VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 30.09.2020 - 1 A 2533/20 - asyl.net: M28947
https://www.asyl.net/rsdb/M28947
Leitsatz:

Kein Widerruf des Abschiebungsverbots für einen in Deutschland volljährig gewordenen afghanischen Mann:

"[...] 7. Im Zuge der Rücknahme oder des Widerrufs der positiven Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots bedarf es wegen § 42 Satz 1 AsylG der negativen Feststellung, dass kein nationales Abschiebungs­verbot vorliegt.

8. Nur im Zuge einer rechtmäßigen Rücknahme oder eines rechtmäßigen Widerrufs ist das Bundesamt nach § 73c Abs. 3 i.V.m. § 73 Abs. 3 AsylG zur negativen Feststellung befugt.

9. Dass ein Afghane zwischenzeitlich fernab seiner Heimat volljährig geworden ist, vermittelt ihm keine vollständige Sozialisation im heimischen Kulturkreis und rechtfertigt nach den Maßstäben der Kammer (VG Hamburg, Urt. v. 7.8.2020, 1 A 3562/17, juris Rn. 53 ff.) nicht den Widerruf eines nationalen Abschiebungs­verbots hinsichtlich Afghanistans."

(Auszug aus den amtlichen Leitsätzen)

Schlagwörter: Afghanistan, unbegleitete Minderjährige, minderjährig, Abschiebungsverbot, Rücknahme, Widerruf, Corona-Virus, Existenzminimum, Existenzgrundlage, Netzwerk, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Volljährigkeit,
Normen: AsylG § 73c, AsylG § 73 Abs. 3, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

9 Die Beklagte sprach mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14. Mai 2020 aus, (Nr. 1) das mit Bescheid vom 30. Oktober 2017 festgestellte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu widerrufen und (Nr. 2) festzustellen, dass das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliege. Zur Begründung führte sie aus: Der Kläger sei zum Zeitpunkt des Erstbescheids minderjährig (16 Jahre) und unbegleitet gewesen, es sei deshalb angenommen worden, dass ihm im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan zu diesem Zeitpunkt als vulnerable Person mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des Art. 3 EMRK drohe. Mittlerweile sei er über 19 Jahre alt und gehöre damit nicht mehr zum Personenkreis der vulnerablen Personen. Es drohe dem Kläger auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben. Der Bescheid wurde am 4. Juni 2020 zugestellt. [...]

28 Zum anderen soll nunmehr zu Lasten des Klägers eine negative Feststellung getroffen werden, dass kein nationales Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistans vorliegt, unabhängig davon, ob dieses auf § 60 Abs. 5 AufenthG oder auf § 60 Abs. 7 AufenthG gründen mag. Diese negative Feststellung ist nicht angesichts des zugleich ausgesprochenen Widerrufs der im Ausgangsbescheid getroffenen positiven Feststellung entbehrlich. Dass ein nationales Abschiebungsverbot nicht vorliegt, ist als inzidente Feststellung lediglich ein nicht bestandskraftfähiges Begründungselement des Widerrufs. Bestandskraftfähig ist nur eine am Regelungsgehalt teilhabende prinzipale Feststellung, dass ein nationales Abschiebungsverbot nicht vorliegt. Ein Widerruf der positiven Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot vorliegt, ohne eine negative Feststellung, dass kein Abschiebungsverbot vorliegt, ließe keine Entscheidung des Bundesamtes über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zurück. Dies widerspräche aber dem erkennbaren Regelungswillen, die Frage eines nationalen Abschiebungsverbots für die Ausländerbehörde verbindlich zu beantworten. Die Ausländerbehörde ist nach § 42 Satz 1 AsylG an die Entscheidung (Alt. 1) des Bundesamts oder (Alt. 2) des Verwaltungsgerichts über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG gebunden. [...]

32 Die behördliche Aufhebung der Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots ist in ihrem Regelungsgehalt, d.h. inwieweit sie als Verwaltungsakt auf Rechtswirkung nach außen gerichtet sind, nicht danach unterscheidbar, ob eine Rücknahme oder ob ein Widerruf ergeht. Rücknahme und Widerruf sind auf dieselbe Rechtsfolge gerichtet (zu Rücknahme und Widerruf von Flüchtlingsschutz/Asylanerkennung: OVG Münster, Beschl. v. 4.4.2013, 13 A 806/13.A, juris Rn. 17; vgl. BVerwG, Urt. v. 24.11.1998, 9 C 53/97, BVerwGE 108, 30, Rn. 16 "prinzipiell", auf die selbe Rechtsfolge gerichtet). Dem entspricht es, dass ein fälschlich als Rücknahme begründeter Bescheid rechtens ist, wenn die Widerrufsvoraussetzungen vorliegen (zu Rücknahme und Widerruf des Flüchtlingsschutzes: BVerwG, Beschl. v. 29.4.2013, 10 B 40/12, juris Rn. 4; Funke-Kaiser, GK-AsylG, Stand Dezember 2019, § 73 Rn. 28). [...]

