über die Aussetzung oder Aufhebung der Haft gemäß §§ 424, 426 FamFG übertragen werden sollen. Über den Umfang einer Verfahrensabgabe nach § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG verhält sich die Entscheidung jedoch nicht.

21 (b) In der Literatur ist diese Frage umstritten.

22 (aa) Nach einer Auffassung umfasst eine solche Verfahrensabgabe nur Entscheidungen, die zeitlich nach einer erstinstanzlich abschließend angeordneten Freiheitsentziehungsmaßnahme zu treffen sind (Bergmann/Dienelt/Winkelmann, Ausländerrecht, 12. Aufl., § 106 AufenthG Rn. 5 unter Verweis auf AG Eisenhüttenstadt, Beschluss vom 18. Juni 2014 - 23 XIV 43/14 [nicht veröffentlicht]; HK-AuslR/Stahmann, 2. Aufl., § 106 AufenthG Rn. 18).

23 (bb) Nach der in der Instanzrechtsprechung und der Literatur vorherrschenden Ansicht begründet eine wirksame Verfahrensabgabe gemäß § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG hingegen eine umfassende Zuständigkeit des aufnehmenden Gerichts für alle künftig erforderlich werdenden Entscheidungen, sodass auch anhängige Beschwerdeverfahren gegen eine frühere Entscheidung des abgebenden Gerichts mit der Abgabe an das dem aufnehmenden Gericht übergeordnete Beschwerdegericht übergehen (OLG München, InfAuslR 2009, 397, 398; OLG Oldenburg, InfAuslR 2019, 24, 25 f.; BeckOK AuslR/Brinktrine [1.8.2019], § 106 AufenthG Rn. 12; Funke-Kaiser in GK-AufenthG [Mai 2010], § 106 Rn. 6).

24 (c) Der Senat tritt der letztgenannten Auffassung bei.

25 (aa) Dem Wortlaut der Vorschrift lässt sich eine Beschränkung des Umfangs der Verfahrensabgabe nicht entnehmen. § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG normiert im ersten Halbsatz die Voraussetzungen einer Abgabe (erforderliche Entscheidungen über die Fortdauer der Zurückweisungs- oder Abschiebungshaft). Liegen diese vor, ermöglicht der zweite Halbsatz als Rechtsfolge eine in das Ermessen des Erstgerichts gestellte Abgabe des Verfahrens. Der Wortlaut des zweiten Halbsatzes enthält weder Vorgaben zu dem Zeitpunkt einer Verfahrensabgabe, sodass eine solche grundsätzlich auch bereits nach dem Erlass einer einstweiligen Anordnung vor einer beantragten Entscheidung in der Hauptsache in Betracht kommt (vgl. HK-AuslR/Stahmann, 2. Aufl., § 106 AufenthG Rn. 20; a.A. OLG Hamm, FGPrax 2012, 278), noch schränkt er den Umfang der Verfahrensabgabe ein (vgl. OLG Oldenburg, InfAuslR 2019, 24, 26). [...]