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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 24.06.2020 - XIII ZB 44/19 - asyl.net: M28809
https://www.asyl.net/rsdb/M28809
Leitsatz:

Fehlende Zuständigkeit des Haftgerichts nur bei Willkür beachtlich:

"Auch in Freiheitsentziehungssachen kann ein Rechtsmittel nicht darauf gestützt werden, dass das Haftgericht für die Haftanordnung nicht zuständig gewesen sei. Die Rüge der fehlenden Zuständigkeit ist im Rechtsmittelverfahren jedoch dann zu berücksichtigen, wenn das Haftgericht seine Zuständigkeit willkürlich bejaht hat."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Zuständigkeit, örtliche Zuständigkeit, Haftgericht, Haftantrag, Willkür,
Normen: GG Art. 104 Abs. 2, GG Art. 101 Abs. 1, FamFG § 415, FamFG § 65 Abs. 4, FamFG § 72 Abs. 2, FamFG § 417 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

4 II. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat teilweise Erfolg. [...]

7 a) Der Beschluss des Amtsgerichts vom 7. August 2018 hat den Betroffenen über den vom Beschwerdegericht festgestellten Zeitraum hinaus auch bis zum 14. September 2018 in seinen Rechten verletzt. Zutreffend ist das Beschwerdegericht zwar davon ausgegangen, dass der Haftantrag der beteiligten Behörde den Begründungserfordernissen des § 417 Abs. 2 Satz 2 FamFG nicht entsprochen hat. Weiter hat das Beschwerdegericht zu Recht angenommen, dass der Mangel des Haftantrags durch die ergänzenden Angaben der beteiligten Behörde im Beschwerdeverfahren geheilt worden ist. Diese Heilung ist jedoch nicht bereits mit der Anhörung des Betroffenen durch das Beschwerdegericht eingetreten, sondern erst mit dessen Entscheidung über die Fortdauer der Haft (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Januar 2018 - V ZB 71/17, FGPrax 2018, 136 Rn. 6; Beschluss vom 25. Oktober 2018 - V ZB 59/18, juris Rn. 7), also mit dem Beschluss des Beschwerdegerichts vom 14. September 2018.

8 b) Im Übrigen ist die Rechtsbeschwerde unbegründet.

9 aa) Keinen Erfolg hat die Rüge, das Amtsgericht Frankfurt am Main sei örtlich unzuständig gewesen.

10 (1) Nach § 65 Abs. 4 FamFG kann die Beschwerde nicht darauf gestützt werden, dass das Gericht des ersten Rechtszugs seine Zuständigkeit zu Unrecht angenommen hat. Dasselbe gilt gemäß § 72 Abs. 2 FamFG für die Rechtsbeschwerde. [...]

13 (b) Dies steht entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde in Einklang mit höherrangigem Recht, insbesondere mit den Verfahrensgrundrechten der Art. 104 Abs. 2 und Art. 101 Abs. 1 GG. Zwar verlangt der in Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG garantierte Richtervorbehalt, dass eine Entscheidung über eine Freiheitsentziehung von dem gesetzlichen Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 GG getroffen wird. Entscheidet nicht der gesetzliche Richter über eine Freiheitsentziehung, ist zugleich auch ein Verstoß gegen Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG gegeben (BVerfGE 14, 156, 162; BeckOK GG/Radtke [1.12.2019], Art. 104 Rn. 10; Hömig/Wolff, GG, 12. Aufl., Art. 104 Rn. 8; Maunz/Dürig/Mehde, GG, 86. EL, Art. 104 Rn. 78). Eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 GG folgt jedoch nicht daraus, dass das Gericht des ersten Rechtszugs über die Frage seiner Zuständigkeit endgültig entscheidet. Es wird dadurch weder zu einem Ausnahmegericht, da es ersichtlich nicht für einen bestimmten Einzelfall oder eine bestimmt bezeichnete Mehrzahl von Einzelfällen geschaffen worden ist, noch entzieht es den Rechtssuchenden auf diese Weise seinem gesetzlichen Richter. Vielmehr verhindern die § 65 Abs. 4 und § 72 Abs. 2 FamFG ebenso wie § 3 Abs. 3 FamFG, nach dem ein Verweisungsbeschluss nicht anfechtbar ist, lediglich eine Nachprüfung der Entscheidung über diese prozessuale Frage in den Rechtsmittelinstanzen. Dadurch wird in erster Linie ausgeschlossen, dass ein Streit über die Zuständigkeit des Gerichts in mehreren Instanzen ausgetragen werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 21. März 1957 - II ZR 172/55, NJW 1957, 832; OLG München, WM 2015, 2284).

