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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 08.09.2020 - - asyl.net: M28864
https://www.asyl.net/rsdb/M28864
Leitsatz:

Abschiebungsverbot wegen psychischer Erkrankung hinsichtlich Nigeria im Wiederaufgreifensverfahren:

1. Für eine Person, die seit über zehn Jahren im Maßregelvollzug ist und an paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie leidet, ist wegen der schlechten medizinischen Versorgung in Nigeria, insbesondere bei psychischen Erkrankungen, ein Abschiebungsverbot festzustellen.

2. Eine fachmedizinische Versorgung bei psychischen Erkrankungen ist in Nigeria nur in den Großstädten möglich und muss zudem privat finanziert werden.

3. Bei den psychiatrischen Einrichtungen handelt es sich allenfalls um Verwahreinrichtungen auf sehr niedrigem Niveau, in denen Menschen oft gegen ihren Willen untergebracht, aber nicht adäquat behandelt werden können.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Nigeria, psychische Erkrankung, Schizophrenie, Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, medizinische Versorgung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7, VwGO § 51,
Auszüge:

[...]

Gemessen an diesen Grundsätzen muss davon ausgegangen werden, dass dem Antragsteller im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG drohen.

Der Antragsteller ist an paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie erkrankt und befindet sich seit mehr als zehn Jahren durchgehend in stationärer psychiatrischer Behandlung. Nach Auskunft der behandelnden Ärzte ist zum jetzigen Zeitpunkt eine Aussetzung der derzeitigen Unterbringung im Maßregelvollzug nicht absehbar.

Laut Angaben des Auswärtigen Amtes hat sich in den letzten Jahren die medizinische Versorgung in den Haupt- und größeren Städten in Nigeria sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor deutlich verbessert. Dennoch wird die Gesundheitsversorgung, vor allem auf dem Lande, als mangelhaft beurteilt. Rückkehrer finden jedoch in den Großstädten eine medizinische Grundversorgung vor, wenn auch in der Regel unter europäischem Standard. Es gibt sowohl staatliche als auch zahlreiche privat betriebene Krankenhäuser (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Nigeria vom 10.12.2018, Stand: Oktober 2018, Az.: 508-9-516.8013 NGA). Zu den staatlichen Krankenhäusern zählen allgemeine Krankenhäuser, Universitätskliniken und Fachkliniken. In einigen dieser Krankenhäuser fehlt es an Ausrüstung. Oftmals kommt es zu Verzögerungen wie auch vielfach Untersuchungen aufgrund der hohen Patientenzahl nicht sofort durchgeführt werden. Die Gebühren sind moderat (vgl. International Organization for Migration - IOM u.a., Länderinformationsblatt Nigeria, Stand: August 2014, S. 6, abrufbar in der Datenbank MILo des Bundesamtes, Abruf am 13.11.2014). In privaten Kliniken können die meisten Krankheiten behandelt werden. Mittlerweile ist insbesondere für Privatzahler eine gute medizinische Versorgung für viele Krankheiten und Notfälle erhältlich (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Nigeria vom 10.12.2018, Stand: Oktober 2018, Az.: 508-9-516.8013 NGA).

Sowohl in öffentlichen wie auch in privaten Krankenhäusern müssen die Behandlungskosten vom Patienten selbst bezahlt werden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Nigeria vom 10.12.2018, Stand: Oktober 2018, Az.: 508-9-516.8013 NGA). In den meisten Fällen werden Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte nur gegen Vorkasse tätig (vgl. Deutsche Botschaft, Außenstelle Lagos, Auskunft vom 14.11.2006 an das Bundesamt, Az.: RK 516.80 E / Tumornachsorge), Die staatliche Gesundheitsversorgung gewährleistet keine kostenfreie Medikamentenversorgung. Jeder Patient - auch im Krankenhaus - muss Medikamente selbst besorgen bzw. dafür selbst aufkommen. Zwar gibt es eine allgemeine Krankenversicherung, jedoch gilt diese nur für Beschäftigte im formellen Sektor. Da die meisten Nigerianerinnen und Nigerianer dagegen als Bauern, Landarbeiter oder Tagelöhner im informellen Sektor arbeiten, kommen die Leistungen der Krankenversicherung schätzungsweise nur zehn Prozent der Bevölkerung zugute (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Nigeria vom 10.12.2018, Stand: Oktober 2018, Az.: 508-9-516.8013 NGA). Das Geld für medizinische Behandlungen aufzubringen, liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen; in vielen Fällen kommt die Familie gemeinsam für die Arztrechnungen auf (vgl. Deutsche Botschaft, Außenstelle Lagos, Auskunft vom 28.09.2010 an das VG Oldenburg, Az.: RK 516.80).

