VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 27.05.2020 - A 8 KL 5607/17 - asyl.net: M29452
https://www.asyl.net/rsdb/M29452
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung hinsichtlich Afghanistan für alleinerziehende Mutter und ihre Tochter wegen "Verwestlichung":

1. Liegt eine identitätsstiftende Prägung durch einen "westlichen Lebensstil" vor, so handelt es sich um ein unveränderbares Merkmal einer sozialen Gruppe.

2. In Afghanistan herrscht in vielen Landesteilen ein strenger Verhaltenskodex. Sicherheitskräfte sind nicht willens oder in der Lage, individuelle Freiheiten zu verteidigen. Daher sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse oder soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung.

(Leitsätze der Redaktion

Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, westlicher Lebensstil, soziale Gruppe, Flüchtlingsanerkennung, alleinerziehend,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Eine Gruppe gilt als eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne dieser Bestimmungen, wenn a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (EuGH, Urteil vom 07.11.2013 <X u.a.> - C-199/12 u.a. -. Rn. 44 ff.; BVerwG, Beschluss vom 28.08.2019 - 1 B 64.19 -. juris Rn. 9).

Dies ist im vorliegenden Zusammenhang der Fall, wenn der Betroffene auf Sitten und Gebräuche stößt, deren Befolgung im Herkunftsstaat von derart grundlegender Bedeutung ist, dass eine Abkehr von ihnen zu schwerwiegenden Folgen führt, die Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG darstellen, und die Ablehnung dieser Sitten und Gebräuche für eine Person aber identitätsprägend ist (OVG Schl.-Holst., Urteil vom 21.09.2015 - 9 LB 20/14 -, juris Rn. 26; VG Köln, Urteil vom 21.03.2018 - 14 K 11105/16 -, juris Rn. 41). Der Umstand, dass eine Person aus dem westlichen Ausland zurückkehrt, ist demnach nicht geeignet, die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe zu begründen, weil mit dieser Eigenschaft nicht notwendig und generell unveränderbare Merkmale verbunden sind (siehe UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Afghans perceived as "Westernized", Januar 2018, Abschn. 5.2.1). Liegt hingegen eine identitätsstiftende Prägung vor, die ihre Preisgabe zugunsten einer Anpassung an die lokalen Normen nicht mehr zumutbar erscheinen lässt, handelt es sich um ein solchermaßen unveränderbares Merkmal.

In Afghanistan herrscht in vielen Landesteilen ein ausgeprägter traditioneller Verhaltenskodex. Die Zivilgesellschaft, d.h. (Groß-)Familien, Stämme, lokale Strukturen etc. spielen bei der Durchsetzung von (gesellschaftlichen) Normen eine weitaus größere Rolle als staatliche Strukturen. Daraus resultiert eine gleichsam uneingeschränkte Beobachtung des Einzelnen. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung. Dies gilt insbesondere, aber nicht nur, für Mädchen und Frauen (vgl. nur österr. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, 13.11.2019, insb. 277 ff., 297 ff., 35 ff.; EASO, Informationsblatt über das Herkunftsland Afghanistan - Gezielte Gewalt gegen Individuen aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Normen, Dezember 2017, insb. 103 ff.; UNHCR, Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan, 30.08.2018, 46 f.; UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Afghans perceived as "Westernized", Januar 2018, 9 ff.; Asylos, Afghanistan: Situation of young male 'Westernised' refugees to Kabul, August 2017, insb. 32 ff.; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage von Personen mit Tätowierungen (<insbesondere christlichen Symbolen>; Lage von Personen, die einen westlichen Lebensstil führen bzw. westliche Lokalen oder Geschäfte betreiben <u.a. auch von Künstlern, Musikern oder Personen in binationalen Beziehungen>, 08.02.2017). In der Provinz Herat, aus der die Kläger stammen, herrscht ein besonders ausgeprägt traditioneller Verhaltenskodex (OVG Schl.-Holst., Urteil vom 21.09.2015 - 9 LB 20/14 -, juris Rn. 47).

