VG Frankfurt/Oder

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Zitieren als:
VG Frankfurt/Oder, Beschluss vom 30.06.2020 - 4 L 240/20 - asyl.net: M28826
https://www.asyl.net/rsdb/M28826
Leitsatz:

Unterbringung während Corona:

Es besteht ein Anspruch auf Unterbringung in einem Einzelzimmer in der Gemeinschaftsunterkunft, wenn in einem Mehrbettzimmer der Mindestabstand über einen längeren Zeitraum nicht eingehalten werden kann. Ein darüber hinausgehender Anspruch auf Aufhebung der Wohnsitzauflage wegen Infektionsgefahr in der Gemeinschaftsunterkunft besteht hingegen trotz gemeinschaftlich genutzter Küche und Sanitärräumen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Corona-Virus, Gemeinschaftsunterkunft, Aufnahmeeinrichtung, Wohnsitzauflage, Unterbringung, Gesundheitsvorsorge, Infektionsschutz, Unterbringungseinrichtung,
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, VwGO § 123, AsylG § 60 Abs. 2, AsylG § 53 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Unter Beachtung dieses Maßstabs geht die gegenwärtige Wohnsituation des Antragstellers, aufgrund eines erheblichen gesundheitlichen Risikos durch eine mögliche Infizierung mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2, über das hinaus, was Bewohner einer Gemeinschaftsunterkunft grundsätzlich hinzunehmen haben.

(a) Hierfür spricht, dass die Wohnverhältnisse des Antragstellers nicht in Einklang mit der der aktuellen brandenburgischen SARS-CoV-2-Umgangsverordnung (SARS-CoV-2-UmgV) vom 12. Juni 2020 stehen.

(1) Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 SARS-CoV-2-UmgV ist zwischen Personen im öffentlichen und privaten Bereich grundsätzlich.ein Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten. Diese Grundsätze gelten für alle Lebensbereiche, wobei gemäß § 1 Abs. 2 Satz 2 SARS-CoV-2-UmgV unter anderem Angehörige des eigenen Haushalts von der Verpflichtung zur Einhaltung des Mindestabstands ausgenommen sind. Es ist davon auszugehen, dass die Grundsätze des § 1 Abs. 2 SARS-CoV-2-UmgV auch in einer Gemeinschaftsunterkunft Anwendung finden (vgl. VG Leipzig, Beschluss vom 22. April 2020 - 3 L 204/20.A Rn. 22, juris; VG Chemnitz, Beschluss vom 30. April 2020 - 4 L 224120.A -, nicht veröffentlicht).

§ 1 Abs. 2 SARS-CoV-2-UmgV kann nicht dahingehend interpretiert werden, dass jegliche gemeinsame Zimmernutzung oder gar jeglicher Aufenthalt mit anderen Personen in gemeinschaftlichen Räumlichkeiten unterlassen werden müsste. Andernfalls wären alle Gemeinschaftseinrichtungen wie etwa auch Alten- und Pflegeheime zu schließen. Dass die SARS-CoV-2-UmgV diese Zielrichtung verfolgen würde, ist aber der Verordnung nicht zu entnehmen. Diese lässt vielmehr erkennen, dass an den tatsächlich bestehenden Wohnverhältnissen und existierenden Wohnformen nichts geändert werden sollte, was etwa daraus geschlossen werden kann, dass Pflegeheime unter Beachtung der notwendigen Vorsichtsmaßnahmen gemäß § 10 SARS-CoV-2-UmgV wie bisher weiter betrieben werden.

Zudem untersagt die aktuelle SARS-CoV-2-UmgV, anders als noch zu Beginn die SARS-CoV-2-EindV vom 8. Mai 2020, nicht mehr den Betrieb von Beherbergungsstätten, Campingplätzen oder Ferienwohnungen, also von Einrichtungen, in denen sich eine größere Anzahl von Menschen gemeinsam über einen längeren Zeitraum aufhält. Der Verordnungsgeber geht mithin davon aus, dass ein ausreichender Schutz vor der Ansteckung mit SARS-CoV-2 jedenfalls grundsätzlich auch innerhalb von Einrichtungen, in denen sich eine größere Anzahl von Personen aufhält, möglich ist, wenn bestimmte Vorsichtsmaßnahmen beachtet werden.

(2) Das Gericht hat während des Ortstermins am 27. Mai 2020 im Verfahren VG 4 L 238/20 die Wohnverhältnisse des Antragstellers in der Gemeinschaftsunterkunft in Augenschein genommen. Auf das Protokoll der Inaugenscheinnahme wird Bezug genommen. Die Beteiligten hatten Gelegenheit, zum Protokoll Stellung zu nehmen.

Das Zimmer des Antragstellers wird außer von ihm auch von zwei weiteren Personen bewohnt. Bei dem Zimmer handelt es sich um ein 24,38 Quadratmeter großes Durchgangszimmer. Die zwei Bewohner des dahinter liegenden Zimmers können nur durch das Zimmer des Antragstellers ihr Zimmer betreten.

