VG Bayreuth

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Zitieren als:
VG Bayreuth, Urteil vom 17.06.2020 - B 7 K 20.30314 - asyl.net: M29251
https://www.asyl.net/rsdb/M29251
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot hinsichtlich Äthiopiens für Familie mit drei kleinen Kindern:

Ein Kleinkind kann mit Eltern und zwei Geschwistern nach Äthiopien zurückkehren. Die humanitäre und wirtschaftliche Lage ist trotz der Corona-Pandemie und der Heuschreckenplage nicht so schlecht, dass ein Abschiebungsverbot besteht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Äthiopien, Abschiebungsverbot, Corona-Virus, Heuschreckenplage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Es ist für das Gericht auch nicht ersichtlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Äthiopien einer Extremgefahr im vorstehenden Sinne, die die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung einschränken könnte, ausgesetzt wäre.

Weder aus den Darlegungen des Klägerbevollmächtigten, noch aufgrund anderweitiger Erkenntnisse kann geschlossen werden, dass der Kläger als Kleinkind - ohne bekannte bzw. dargelegte Vorerkrankungen - aufgrund der Verbreitung des Corona-Virus (auch) in Äthiopien bei einer Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Gesundheitsschäden ausgeliefert wäre. Bei Zugrundelegung der gegenwärtigen Erkenntnisse über die Verbreitung des Corona-Virus in Äthiopien und des damit bestehenden Ansteckungsrisikos besteht schon keine beachtliche Wahrscheinlichkeit eines schweren oder tödlichen Verlaufs der Erkrankung für die Personengruppe, der der Kläger angehört, geschweige denn eine Extremgefahr im vorstehenden Sinn. Äthiopien ist eine der am wenigsten betroffenen Nationen im Osten Afrikas (Horn von Afrika) im Vergleich zur Rate des COVID-19-Fallwachstums und der Infektionen der Nachbarländer (vgl. www.africanews.com/2020/06/20/ethiopia-coronavirus-covid19-hub-updates/). Nach den bisherigen Erkenntnissen zu Covid-19 kommt es zudem bei der weit überwiegenden Anzahl der Erkrankten zu einem milden bis moderaten Verlauf, der größtenteils nicht einmal eine medizinische Versorgung erfordert. Nur eine äußerst geringe Anzahl der Erkrankten gerät in einen kritischen Zustand. Das größte Risiko für einen schweren Verlauf besteht bei Personen im Alter von über 60 Jahren und bei Personen mit Vorerkrankungen (vgl. hierzu ausführlich VG Würzburg, GB.v. 24.3.2020 - 10 K 19.50254 - juris).

Daneben gibt es keine belastbaren Hinweise darauf, dass die Versorgungslage in Äthiopien - auch unter Berücksichtigung gewisser Einschränkungen und Verschärfungen durch die Corona-Pandemie und die Heuschreckenplage - gegenwärtig derart desolat wäre, dass der Klägerin dort der Hungertod oder schwerste Gesundheitsschäden in Folge von Mangelernährung drohten (vgl. hierzu DW, Wie Ostafrika eine Heuschreckenplage bekämpft - inmitten einer Pandemie; Aus Politik und Zeitgeschichte: Am Ende kann nur Gott uns helfen. Das Coronavirus in Äthiopien). Auch aus den in der mündlichen Verhandlung eingeführten Quellen (vgl. hierzu insbesondere auch WFP EAST AFRICA - Update on the Desert Locust Outbreak) ergibt sich eine solche Zuspitzung der Situation in Äthiopien im aktuellen Zeitpunkt nicht. Im Rahmen der vom Gericht zu treffenden Prognoseentscheidung ist davon auszugehen, dass die Eltern des Klägers in Äthiopien das absolute Existenzminimum für sich und ihre Kinder sichern können. Die Eltern des Klägers sind jung, gesund und erwerbsfähig. Sie verfügen für äthiopische Verhältnisse über eine solide Schulbildung und haben einen eigenen Laden in Äthiopien besessen. Es ist nicht ersichtlich, dass die Eltern des Klägers an diese Verhältnisse nicht anknüpfen könnten. Der Vater des Klägers hat zudem beim Onkel in der Mühle gearbeitet, so dass er schon insoweit erleichterten Zugang zu einer Erwerbstätigkeit haben dürfte. Im Übrigen sind sie auf sämtliche Erwerbstätigkeiten - auch auf schlichte Hilfstätigkeiten - zu verweisen. Dem steht entgegen, dass der Kläger mittlerweile zwei Geschwister hat. Familien mit drei Kindern sind für äthiopische Verhältnisse keine Seltenheit, sondern eher der Regelfall. Auch diesen Familien gelingt es, ihre Existenz in Äthiopien zu sichern. Selbst wenn die Mutter des Klägers wegen der Erziehung der Kinder keiner Erwerbstätigkeit nachgehen könnte, ist jedenfalls der Vater des Klägers in der Lage, das notwendige Existenzminimum für die Kernfamilie zu erwirtschaften. [...]

Im Übrigen hat das Bundesamt bereits mit der Zuleitung des streitgegenständlichen Bescheids an den Bevollmächtigten des Klägers auf die Rückkehrhilfen bei freiwilliger Ausreise hingewiesen. Aus dem sog. REAG-/GARP-Programm (vgl. Bl. 51 ff. d.A.) kann u.a. eine Reisebeihilfe i.H.v. 200,00 EUR sowie eine Starthilfe von 1.000,00 EUR in Anspruch genommen werden. Darüber hinaus besteht das Reintegrationsprogramm ERRIN. Die Hilfen aus diesem Programm umfassen Beratung nach der Ankunft, berufliche Qualifizierungsmaßnahmen, Hilfe bei der Arbeitsplatzsuche, Unterstützung bei einer Existenzgründung, Grundausstattung für die Wohnung sowie die Beratung und Begleitung zu behördlichen, medizinischen und caritativen Einrichtungen. Die Unterstützung wird als Sachleistung gewährt. Der Leistungsrahmen für rückkehrende Einzelpersonen beträgt dabei bis zu 2.000,00 EUR und im Familienverbund bis zu 4.000,00 EUR (vgl. www.returningfromgermany.de/de/programmes/erin).

Es liegt auf der Hand, dass die genannten Rückkehrhilfen und Leistungen aus dem Reintegrationsprogramm gerade in der Anfangszeit nach der Rückkehr und vor dem Hintergrund der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie mit dazu beitragen, dass der Kläger mit seiner Familie in Äthiopien wiederum Fuß fassen werden. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass sich der Kläger nicht darauf berufen kann, dass die genannten Start- und Reintegrationshilfen ganz oder teilweise nur für freiwillige Rückkehrer gewährt werden, also teilweise nicht bei einer zwangsweisen Rückführung. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten - wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr - im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht vom Bundesamt die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 - 9 C 38.96). Dementsprechend ist es dem Kläger möglich und zumutbar, gerade zur Überbrückung der ersten Zeit nach einer Rückkehr nach Äthiopien freiwillig Zurückkehrenden gewährte Reisehilfen sowie Reintegrationsleistungen in Anspruch zu nehmen (vgl. hierzu auch VG Bayreuth, U.v. 25.6.2020 - B 7 K 19.30636). [...]