BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 07.10.2020 - 2 BvR 2426/17 - asyl.net: M29029
https://www.asyl.net/rsdb/M29029
Leitsatz:

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Ablehnung eines Berufungszulassungsantrags:

Die Frage, ob auch ausländische Eltern deutscher Kinder unter bestimmten Umständen (z.B. dreijährige ununterbrochene Ausübung der elterlichen Sorge) ein eigenständiges Aufenthaltsrecht haben, hat grundsätzliche Bedeutung.

Die Ablehnung des Berufungszulassungsantrags kann - ohne weitere Aufklärung des Sachverhalts - nicht auf eine Alternativbegründung gestützt werden, wenn der Sachverhalt im erstinstanzlichen Verfahren offengelassen wurde, da er nicht als entscheidungserheblich angesehen wurde.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: deutsches Kind, eigenständiges Aufenthaltsrecht, Berufungszulassungsantrag, Berufungszulassung, rechtliches Gehör, effektiver Rechtsschutz, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Rechtsfolgenverweisung, Rechtsgrundverweisung,
Normen: GG Art. 19 Abs. 4 S. 1, AufenthG § 28 Abs. 1 Nr. 3, AufenthG § 28 Abs. 3 S.1, AufenthG § 31,
Auszüge:

[...]

32 2. Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 1. ist auch begründet. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 25. September 2017 verstößt, soweit er den Beschwerdeführer zu 1. betrifft, gegen das Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. [...]

34 Die Voraussetzungen des Berufungszulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit eines verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) sind immer schon dann erfüllt, wenn der Rechtsmittelführer einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt (vgl. BVerfGE 125, 104 <140>; 151, 173 <186 Rn. 32>). Zwar begegnet es in diesem Zusammenhang grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn das Berufungsgericht bei der Überprüfung des angefochtenen Urteils auf ernstliche Zweifel (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) auf andere rechtliche Erwägungen abstellt als das Verwaltungsgericht. Es kann dadurch die Zulassung der Berufung ablehnen, weil sich das Urteil aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig erweist. Wenn das Berufungsgericht dabei jedoch auf Erwägungen abstellt, die nicht ohne Weiteres auf der Hand liegen, widerspricht dies sowohl dem Sinn und Zweck des Zulassungsverfahrens als auch der Systematik der in § 124 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3 VwGO geregelten Zulassungs- gründe (vgl. BVerfGE 134, 106 <119 f. Rn. 40 f.>). Verneint das Berufungsgericht im Zulassungsverfahren den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel, darf es insbesondere nicht erstmals Erwägungen heranziehen, die grundsätzliche Bedeutung haben, aber vom erstinstanzlichen Gericht nicht behandelt oder offengelassen wurden. Der Rechtsschutz, den der Gesetzgeber für Fragen von grundsätzlicher Bedeutung vorgesehen hat, nämlich ihre Überprüfung im Berufungsverfahren selbst, würde damit in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise verkürzt (vgl. BVerfGK 10, 208 <214>).

35 b) Diesen Anforderungen wird der angegriffene Beschluss nicht gerecht.

36 Das Oberverwaltungsgericht hat die für das Verwaltungsgericht entscheidungserhebliche Frage, ob der Beschwerdeführer zu 1. die Anspruchsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 31 Abs. 4 Satz 2 in Verbindung mit § 5 AufenthG erfüllt, offengelassen und ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ausschließlich mit der Begründung verneint, dass der Verweis des § 28 Abs. 3 Satz 1 AufenthG auf § 31 AufenthG ein eigenständiges Aufenthaltsrecht des (ehemals) personensorgeberechtigten ausländischen Elternteils eines minderjährigen Deutschen nach dreijähriger ununterbrochener Ausübung der Personensorge im Bundesgebiet nicht vermitteln könne.

37 Auf diese Alternativbegründung durfte das Oberverwaltungsgericht im Zulassungsverfahren jedoch nicht abstellen, da die Frage nach der Auslegung der Verweisung in § 28 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ihrerseits grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO hat. [...]

38 Indem das Oberverwaltungsgericht mit seiner Alternativbegründung über eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung entschieden hat, hat es dem Beschwerdeführer zu 1. nicht nur unzulässigerweise die Möglichkeit des Berufungsverfahrens abgeschnitten, sondern zugleich den Rechtsweg zum Bundesverwaltungsgericht als der zur abschließenden fachgerichtlichen Klärung rechtsgrundsätzlicher Fragen des Bundesrechts zuständigen Instanz versperrt. Es hat bei der Auslegung von § 124 Abs. 2 VwGO insoweit Bedeutung und Tragweite von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verkannt. [...]