14 (c) Eine einschränkende Auslegung der § 65 Abs. 4, § 72 Abs. 2 FamFG ist verfassungsrechtlich allerdings dann geboten und die Rüge der fehlenden Zuständigkeit daher im Rechtsmittelverfahren zu berücksichtigen, wenn das Haftgericht seine Zuständigkeit willkürlich bejaht hat (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Dezember 2010 - XII ZB 227/10, FGPrax 2011, 101 Rn. 19 unter Bezug auf BVerfGE 42, 237, 241 mwN; BGH, Beschluss vom 2. März 2017 - V ZB 122/15, InfAuslR 2017, 293 Rn. 6; Musielak/Borth, FamFG, 6. Aufl., § 65 Rn. 8; aA Keidel/Sternal, FamFG, 20. Aufl., § 65 Rn. 17). Findet die Annahme der Zuständigkeit im Verfahrensrecht keine Stütze mehr, wird der Betroffene seinem gesetzlichen Richter entzogen.

15 (2) Nach diesen Maßstäben kann im Streitfall die - vermeintlich - fehlende örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Frankfurt am Main im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht geltend gemacht werden. Eine willkürliche Annahme der Zuständigkeit durch das Haftgericht scheidet bereits deshalb aus, weil das Amtsgericht Frankfurt am Main für die Anordnung der Sicherungshaft im Beschluss vom 7. August 2018 örtlich zuständig war.

16 (a) Nach § 416 Satz 1 FamFG ist für Freiheitsentziehungssachen das Gericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk die Person, der die Freiheit entzogen werden soll, ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, sonst das Gericht, in dessen Bezirk das Bedürfnis für die Freiheitsentziehung entsteht. Befindet sich die Person bereits in Verwahrung einer abgeschlossenen Einrichtung, ist gemäß § 416 Satz 2 FamFG das Gericht zuständig, in dessen Bezirk die Einrichtung liegt. Für Entscheidungen über die Verlängerung der Freiheitsentziehung gelten diese Vorschriften nach § 425 Abs. 3 FamFG entsprechend. Maßgeblich sind dabei nach § 2 Abs. 1 FamFG die Verhältnisse zu dem Zeitpunkt, zu dem das Gericht mit der Sache befasst wird, also der Antrag der Behörde bei Gericht eingeht.

17 Die einmal begründete Zuständigkeit des Gerichts wird - auch in Freiheitsentziehungssachen im Sinne der §§ 415 ff. FamFG - durch eine spätere Veränderung dieser Verhältnisse nicht berührt (§ 2 Abs. 2 FamFG). Insbesondere verliert ein bei Eingang des Antrags der zuständigen Behörde örtlich zuständiges Gericht nicht dadurch seine Zuständigkeit für die Anordnung der Abschiebungshaft, dass sich die Aufenthaltsverhältnisse des Betroffenen vor der gerichtlichen Entscheidung ändern (vgl. Bumiller/Harders/Schwamb, FamFG, 12. Aufl., § 416 Rn. 2; Haußleiter/Heidebach, FamFG, 2. Aufl., § 416 Rn. 5; Keidel/Göbel, FamFG, 20. Aufl., § 416 Rn. 1; MüKoFamFG/Wendtland, 3. Aufl., § 416 Rn. 8). [...]