VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 21.09.2020 - 11 B 57/20 - asyl.net: M29059
https://www.asyl.net/rsdb/M29059
Leitsatz:

Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumsverfahrens:

1. Ob die Nachholung des Visumsverfahrens zumutbar ist oder nicht, ist eine Rechtsfrage, die der gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Die Grenze liegt dort, wo das Beharren auf einer erneuten Ausreise objektiv als unangemessen empfunden werden müsste (vorliegend bejaht).

2. In der vorzunehmenden Einzelfallprüfung sind die Einschränkungen des Reiseverkehrs und die zeitweisen Grenzschließungen aufgrund der Covid-19-Pandemie zu berücksichtigen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Visumsverfahren, Corona-Virus, selbständige Erwerbstätigkeit, vorläufiger Rechtsschutz, Zumutbarkeit,
Normen: AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2, VwGO § 80 Abs. 5, SGK Art. 2 Nr. 16,
Auszüge:

[...]

27 Der Antrag vom 19.03.2020 hat die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ausgelöst. Nach dieser Vorschrift gilt der Aufenthalt bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als erlaubt, wenn ein Ausländer, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, ohne einen Aufenthaltstitel zu besitzen, die Erteilung eines Aufenthaltstitels beantragt. Diese Voraussetzungen liegen vor. Die Antragstellerin war bei Antragstellung nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels. Ihre polnische Karta Pobytu (Aufenthaltstitel im Sinne des Art. 2 Nr. 16 des Schengener Grenzkodex (SGK)) fällt nicht darunter, da Aufenthaltserlaubnisse anderer Schengen-Staaten nicht in der Aufzählung unter § 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG genannt sind. Ihr Aufenthalt war auch zum Zeitpunkt der Antragstellung rechtmäßig. Als Inhaberin der zu diesem Zeitpunkt noch gültigen Karta Pobytu durfte sie sich gemäß Art. 21 Abs. 1 Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) i.V.m. Art. 6 Abs. 1 lit. a,c und e SGK 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen im Bundesgebiet aufhalten.

28 Ihr Aufenthalt war auch nicht aufgrund einer bewussten Umgehung der Einreisevorschriften unrechtmäßig. Zwar kann der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts im Einzelfall entgegenstehen, dass bereits bei der Einreise beabsichtigt wird, sich länger als 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen im Bundesgebiet aufzuhalten (vgl. zu der Konstellation visumfreier Aufenthalte sog. Positivstaater/Anhang-II-Staater nach Art. 20 SDÜ, Art. 6 SGK, Art. 1 Abs. 2 in Verbindung mit Anhang II Nr. 1 der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 (EG-VisaVO): Beschluss der Kammer vom 09. Januar 2019 – 11 B 163/18 –; Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 02. März 2020 – 4 MB 5/20 –, juris, Rn. 6 ff.; wohl a.A.: Zeitler in: HTK-AuslR / § 81 AufenthG / zu Abs. 3 und 4, Stand: 05.03.2020, Rn. 10 f.).

29 Dies kann indes im vorliegenden Fall nicht aufgrund der tatsächlichen Umstände angenommen werden. Von einer unerlaubten Einreise zur bewussten Umgehung des Visumverfahrens kann nicht anhand objektiver Gesichtspunkte ausgegangen werden. [...]

35 Allerdings ist liegt ein Fall der 2. Alternative des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vor. Danach kann von der Nachholung des Visumverfahrens abgesehen werden, wenn es auf Grund besondere Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist. Aus der Formulierung ("nachzuholen“) ergibt sich, dass der aktuelle Zeitpunkt maßgeblich ist und nicht die Frage, ob es zumutbar war, das Visum vor der Einreise einzuholen, also hier durch Abwarten der Entscheidung in Polen. Die Umstände, die zur Einreise ohne Visum geführt haben, können dennoch bei der Frage der Zumutbarkeit berücksichtigt werden. Ob die Nachholung des Visumverfahrens zumutbar ist oder nicht, ist eine Rechtsfrage, die der gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Voraussetzung ist, dass der Ausländer sich in einer Ausnahmesituation befindet, die sich deutlich von der Lage vergleichbarer Ausländer unterscheidet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Nachholung des Visumverfahrens stets mit Unannehmlichkeiten verbunden ist und dass der Eindruck zu vermeiden ist, dass eine Einreise stets vollendete Tatsachen schaffen kann. Die Grenze liegt dort, wo das Beharren auf der erneuten Ausreise objektiv als unangemessen empfunden werden müsste (Zeitler, HTK-AuslR / § 5 AufenthG / zu Abs. 2 Satz 2, Stand: 09.03.2019, Rn. 18 ff.). Die Zumutbarkeitsprüfung erfordert eine Güterabwägung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Das öffentliche Interesse an der Einhaltung des Visumverfahrens ist mit den legitimen Interessen des Ausländers abzuwägen.

36 Gemessen daran liegt eine Ausnahmesituation vor, die sich deutlich von der Lage anderer Personen unterscheidet. Denn die Antragstellerin ist gerade nicht eingereist, ohne ein nationales Visum beantragt zu haben oder entgegen einer ablehnenden Entscheidung der Auslandsvertretung unter dem Vorwand eines Besuchsaufenthalts eingereist. Anhand der zeitlichen Abfolge steht – wie oben gezeigt – nicht fest, dass das Visumverfahren nur zum Schein angestrengt wurde, um dann unter Umgehung des Verfahrens mit Hilfe des polnischen Aufenthaltstitels einzureisen. Die Besonderheiten in der vorliegenden Konstellation liegen auch darin, dass die Antragstellerin zum einen den entsprechenden Antrag über drei Monate vor Ablauf der Gültigkeit ihres polnischen Aufenthaltstitels gestellt hat und grundsätzlich mit einer rechtzeitigen Bescheidung rechnen durfte. Die Prüfung verlief zudem auch im Ergebnis positiv. Die Antragsgegnerin erteilte die erforderliche Zustimmung in Kenntnis der COVID-19-Pandemie und der zu diesem Zeitpunkt bereits eingetretenen Reisebeschränkungen, auch wenn zu diesem Zeitpunkt sicherlich nicht absehbar war, für welchen Zeitraum diese gelten würden. Auch teilte die Deutsche Botschaft in Warschau bereits die Abholungsmodalitäten mit, so dass grundsätzlich ein normaler Ablauf eines erfolgreichen Visumverfahrens vorlag. Das Scheitern der Ausstellung ist zwar auch darauf zurückführen, dass der polnische Aufenthaltstitel mittlerweile abgelaufen war, was der Sphäre der Antragstellerin zuzuordnen ist. Jedoch ist hier auch die Besonderheit der Ereignisse ab März 2020 zu berücksichtigen. Durch die Einschränkung der Reisetätigkeit und die zeitweisen Grenzschließungen entstand eine besondere Situation, die auch im Rahmen der Prüfung von § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG miteinzubeziehen ist. Vor diesem Hintergrund würde ein Verweis auf ein (erneutes) Visum nicht mehr den vom Gesetzgeber beabsichtigten Zwecken dienen und wäre daher unverhältnismäßig. Diese Umstände sind auch bei der sich daraus ergebenden Ermessensentscheidung zu berücksichtigen. In dem Vortrag des Antragsgegners im gerichtlichen Eilverfahren ist keine Ausübung des Ermessens zu erkennen (vgl. auch für den Fall von hilfsweisen Ermessenserwägungen Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 27. März 2020 – 4 MB 11/20 –, juris, Rn. 18 ff.). [...]