Aus den dem Gericht vorliegenden Quellen ergibt sich, dass Afghanen, die als "westlich" wahrgenommen werden, von der afghanischen Mehrheitsbevölkerung mit erheblichem Misstrauen betrachtet werden. Das Risiko, Angriffen wegen einer tatsächlichen oder angenommenen abweichenden Verhaltensweise ausgesetzt zu sein, hängt erheblich von der Fähigkeit des Einzelnen, sich zurückzunehmen und sich in der erwarteten Weise zu verhalten. Ein Aufenthalt in Europa weckt bei nicht nur unerheblichen Teilen der afghanischen Gesellschaft moralische und religiöse Zweifel, die durch eine von ihnen gemutmaßte Anpassung an die europäische Alltagskultur genährt werden, so dass die Annahme eines Glaubensabfalls nahe liegt. Zwar sind nur Einzelfälle von gewalttätigen Übergriffen gegen Rückkehrer bekannt. Am Vorliegen einer beachtlichen Gefahr ändert dies jedoch nichts. Denn in den Fällen, in denen das Risiko des Übergriffs wegen eines zugeschriebenen Glaubensabfalls durch ein klar nach außen tretendes Merkmal - wie etwa Körperschmuck oder offen getragene Haare - erhöht werden könnte, ist zu berücksichtigten, dass angesichts der möglichen schwerwiegenden Folgen solcher Übergriffe die meisten Rückkehrer es naturgemäß zu vermeiden suchen, solche Merkmale nach außen zu tragen, was flüchtlingsrechtlich aber im Einzelfall für die Gefahrenprognose sowohl beachtlich als auch unbeachtlich sein kann. Es ist mit anderen Worten auch der Vorsicht und der Anpassung der zurückkehrenden Personen, die eigentlich ein anderes Auftreten in der Öffentlichkeit bevorzugten, geschuldet, dass die Anzahl der Übergriffe gering bleibt (so, mit weiteren Nachweisen, VG Karlsruhe, Urteil vom 26.09.2019 - A 19 K 3124/17 -, juris Rn. 41).

In der afghanischen Gesellschaft ist in allen Lebensbereichen Gewalt gegenüber Frauen tief verwurzelt. So wird die Gewalt gegen Frauen als eine der größten Herausforderungen im Bereich der Menschenrechte in Afghanistan beschrieben. Es wird geschätzt, dass 87 % der Frauen Gewalt erfahren. Die Verbesserung der Lage der Frauen und Mädchen hält sich insgesamt sehr in Grenzen. Der begrenzte Zugang zum Bildungs- und Gesundheitswesen, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, ungleiche Teilhabe an der Regierung, Zwangsverheiratung, Gewalt, sexuelle Belästigung und tief verwurzelte Diskriminierung von Frauen, erschweren nach wie vor das Leben der Frauen und Mädchen in Afghanistan, wobei Gewaltakte gegen Frauen sehr oft straflos bleiben. Frauen sind nach wie vor weit verbreiteter gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt. Frauen, die vermeintlich soziale Normen und Sitten verletzten, werden weiterhin gesellschaftlich stigmatisiert und allgemein diskriminiert. Zu diesen Normen gehören strenge Kleidervorschriften sowie Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen durch die Forderung, dass eine Frau nur in Begleitung einer männlichen Begleitperson in der Öffentlichkeit erscheinen darf. Frauen, ohne Unterstützung durch Männer sind besonders gefährdet. Angesichts der gesellschaftlichen Normen, die allein lebenden Frauen Beschränkungen auferlegen, sind sie kaum in der Lage zu überleben. Bestrafungen aufgrund von Verletzungen des afghanischen Gewohnheitsrechts oder der Scharia treffen Berichten zufolge in überproportionaler Weise Frauen und Mädchen, etwa Inhaftierung aufgrund von "Verstößen gegen die Sittlichkeit" wie beispielsweise dem Erscheinen ohne angemessene Begleitung, Ablehnung einer Heirat und "Weglaufen von zu Hause" (einschließlich in Situationen von häuslicher Gewalt). Die Beteiligung von Frauen am öffentlichen Leben wird oftmals als Überschreitung gesellschaftlicher Normen wahrgenommen und als "unmoralisch" verurteilt. Diese Frauen werden bedroht, eingeschüchtert, schikaniert oder Opfer von Gewaltakten, einschließlich Mord. Hintergrund gezielter Gewalt durch regierungsfeindliche Gruppen ist häufig die soziale Ablehnung von Frauen in Rollen außerhalb der traditionellen Normen. Deshalb ist davon auszugehen, dass je nach den individuellen Umständen des Einzelfalls bei Frauen, die nach der öffentlichen Wahrnehmung gegen die sozialen Sitten verstoßen, ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz besteht.

Ob eine Anpassung an die Lebensverhältnisse im Herkunftsland bzw. die Folgen einer unterbleibenden Anpassung die Voraussetzungen der Flüchtlingsanerkennung begründen können, lässt sich nicht allgemeingültig beantwortet. Erforderlich ist vielmehr eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls. Relevant sind insbesondere das Ausmaß der persönlichen Prägung des Betroffenen durch die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland, die Möglichkeiten des Betroffenen, sich den Verhältnissen in seinem Herkunftsland anzupassen, sowie die Folgen im Herkunftsland für den Fall, dass eine solche Anpassung unterbleibt (vgl. OVG Schl.-Holst., Urteil vom 21.09.2015 - 9 LB 20/14 -, juris Rn. 39; VG Karlsruhe, Urteil vom 26.09.2019 - A 19 K 3124/17 -. juris Rn. 4 ; VG Köln, Urteil vom 21.03.2018 - 14 K 11105/16.A -, juris Rn. 31).