33 Die behördliche Aufhebung der Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots erfordert, dass in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt die Feststellung nicht zutrifft, weil die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 AufenthG nicht gegeben sind. Da es sich um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Schutz mit mehreren Anspruchsgrundlagen handelt, dürfen weder die Anspruchsvoraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG noch diejenigen des § 60 Abs. 7 AufenthG erfüllt sein. Es handelt sich um eine notwendige Bedingung der Rechtmäßigkeit der Aufhebung. Die Abweichung zwischen verwaltungsaktförmiger Feststellung und gesetzlichen Voraussetzungen muss stets gegenwärtig sein. Liegen im maßgeblichen Zeitpunkt die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 5 oder nach § 60 Abs. 7 AufenthG vor, kann die behördliche Aufhebung der Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots weder als Rücknahme noch als Widerruf gerechtfertigt sein.

34 [...] Die nach § 73c Abs. 1 AsylG verpflichtend zur Rücknahme führende Fehlerhaftigkeit meint eine andauernde oder zumindest zu den beiden benannten Zeitpunkten bestehende Abweichung zwischen Bescheidlage und Gesetzeslage. Nur ungenau wird die Fehlerhaftigkeit i.S.d. § 73c Abs. 1 AsylG als ursprüngliche Fehlerhaftigkeit beschrieben (etwa Hailbronner, Ausländerrecht, Stand September 2014, AsylG, § 73c Rn 7; vgl. Bergmann, a.a.O., § 73c Rn. 3; Hocks/Leuschner, in NK-Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, AsylVfG, § 73 Rn. 34), anknüpfend daran, dass im Anwendungsbereich des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG grundsätzlich die Rechtswidrigkeit die ursprüngliche Rechtswidrigkeit meint (dazu Sachs, in Stelkens/Bonk/Sachs, 9. Aufl. 2018, VwVfG, § 48 Rn. 49). Denn auch die ursprünglich fehlerhafte, d.h. anfänglich von der Gesetzeslage abweichende, Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots ist nach § 73 Abs. 1 AsylG nicht zurückzunehmen, vielmehr die ergangene Rücknahme ihrerseits aufzuheben, wenn nunmehr die gesetzlichen Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG oder § 60 Abs. 7 AufenthG eingetreten sind.

35 [...] Aus § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG ergibt sich, dass nicht nur solche Tatsachen einen Widerrufsbescheid als rechtmäßig tragen können, die schon bei dessen Erlass vorgelegen haben, sondern gerade auch weitere Tatsachen zu berücksichtigen sind (BVerwG, Urt. v. 29.6.2015, 1 C 2/15, NVwZ-RR 2015, 790, juris Rn. 15). Bei der vergleichenden Betrachtung der Umstände im Zeitpunkt der Feststellung einerseits und der für den Widerruf gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Sachlage andererseits muss sich durch neue Tatsachen eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Gefährdungsprognose ergeben (vgl. für den Widerruf des Flüchtlingsschutzes: Funke-Kaiser, GKAsylG, Stand Dezember 2019, § 73 Rn. 28). [...]

43 Demgegenüber erschließt sich der Sinn der der durch § 73c Abs. 3 AsylG angeordneten entsprechende Geltung des § 73 Abs. 3 AsylG nicht in gleicher Weise (vgl. Hailbronner, a.a.O., § 73c Rn. 20). Denn im Verhältnis zum nationalen Abschiebungsverbot, auf das sich die Aufhebungsentscheidung nach § 73c Abs. 1 und 2 AsylG beschränkt, existiert kein nachrangiger Schutz. Doch gebietet es die nach der Gesetzesbegründung zu fordernde Klarheit über Abschiebungsverbote, dass bei Rücknahme oder Widerruf der ohnehin nachrangigen Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots auf gleicher nachrangiger Ebene eine negative Feststellung über das nationale Abschiebungsverbot zu treffen ist. [...]

48 3. Nach diesem Maßstab ist der angefochtene Widerrufsbescheid vom 14. Mai 2020 rechtswidrig. Die Beklagte ist bereits nicht zur Aufhebung der im Ausgangsbescheid getroffenen Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots befugt und deshalb auch nicht im Zuge dessen zu der negativen Feststellung, dass kein nationales Abschiebungsverbot vorliegt. Denn zumindest in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung liegen die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots vor. Da es sich um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Schutz mit mehreren Anspruchsgrundlagen handelt, genügt es, wenn der Tatbestand einer Anspruchsgrundlage erfüllt ist. Hier ist der Tatbestand des § 60 Abs. 5 AufenthG erfüllt. Ein nationales Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen einer drohenden unmenschlichen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung (hierzu unter a)) leitet sich ausgehend von den allgemeinen humanitären Verhältnissen in Afghanistan (hierzu unter b)) und den dazu von der Kammer entwickelten Grundsätzen (hierzu unter c)) für den Kläger her (hierzu unter d)). [...]