Dem Antragsteller steht eine Küche zur Verfügung, die von etwa 20 bis 25 Personen mitbenutzt sind. Die Küche verfügt über drei Herde, ein Spülbecken und eine Anrichte. Die Küche verfügt über ein Fenster. Es sind Piktogramme zum Tragen von Mundschutz ausgehängt.

Die Duschräume verfügen über mehrere Duschen, wobei die Duschräume insgesamt abschließbar sind, so dass eine alleinige Nutzung möglich ist. Über den Waschbecken befindet sich ein Hinweis auf 20 bis 30 Sekunden gründliches Händewaschen.

Zwar entspricht die Ausgestaltung der Nutzung der Gemeinschaftsküchen und sanitären Anlagen in der Gemeinschaftsunterkunft den Vorgaben der SARS-CoV-2UmgV. Wie dargelegt, sind die die Duschräume abschließbar, so dass es dort nicht zu einem Kontakt mit anderen Personen kommt. Was die Gemeinschaftsküchen betrifft, so muss beachtet werden, dass zum einen § 1 SARS-CoV-2-UmgV grundsätzlich von einem Mindestabstand von 1,5 Metern zu anderen Personen ausgeht, der Mindestabstand somit nicht zwingend und stets eingehalten muss. Ferner ist aufgrund der zur Gerichtsakte gereichten Fotografie (Bl. 6 d. GA) davon auszugehen, dass die Kochfelder in einem Abstand von etwa 1,5 Metern zu einander stehen, der laut Verordnung notwendige Mindestabstand somit auch beim Kochen eingehalten werden kann.

Auch steht, entgegen den Ausführungen des Antragstellers, die gemeinschaftliche Unterbringung von Asylbewerbern nicht grundsätzlich im Widerspruch zu den übrigen Regelungen der SARS-CoV-2-UmgV. Soweit er darauf verweist, dass während gemäß § 11 Abs. 2 Nr. 3 SARS-CoV-2-UmgV Lerngruppen in Schulen aus nicht mehr als 15 Schülerinnen und Schülern bestehen sollen. in der Gemeinschaftsunterkunft des Antragstellers hingegen mehr als die sechsfache Personenanzahl untergebracht ist, verfängt diese Argumentation nicht. Die Gesamtanzahl der Bewohner der Gemeinschaftsunterkunft kann nicht mit der Größe einer schulischen Lerngruppe verglichen werden. Es ist nicht davon auszugehen, dass sich in der Gemeinschaftsunterkunft mehr als 15 Personen über einen längeren Zeitraum in einem Raum aufhalten. Darüber hinaus befinden sich in einer Schule auch insgesamt zum gleichen Zeitraum weit mehr als die 15 Personen einer Lerngruppe, so dass die Gesamtzahl der Personen in einer Schule durchaus der Anzahl der Personen in der Gemeinschaftsunterkunft gleichen kann.

Die Unterbringung des Antragstellers in einem gemeinsamen Zimmer mit zwei weiteren Personen widerspricht jedoch den Vorgaben der SARS-CoV-2-UmgV. da der gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 SARS-CoV-2-UrngV grundsätzlich einzuhaltende Mindestabstand von 1.5 Metern in diesen Verhältnissen nicht gewahrt werden kann. Anders als im Falle der Küchenbenutzung, wo der Mindestabstand nur über kurze Zeiträume möglicherweise nicht eingehalten wird, halten sich die Bewohner eines Zimmers in diesem Raum über mehrere Stunden gemeinsam auf. Bei einer Gesamtgröße des mit Betten, Schränken und einem Tisch möblierten Zimmers von 24.38 Quadratmetern; das auch noch von zwei weiteren Personen als Durchgang benutzt werden muss, werden die geforderten Mindestabstände bei drei Bewohnern zwangsläufig über einen längeren Zeitraum nicht eingehalten.

Entgegen der Auffassung des Antragsgegners können der Antragsteller und die weiteren Bewohner des Zimmers auch nicht als gemeinsamer Haushalt angesehen werden, für den gemäß § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 SARS-CoV-2-UmgV die Abstandsregelung nicht gilt (anders gleichfalls VG Leipzig, Beschluss vom 18. Mai 2020 - 5 L 211/20.A -, nicht veröffentlicht und VG Chemnitz, Beschluss vom 30. April 2020 - 4 L 224/20.A -, nicht veröffentlicht). [...]

(c) Da bis auf die Unterbringung von alleinstehenden Personen in Gemeinschaftszimmern die Wohnverhältnisse in der Gemeinschaftsunterkunft vor dem Hintergrund des Risikos einer Infektion mit SARS-CoV-2 als ausreichend angesehen werden können, besteht für den Antragsteller lediglich ein Anspruch auf Einzelunterbringung, nicht aber auf Unterbringung außerhalb der Gemeinschaftsunterkunft. [...]