Afghanen, deren Persönlichkeit im westlichen Ausland entscheidend, d.h. identitätsstiftend geprägt worden ist, so dass eine Anpassung an die in Afghanistan herrschenden gesellschaftlichen Lebensverhältnisse nur unter Beugung ihrer so geprägten Persönlichkeit gelingen könnte, droht dort daher flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung (OVG Schl.-Holst., Urteil vom 21.09.2015 - 9 LB 20/14 -; VG Braunschweig, Urteil vom 07.03.2019 - 1 A 928/17 -, juris; VG Köln, Urteil vom 21. März 2018 - 14 K 11105/16.A -, Rn. 80 ff.; VG München, Urteil vom 25.11.2015 - M 9 K 14.31001 -, juris Rn. 19).

Verschärft wird der dargestellte gesellschaftliche Anpassungsdruck dadurch, dass Verhalten, welches von gesellschaftlichen Normen abweicht, von konservativen oder radikal-religiösen Kräften schnell mit Glaubensfragen dergestalt in Verbindung gebracht wird, dass diesen Personen ein Abfall vom islamischen Glauben (Apostasie) vorgeworfen wird, der jedenfalls durch gesellschaftliche Kräfte mit dem Tod "bestraft" werden kann (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtliche Lage in der Islamischen Republik Afghanistan <Stand: Juli 2019>, 02.09.2019). Ist dies der Fall, kann auch eine Verfolgung aus religiösen Gründen i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V m. § 3 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vorliegen (VG Karlsruhe, Urteil vom 26.09.2019 - A 19 K 3124/17 -, juris Rn. 26 ff.).

3. Nach diesem Maßstab kann es den Klägerinnen nicht zugemutet werden, sich den in Afghanistan herrschenden Zwängen zu unterwerfen. Nach der Anhörung durch das Gericht besteht kein Zweifel daran, dass die unter dem Grundgesetz herrschende persönliche Freiheit beide Klägerinnen im Kern ihrer Persönlichkeiten identitätsstiftend prägt.

Die Klägerin zu 2 ist sowohl äußerlich als auch in ihrem Verhalten und insbesondere in ihrer Sprache und Ausdrucksweise von einem in Deutschland geborenen Mädchen nicht zu unterscheiden. In perfektem Deutsch und vollständig akzentfrei schilderte sie in der mündlichen Verhandlung ihr bisheriges Leben im Bundesgebiet. Es handelt sich um ein selbstbewusstes Mädchen, das klare Vorstellungen davon hat, wie sie leben möchte und was richtig und was falsch ist. Die Klägerin zu 2 hat Vorstellungen von persönlicher Freiheit nicht nur übernommen. Diese Wertmaßstäbe sind vielmehr Teil ihrer Persönlichkeit, wie dies für jeden Menschen gilt, der in dem in der Bundesrepublik herrschenden Wertesystem aufwächst und in dieses integriert ist. Es ist am Maßstab der unter den Grundrechten des Grundgesetzes herrschenden grundlegenden Wertentscheidungen schlechterdings unvorstellbar, die Klägerin zu 2 den in Afghanistan herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen auszusetzen. Die Einhaltung der dortigen und, nach verbreiteter Auffassung, religiösen Normen kann von der Klägerin zu 2 nicht erwartet werden. Ihr droht daher die oben beschriebene Behandlung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

Die Klägerin zu 1 ist zur Überzeugung des Gerichts von diesen Wertvorstellungen geprägt. Dies dürfte bereits der Fall gewesen sein, als sie im Iran und in Afghanistan gelebt hat. Ihre glaubhaften Schilderungen der beiden Ehen und ihrer Versuche, Unterstützung durch staatliche Stellen zu erhalten, belegen einen tief verwurzelten Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung. Erst recht belegt wird dies dadurch, dass die Klägerin zu 1 gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter ohne Ehemann die Strapazen und Gefahren einer Reise auf sich genommen hat, was ohne entsprechenden überragenden Antrieb kaum erklärbar ist. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin zu 1 diesen Eindruck bestätigt. Nicht nur ihr äußerliches Erscheinungsbild, sondern auch ihre deutlich gewordene innere Einstellung zeigen, dass die Klägerin zu 1 nicht in der Lage wäre, sich dem in Afghanistan herrschenden Frauenbildung, d.h. Fremdbestimmung, Zwang und Gewalt, auszusetzen, ohne daran zu zerbrechen. [...]