64 c) Die Kammer (bereits VG Hamburg, Urt. v. 7.8.2020, 1 A 3562/17, juris Rn. 53 ff.) geht für die im Einzelfall unter Würdigung aller Umstände zu erstellende Gefahrenprognose von folgenden Grundsätzen aus:

65 Dem Rückkehrer nach Afghanistan droht dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche Behandlung, wenn er sein Existenzminimum an Nahrung, Hygiene und Unterkunft voraussichtlich nicht zu sichern vermag, da er weder allein die zur Befriedigung dieser elementaren Bedürfnisse notwendigen Beziehungen aufbauen könnte noch hinreichend von einem bereits vorhandenen Netzwerk unterstützt würde.

66 Eine Existenzsicherung ohne bereits vorhandenes Netzwerk setzt grundsätzlich voraus:

67 Zum einen muss der Rückkehrer volljährig, gesund, arbeitsfähig und – ausgehend von den sozialen Gegebenheiten des Zielstaats – männlichen Geschlechts sein sowie eine Landessprache (Dari/Farsi oder Paschto) hinreichend verstehen und sprechen. Diese Voraussetzungen entsprechen im Wesentlichen der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. VGH München, Urt. 6.7.2020, 13a B 18.32817, juris Rn. 47; VGH Mannheim, Urt. v. 29.11.2019, A 11 S 2376/19, juris Rn. 11; VGH Kassel, Urt. v. 23.8.2019, 7 A 2750/15.A, juris Rn. 50; OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 198; OVG Lüneburg, Urt. v. 29.1.2019, 9 LB 93/18, juris Rn. 55; auch VG Freiburg, Urt. v. 19.5.2020, A 8 K 9604/17, juris Rn. 40 ff.).

68 Zum anderen bedarf es, um die Erwartung zu tragen, dass der Rückkehrer sich aus eigener Kraft durchsetzen wird, nach Überzeugung der Kammer zusätzlicher Umstände. Auf dem Land (im ruralen Raum) bedarf er zur Existenzsicherung eines ihm zur Bewirtschaftung zur Verfügung stehenden Landbesitzes. In den Großstädten (im urbanen oder semi-urbanen Raum) muss er sich auf dem infolge der COVID-19-Pandemie besonders umkämpften Wohnungs- und Arbeitsmarkt allein behaupten und dafür notwendige Beziehungen knüpfen können. [...]

76 d) Vor diesem Hintergrund folgt ein nationales Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK daraus, dass dem Kläger bei Rückkehr eine unmenschliche Behandlung droht.

77 Ohne ein zur Unterstützung fähiges und bereites Netzwerk vor Ort würde der Kläger voraussichtlich seine Existenz nicht sichern können. Die gegenteilige Annahme der Beklagten im Widerrufsbescheid vom 14. Mai 2020 trägt nicht. Zwar ist der Kläger nunmehr volljährig geworden, gesund, arbeitsfähig, männlich und spricht die Landessprache Dari. Doch fehlt es an erforderlichen zusätzlichen Umständen, um die Erwartung zu tragen, dass der Kläger in seinem Herkunftsland die zur Befriedigung der elementaren Bedürfnisse Nahrung, Hygiene und Unterkunft notwendigen Beziehungen wird aufbauen können. Der am ... 2000 geborene Kläger ist weder vollständig sozialisiert im Land seiner Staatsangehörigkeit Afghanistan noch im zwischenzeitlichen Land seines gewöhnlichen Aufenthalts Iran. Vielmehr hat er als unbegleiteter Minderjähriger mit knapp 15 Jahren den heimischen Kulturkreis verlassen und spätestens am 19. Oktober 2015 Hamburg erreicht. Dass der Kläger zwischenzeitlich fernab seiner Heimat volljährig geworden ist, vermittelt ihm keine vollständige Sozialisation im heimischen Kulturkreis. Auch die beigezogene Ausländerakte gibt keinen Hinweis darauf, dass der Kläger das hinsichtlich Vorerfahrungen bestehende Defizit ausnahmsweise ausgleichen könnte durch Ressourcen, Fertigkeiten, Geschick oder Robustheit in besonderer Ausprägung.

78 Unterstützung bedürfte der Kläger durch ein Netzwerk vor Ort, anhand dessen er das Leben eines Erwachsenen in seinem Kulturkreis erlernen und mit dieser Hilfe seine Existenz sichern könnte. Ein solches Netzwerk besteht in Afghanistan für den aus seinem Herkunftsland bereits 2009/2010 in den Iran ausgereisten Kläger glaubhaft nicht mehr. Im Heimatland verfügt er über keine tragfähigen verwandtschaftlichen Beziehungen bzw. über keinen Kontakt zu im Heimatland lebenden Verwandten. Im Ausgangsbescheid vom 30. Oktober 2017 hat die Beklagte dies zutreffend ausgeführt. [...]