Es existiert in Nigeria kein mit deutschen Standards vergleichbares Psychiatriewesen, sondern es gibt allenfalls Verwahreinrichtungen auf sehr niedrigem Niveau, in denen Menschen mit psychischen Erkrankungen oft gegen ihren Willen untergebracht werden, aber nicht adäquat behandelt werden können. Nach Auskunft des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl Österreich veranlassen Stigmatisierung und Missverständnisse über psychische Gesundheit, einschließlich der falschen Wahrnehmung, dass psychische Erkrankungen von bösen Geistern oder übernatürlichen Kräften verursacht werden, die Menschen dazu, religiöse oder traditionelle Heiler zu konsultieren. Auch der Mangel an qualitativ hochwertiger psychiatrischer Versorgung und die unerschwinglichen Kosten spielen hier eine Rolle. Insgesamt gibt es für die inzwischen annähernd 200 Millionen Einwohner 100 Hospitäler mit psychiatrischer Abteilung. Nigeria verfügt derzeit über weniger als 150 Psychiater, nach anderen Angaben sind es derzeit 130 für 200 Millionen Einwohner. Bei Psychologen ist die Lage noch drastischer, hier kamen im Jahr 2014 auf 100.000 Einwohner 0,02 Psychologen. Aufgrund dieser personellen Situation ist eine regelrechte psychologische/psychiatrische Versorgung für die große Mehrheit nicht möglich, neben einer basalen Medikation werden die stationären Fälle in öffentlichen Einrichtungen im Wesentlichen "aufbewahrt". Die Auswahl an Psychopharmaka ist aufgrund der mangelnden Nachfrage sehr begrenzt. Die WHO schätzt, dass weniger als 10 Prozent der Nigerianer jene psychiatrische Behandlung bekommen, die sie brauchen.

Das in Lagos befindliche Federal Neuro Psychiatric Hospital Yaba bietet sich als erste Anlaufstelle für die Behandlung psychisch kranker Rückkehrer an. Die Kosten für einen Empfang durch ein medizinisches Team direkt am Flughafen belaufen sich auf ca. 195.000 Naira (ca. 570 Euro). Die Behandlungskosten sind jedoch je nach Schwere der Krankheit unterschiedlich. Zudem ist an diesem Krankenhaus auch die stationäre Behandlung psychischer Erkrankungen mit entsprechender Medikation möglich (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Nigeria, BFA Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, 20.05.2019 sowie Auswärtiges Amt, Lagebericht Nigeria vom 10.12.2018, Stand: Oktober 2017, Az.: 508-9-516.8013 NGA).

Auch wenn psychische Erkrankungen in Nigeria grundsätzlich behandelbar sind, kann im vorliegenden Fall nicht davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller die für ihn erforderliche medizinische Behandlung bei einer Rückkehr in sein Heimatland finanzieren und erreichen kann.

Nach Aktenlage verfügt der Antragsteller in Nigeria über Eltern sowie zwei Geschwister, die auch bereit wären, den Antragsteller aufzunehmen. Die Familie wohnt jedoch weder in Lagos noch in einer anderen Großstadt Nigerias, in der eine psychiatrische Versorgung eventuell möglich wäre. Zudem benötigt der Antragsteller nicht nur eine psychopharmakologische Behandlung, sondern intensive Betreuung in Form einer stationären Unterbringung auf unbestimmte Zeit. Die Kosten für eine solche stationäre Behandlung müssen von der Familie getragen werden. Vor dem Hintergrund der beim Antragsteller fehlenden Krankheitseinsicht muss davon ausgegangen werden, dass er die erforderliche medizinische Behandlung sowohl aus Kostengründen als auch aufgrund falscher Beurteilung der Notwendigkeit nicht erhalten wird. Ohne die derzeitige Behandlung ist nach ärztlicher Auskunft damit zu rechnen, dass sich der Gesundheitszustand des Antragstellers bedrohlich verschlechtert und sich die Gefahr für wahnhaft bedingte aggressive Handlungen erhöht.

Solange der Antragsteller die derzeitige komplexe und stationäre Behandlung benötigt, ist daher aufgrund der individuellen Umstände des Antragstellers sowie der Schwere der Erkrankung ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG festzustellen. [...]