VG Osnabrück

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Zitieren als:
VG Osnabrück, Urteil vom 27.08.2020 - 2 A 115/18 - asyl.net: M28892
https://www.asyl.net/rsdb/M28892
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für iranische Frau aufgrund drohender Zwangsehe:

Eine drohende Zwangsehe stellt eine Verfolgungshandlung dar, die zudem an einen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3b AsylG anknüpft. So sind die Betroffenen im Wesentlichen wegen ihrer Eigenschaft als unverheiratete Frauen und damit als Mitglieder einer sozialen Gruppe und in Anknüpfung an ihr Geschlecht nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG betroffen.

(Leitsätze der Redaktion; siehe zur Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung den Beitrag von Susanne Giesler und Sonja Hoffmeister im Asylmagazin 12/2019, S. 401ff.)

Schlagwörter: Iran, Frauen, Zwangsehe, Zeitehe, Ehe auf Zeit, soziale Gruppe, geschlechtsspezifische Verfolgung, Flüchtlingsanerkennung, Genfer Flüchtlingskonvention, materielles Asylrecht,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 6, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

b) Aus diesen Gründen hält sich die Klägerin aus begründeter Furcht vor Verfolgung i.S.v. § 3 AsylG außerhalb ihres Herkunftslandes auf.

Mit der Androhung eines hohen Vertreters des iranischen Regimes, die Klägerin werde (für den Fall der Weigerung) wie eine politische Gefangene enden, droht ihr — unter Berücksichtigung der Erkenntnislage, insbesondere zur Gewaltenteilung und Strafverfolgung im Iran und der besonderen Behandlung politisch Gefangener (vgl. dazu Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 26.2.2020, S. Bund 14-15) — eine Verfolgungshandlung i.S.v. § 3a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1-4 und 6 AsylG. Das Gericht hält es angesichts der bereits ausgesprochenen Drohungen für überwiegend wahrscheinlich, dass der Klägerin im Falle ihrer Rückkehr in den Iran schon aufgrund ihrer Ausreise aus ihrem Heimatland empfindliche Sanktionen im oben genannten Sinne drohen, da sie damit klar zum Ausdruck gebracht hat, der Aufforderung, Frau auf Zeit zu werden, nicht nachzukommen. Der freie Wille der Klägerin ist durch den ausgeübten Druck in massiver und flüchtlingsrechtlich erheblicher Weise bedroht gewesen.

Die drohenden Sanktionen folgten in Anknüpfung an einen flüchtlingsrelevanten Verfolgungsgrund i.S.v. § 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, wonach eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen kann, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Die drohenden Übergriffe zielten auf den inneren, die Menschenwürde tangierenden Kern der persönlichen Freiheit der Klägerin, sich gegen einen Ehepartner zu entscheiden (vgl. BVerwG, Urteil vom 6.4.1992 — 9 C 143.90 — juris Rn. 15). Dies erfolgte ganz offensichtlich auch einzig und allein wegen ihrer Eigenschaften als unverheiratete Frau und damit als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe und in Anknüpfung an ihr Geschlecht (vgl. dazu auch VGH Hessen, Urteil vom 26.3.2012 — 4 K 782/10.KS.A — juris, S. 7 des Urteils). [...]