VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 11.09.2020 - 31 K 462.19 V - asyl.net: M28976
https://www.asyl.net/rsdb/M28976
Leitsatz:

Zum wirtschaftlichen Interesse beim Aufenthalt zur Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit:

"1. Das wirtschaftliche Interesse bzw. das regionale Bedürfnis im Sinne von § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG ist jeweils unter Berücksichtigung der in § 21 Abs. 1 Satz 2 AufenthG aufgeführten Kriterien und anhand aller Umstände des Einzelfalls zu ermitteln. Insgesamt bleiben die inländischen Interessen oder Bedürfnisse an der speziellen Tätigkeit des Ausländers in Deutschland maßgeblich und nicht die unternehmerischen Interessen eines Ausländers.

2. Der Businessplan eines Unternehmens verkörpert die schriftliche Zusammenfassung einer zukünftigen Geschäftsidee und dient dazu, ein realistisches Bild des Unternehmens und des Marktes aufzuzeigen.

3. Eine Geschäftsidee ist nicht tragfähig, wenn zwischen der Ist-Planung eines Unternehmens und dem Businessplan erhebliche Abweichungen bestehen. Das gilt jedenfalls, wenn die Abweichungen Bereiche betreffen, die die Geschäftsidee wesentlich kennzeichnen. Dazu gehören u.a. der Unternehmensgegenstand und die Unternehmenskennzahlen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: nationales Visum, Visum, selbständige Erwerbstätigkeit, wirtschaftliches Interesse, Investitionen, Businessplan, Unternehmen, Firma, GmbH,
Normen: AufenthG § 21 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 6 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

7 Auf die Remonstration der Klägerin lehnte das Generalkonsulat den Antrag mit Remonstrationsbescheid vom 15. Juni 2019 erneut ab und hob den Ausgangsbescheid auf. Das Generalkonsulat führte zur Begründung an, die Klägerin habe die Zweifel an der Gesamtplausibilität ihres Vorhabens nicht ausgeräumt. Das persönliche Gespräch mit ihr habe große Lücken zwischen ihrem Wissen einerseits und der im Businessplan beschriebenen Unternehmung andererseits aufgezeigt, etwa bei der Berufserfahrung im Handel mit Baby- und Kleinkindprodukten oder den Kennzahlen für die Entwicklung des Unternehmens. Auch der Umstand, dass die Klägerin nach ihren Angaben rund 51.000 Euro u.a. für die Gründung der Firma und die Erstellung des Businessplans an den Leiter des Geschäftszentrums gezahlt habe, in dem sich ihr Unternehmen ansiedeln solle, deute darauf hin, dass sie durch eine Investition ein ansonsten versperrtes Aufenthaltsrecht erlangen wolle. Jedenfalls sei das Ermessen zu Ungunsten der Klägerin auszuüben. Das Bundesinteresse an einer geregelten, konformen Zuwanderung würde das Interesse der Region und der Klägerin überwiegen. Das Aufenthaltsrecht sehe ein so genanntes "Investorenvisum" nicht vor. Zudem sei das regionale Interesse für die geplante Tätigkeit nicht erkennbar. [...]

18 Die zulässige Verpflichtungsklage ist unbegründet. Die Klägerin hat weder einen Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums noch auf Neubescheidung ihres Antrags. Die Versagung mit dem Bescheid vom 15. Juni 2019 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 und 2 VwGO). [...]

21 2. Gemessen hieran sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 21 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht erfüllt.

22 a) Für eine selbständige Tätigkeit der Klägerin besteht weder ein wirtschaftliches Interesse noch ein regionales Bedürfnis im Sinne des § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG.

23 (1) Unter "wirtschaftlichem Interesse" ist mit Blick auf den in § 1 Abs. 1 AufenthG dargelegten Zweck des Aufenthaltsgesetzes das (volks-)wirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Interesse der Bundesrepublik Deutschland zu verstehen (vgl. hierzu sowie zum Folgenden VG Berlin, Urteile vom 23. Februar 2018 – VG 3 K 769.16 V –, juris Rn. 21, vom 29. November 2018 – VG 31 K 282.18 V –, EA S. 8 ff. und vom 6. Juni 2019 – VG 35 K 240.18 V –, juris Rn. 24). Maßgeblich sind die wirtschaftlichen Verhältnisse und Bedürfnisse der Bundesrepublik Deutschland als hochentwickeltem Industrieland. [...] Dass die frühere "Regelvoraussetzung" einer Investitionssumme von 250.000 Euro und einer Schaffung von fünf Arbeitsplätzen aus der gesetzlichen Vorschrift gestrichen wurde, beruhte darauf, dass sie "häufig nicht als Regelvoraussetzung, sondern als zwingende Voraussetzung angesehen wurde und es trotz grundsätzlicher Eignung des Geschäftsmodells zu einer Versagung gekommen war". Der Orientierungswert der früheren Regelvoraussetzung kann daher weiter herangezogen werden, um das wirtschaftliche Interesse eines Vorhabens zu beurteilen. Ein solches kann etwa gegeben sein, wenn ein ausländischer Unternehmensgründer eine tragfähige Geschäftsidee entwickelt hat, die zu nicht nur unwesentlichen Investitionen und  Arbeitsplatzschaffungen führt, auch wenn diese nicht den Umfang der früheren "Regelvoraussetzung" erreichen müssen. [...]

