VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 18.08.2020 - 7 K 804/17 - asyl.net: M29021
https://www.asyl.net/rsdb/M29021
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für jungen Mann aus Somalia wegen Verfolgung durch Al-Shabaab:

1. Der Kläger ist vorverfolgt ausgereist, da er und sein Bruder durch die Al-Shabaab als Gegner ihrer Organisation ausgemacht, sein Bruder daraufhin hingerichtet und der Kläger gesucht wurde.

2. Obwohl die Flucht des Klägers bereits mehrere Jahre zurückliegt, ist aufgrund der Erkenntnisse zum Vorgehen der Al-Shabaab davon auszugehen, dass die Gruppe den Kläger bei einer Rückkehr weiter suchen und verfolgen würde.

3. Eine Person wie der Kläger, der zum Minderheitenclan Gabooye gehört und weder auf ein familiäres Netzwerk zurückgreifen kann noch eine spezifische Berufsausbildung besitzt, kann nicht darauf verwiesen werden, in einem anderen Landesteil Somalias Schutz zu suchen, da die Existenzsicherung gefährdet wäre.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Somalia, Südsomalia, Jubbada Dhexe, Middle Juba, Al-Shabaab, nichtstaatliche Verfolgung, interne Fluchtalternative, Gabooye, Existenzgrundlage, Clan, Minderheitenclan,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3c Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. Dem Kläger steht zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) der geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu; die angefochtenen Bescheide vom 24.03.2017 und vom 09.08.2019 erweisen sich insoweit als rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Sie sind aufzuheben, soweit sie dem vorgenannten Anspruch entgegenstehen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

aa. Nach der persönlichen Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung geht die Einzelrichterin davon aus, dass der Kläger und dessen Bruder im Jahr 2015 in M von der al-Shabaab wegen ihrer abweichenden politischen Überzeugung gesucht worden sind und dass der Bruder des Klägers von der al-Shabaab entführt und öffentlich hingerichtet worden ist. [...]

bb. Die Verfolgung knüpfte an einen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3b Abs. 1 AsylG an. Es ist davon auszugehen, dass die al-Shabaab dem Kläger aufgrund seiner Äußerungen gegenüber den offensichtlich zur al-Shabaab gehörenden Jugendlichen eine abweichende politische Überzeugung zuschreibt (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG). Nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist unter dem Begriff der politischen Überzeugung insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. [...]

cc. Die Vermutung der erneuten Verfolgung durch die al-Shabaab kann nicht durch stichhaltige Gründe widerlegt werden. Auch wenn die erlittene Verfolgung des Klägers mittlerweile fünf Jahre zurückliegt, ist davon auszugehen, dass die al-Shabaab ein Interesse daran hat, ihn als politischen Gegner zu verfolgen. So ist den Erkenntnismitteln zu entnehmen, dass die al-Shabaab zielgerichtet jene Person verfolgt, derer sie habhaft werden will und selbst in von der Regierung kontrollierten Gebieten menschliche Ziele aufspüren kann (vgl. Fact Finding Mission Report - Sicherheitslage in Somalia, August 2017, S. 35). [...]

dd. Dem Kläger steht auch nicht die Möglichkeit internen Schutzes in einem anderen Teil von Somalia offen. Bei Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls kann von ihm nicht vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich an einem anderen Ort als ... niederlässt (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Beim internen Schutz muss die Existenzgrundlage soweit gesichert sein, dass vom Ausländer vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort aufhält. Dieser Zumutbarkeitsmaßstab geht über das Fehlen einer im Rahmen des Abschiebungsverbots beachtlichen existenziellen Notlage hinaus (BVerwG, Urt. v. 31.01.2013 - 10 C 15.12, juris Rn. 20). Für eine Rückkehr des Klägers in die Hauptstadt Mogadischu oder nach Kismayo kann nicht angenommen werden, dass sich der Kläger dort eine Existenzgrundlage würde schaffen können. [...]

Der Kläger hätte in Mogadischu oder Kismayo keine familiäre Unterstützung zu erwarten. Seine Mutter ist mit seinen Geschwistern nach dem Tod des Vaters nach Kenia geflohen. Die zuvor in ... lebende Großmutter ist verstorben. Der Kläger gehört zudem der berufsständischen Minderheitengruppe der Gabooye an, die sozial ausgegrenzt und benachteiligt wird (Staatssekretariat SEM, a.a.O., S. 13; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse, Somalia: Die Minderheitengruppe der Gabooye/Midgan, 05.07.2018, S. 3 f.). Die Gabooye stellen noch immer die ärmste Bevölkerungsschicht Somalias dar und die meist schlechtere Schulbildung führt zur Benachteiligung bei der Arbeitssuche, bei der die Clanzugehörigkeit ohnehin oft zu Diskriminierung führen kann (BFA, a.a.O., S. 86).

Nach alledem ist im konkreten Einzelfall des Klägers nicht davon auszugehen, dass sich dieser, auch bei den im Vergleich zu anderen Teilen des Landes wirtschaftlich wohl günstigeren Bedingungen in Mogadischu oder Kismayo, durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit eine Existenzgrundlage sichern könnte. Er ist zwar jung, männlich und arbeitsfähig, würde sich aber als Angehöriger einer berufsständischen Minderheitengruppe ohne Kontakte und Unterstützung in einer für ihn fremden Gegend wiederfinden. Er wäre sowohl aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Minderheitengruppe als auch als Binnenflüchtling beim Aufbau einer Existenzgrundlage erheblich benachteiligt. Dies gilt im Ergebnis auch für andere Teile des Landes. Zwar lebt ein Großteil von Angehörigen der Gabooye im Norden von Somalia in Somaliland und Puntland (SFH-Länderanalyse vom 05.07.2018, a.a.O., S. 4), doch auch in diesen Gebieten leiden die Gabooye nach wie vor unter sozialer und wirtschaftlicher Benachteiligung und werden am Arbeitsmarkt diskriminiert (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Somalia - Somaliland vom 12.01.2018, S. 27). Der Kläger hat in dieser Region keinerlei familiäre Verbindungen, könnte unter diesen Umständen auch nicht auf ein privates Netzwerk zurückgreifen und sich somit keine wirtschaftlich ausreichende Existenz aufbauen. [...]