25 Unter Berücksichtigung der in § 21 Abs. 1 Satz 2 AufenthG aufgeführten Kriterien sind bei der Ermittlung der Frage nach dem wirtschaftlichen Interesse bzw. dem regionalen Bedürfnis alle Umstände des Einzelfalls in den Blick zu nehmen. Insgesamt bleiben die inländischen Interessen oder Bedürfnisse an der speziellen Tätigkeit des Ausländers in Deutschland maßgeblich und nicht die unternehmerischen Interessen eines Ausländers (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 17. März 2009 – 11 S 448/09 –, juris Rn. 9 m.w.N.; Hänsle, in: BeckOK MigR, a.a.O. Rn. 11).

26 (2) Danach liegt kein wirtschaftliches Interesse im Sinne des § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Alt. 1 AufenthG vor.

27 aa) Zunächst ist die Unternehmung der Klägerin angesichts der Höhe des Kapitaleinsatzes volkswirtschaftlich unbedeutend, so dass die Investitionssumme allein kein wirtschaftliches Interesse begründen kann. Die Investitionssumme von 100.000 Euro und bleibt deutlich unter dem Leitbild der ehemaligen Regelinvestitionssumme in Höhe von 250.000 Euro. An dieser Wertung ändert sich nichts, selbst wenn unterstellt wird, dass die Klägerin weitere 25.000 Euro investiert. Denn auch dann entspräche die Investitionssumme gerade einmal der Hälfte des Leitbilds.

28 bb) Die zu erwartenden Auswirkungen auf die Beschäftigungs- und Ausbildungssituation stützen ein wirtschaftliches Interesse ebenfalls nicht. Die Beschäftigungssituation bleibt deutlich hinter dem Leitbild der ehemaligen Regelvoraussetzung von fünf Arbeitsplätzen zurück. Ausbildungsplätze sind nach dem von der Klägerin eingereichten Unterlagen nicht zu erwarten, solches hat sie auch nicht vorgetragen. Zudem lässt sich weder dem Vortrag der Klägerin noch dem von ihr im Verwaltungsverfahren eingereichten Businessplan entnehmen, dass die von ihr avisierte Tätigkeit in absehbarer Zeit Arbeitsplätze schafft, wobei die Tätigkeit der Klägerin dabei nicht hinzuzurechnen ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 17. März 2009, a.a.O. Rn. 7). [...]

29 cc) Überdies ist die Geschäftsidee, wie sie die Klägerin präsentiert hat, nicht tragfähig. Die Klägerin hat ihr Gesamtvorhaben nicht plausibel dargelegt. Denn die Angaben zur Geschäftsidee und ihrer Umsetzung, wie sie die Klägerin im Rahmen der persönlichen Vorsprache beim Generalkonsulat gemacht hat, weichen erheblich von den von ihr eingereichten Unterlagen – insbesondere vom Gesellschaftsvertrag und vom Businessplan – ab, ohne dass die Diskrepanzen aufgelöst worden sind. Insgesamt drängt sich dem Gericht der Eindruck auf, dass der Klägerin wesentliche Inhalte des Businessplans und der abgeschlossenen Verträge nicht geläufig waren, so dass insgesamt unklar bleibt, welche und wessen Geschäftsidee sie auf welche Weise umzusetzen gedenkt. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass Abweichungen zwischen der Ist-Planung eines Unternehmens und einem Businessplan durchaus vorkommen können. Erhebliche Abweichungen sollten aber grundsätzlich nicht in Bereichen auftreten, die die Geschäftsidee wesentlich kennzeichnen, wozu jedenfalls der Unternehmensgegenstand und die Unternehmenskennzahlen gehören. Denn der Businessplan verkörpert die schriftliche Zusammenfassung einer zukünftigen Geschäftsidee und sollte ein realistisches Bild des Unternehmens und des Marktes aufzeigen. Abweichungen, die einer Planänderung gleichkommen, sind jedenfalls erläuterungsbedürftig. Daran fehlt es hier. [...]

34 (3) Ein regionales Bedürfnis für die beabsichtigte Tätigkeit gemäß § 21 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 AufenthG kann ebenfalls nicht angenommen werden.

35 Wie bereits ausgeführt, fehlt es an einer tragfähigen Geschäftsidee und an unternehmerischer Erfahrung der Klägerin. In der Folge kann für ihr Vorhaben auch kein regionales Bedürfnis bestehen. Daher mag es zwar sein, dass nach der Einschätzung der IHK ... (vgl. Stellungnahme Bl. 99 des Verwaltungsvorgangs der Beklagten) ein Handelsunternehmen für Beschläge im Baubereich, Haushaltsgeräte, Lebensmittel und Produkte des täglichen Bedarfs, die in Deutschland eingekauft und nach China exportiert werden, als Teil des chinesischen Geschäftszentrums "... Center" in ... "zur Belebung der örtlichen Wirtschaft beitragen kann" und ein funktionierendes Geschäftszentrum perspektivisch positive Effekte für die strukturschwache Region im Landkreis B... erwarten lässt. Denn zur Überzeugung des Gerichts steht, wie aufgezeigt, nicht fest, dass die Klägerin eine tragfähige Geschäftsidee dargelegt hat, so dass schon deswegen kein regionales Bedürfnis für eine selbständige Tätigkeit der Klägerin bestehen kann. [...]