BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 06.03.2003 - 2 BvR 397/02 - asyl.net: M3339
https://www.asyl.net/rsdb/M3339
Leitsatz:

Kein strafbarer illegaler Aufenthalt bei Anspruch auf Duldung.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Straftat, Duldung, Anspruch, unerlaubter Aufenthalt, Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Syrer, Passlosigkeit, Passpflicht, Gleichheitsgrundsatz, Willkür, Willkürverbot, Verschulden, Ausländerbehörde, Mitwirkungspflichten,
Normen: AuslG § 92 Abs. 1 Nr.1; AuslG § 55; GG Art. 3 Abs. 1
Auszüge:

 

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, unter welchen Voraussetzungen sich ein Ausländer, der sich ohne Aufenthaltsgenehmigung im Bundesgebiet aufhält und keine Duldung nach § 55 Abs. 1 AuslG besitzt, nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG strafbar macht, wenn tatsächliche Gründe seiner Ausreise entgegenstehen.

Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot.

2. Gemessen an diesem Maßstab halten die angegriffenen Entscheidungen einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht Stand. Das Bayerische Oberste Landesgericht hat die Verurteilung des Beschwerdeführers damit begründet, es sei ihm möglich gewesen, Identitätsnachweise zur Erlangung der Einreisepapiere nach Syrien zu erlangen und damit auszureisen; im Übrigen sei er vom Vorwurf der unterlassenen Ausreise deshalb nicht entlastet, weil er mit einem gefälschten Paß eingereist sei, seine eigenen Personalpapiere in der Heimat zurückgelassen und deshalb die faktische Unmöglichkeit seiner Ausreise selbst herbeigeführt habe. Für diese Begründung des strafbaren Verhaltens des Beschwerdeführers durch das Bayerische Oberste Landesgericht war notwendige Voraussetzung, dass es für die Verwirklichung des objektiven Tatbestands des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG nicht darauf ankomme, ob ein Anspruch auf Duldung bestehe oder nicht.

a) Diese Annahme des Bayerischen Obersten Landesgerichts ist von Verfassungs wegen nicht mehr hinnehmbar und deshalb willkürlich.

Das Bayerische Oberste Landesgericht kann sich mit seiner Ansicht zwar auf den Wortlaut des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG stützen, der allein darauf abstellt, ob sich der Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AuslG und ohne Duldung nach § 55 AuslG in der Bundesrepublik aufhält. Es hat tatbestandliches Unrecht vom Gesetzeswortlaut her auch für gegeben erachtet, wenn eine förmliche Duldung nicht vorlag, aber hätte erteilt werden müssen. Auch kann sich das Bayerische Oberste Landesgericht auf eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt berufen, die im Anschluss an die von dem Beschwerdeführer für seine Ansicht angeführte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 111, 62 ff.) getroffen worden ist und gleichwohl an der Annahme einer Strafbarkeit nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG festgehalten hat (vgl. NStZ-RR 2001, S. 57; ebenso KG, NStZ-RR 2002, S. 220). Die Ansicht des Bayerischen Obersten Landesgerichts ist jedoch - vor allem mit Blick auf das durch die Anwendung von Strafrechtsnormen berührte Freiheitsrecht des betroffenen Ausländers und den verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatz, die hier auf die Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG einwirken - nicht mehr verständlich; sie bildet den Ausgangspunkt für eine Entscheidung, die nicht nur eine der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts widersprechende willkürliche Verwaltungspraxis sanktioniert, sondern es darüber hinaus dem freien Ermessen der Ausländerbehörden überlässt, ob und in welchem Umfang ein Ausländer sich strafbar macht.

Es entspricht der gesetzgeberischen Konzeption des Ausländergesetzes, einen vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen entweder unverzüglich abzuschieben oder ihn nach § 55 Abs. 2 AuslG zu dulden. Dabei hat die Ausländerbehörde zu prüfen, ob und gegebenenfalls wann eine Abschiebung des Ausländers durchgeführt und zu welchem Zeitpunkt ein eventuelles Abschiebungshindernis behoben werden kann. Schon dann, wenn sich herausstellt, dass die Abschiebung nicht ohne Verzögerung geführt werden kann oder der Zeitpunkt der Abschiebung ungewiss bleibt, ist - unabhängig von einem Antrag des Ausländers - als "gesetzlich vorgeschriebene förmliche Reaktion auf ein Vollstreckungshindernis" eine Duldung zu erteilen (vgl. BVerwGE 105, 232 235 f., 238>). Damit verträgt es sich entgegen der Ansicht des Bayerischen Staatsministeriums des Innern nicht, der Ausländerbehörde unter Bezugnahme auf § 57 Abs. 3 AuslG regelmäßig sechs Monate Zeit zu geben, um die Voraussetzungen für eine Abschiebung zu schaffen. Die Systematik des Ausländergesetzes lässt - wie das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich festhält - grundsätzlich keinen Raum für einen derartig ungeregelten Aufenthalt (vgl. BVerwGE 105, 232 236>), der den Zeitpunkt der Duldungserteilung - wie der zu Grunde liegende Fall zeigt, in dem die Ausländerbehörden den Sechs-Monats-Zeitraum sogar überschritten und eine Duldung erst nach fast neun Monaten erteilt haben - ins Belieben der Behörden stellt.

Da der Ausländer auch zu dulden ist, wenn er die Entstehung des Hindernisses (z.B. durch Mitführen gefälschter Papiere bei der Einreise) oder dessen nicht rechtzeitige Beseitigung (etwa durch unterlassene Mitwirkung bei der Beschaffung notwendiger Identitätspapiere) zu vertreten hat (vgl. BVerwGE 111, 62 64 f.>), ist keine Konstellation vorstellbar, in der der Ausländer nicht einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung hätte. Ist als Folge des tatsächlichen bzw. rechtlichen Hindernisses die Duldung aber erteilt, scheidet eine Strafbarkeit nach § 92 Abs. 2 Nr. 1 AuslG mangels einer der gesetzlichen Voraussetzungen aus. Zugleich steht mit der Erteilung einer Duldung - auch wenn sie förmlich nicht rückwirkend gewährt wird - regelmäßig fest, dass der Abschiebung des Ausländers von Anfang seiner Ausreisepflicht an ein tatsächliches oder rechtliches Hindernis entgegengestanden hat.

Kommt die Behörde ihrer nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bestehenden Verpflichtung zur Erteilung der Duldung nicht oder zu spät nach, so wäre womöglich eine Strafbarkeit nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG anzunehmen. Legten die Strafgerichte dieses Verwaltungshandeln ihrer Entscheidung ungeprüft so zu Grunde, bedeutete dies nicht nur die Hinnahme einer gesetzeswidrigen Praxis der Ausländerbehörden, sondern führte zusätzlich dazu, über die mögliche Strafbarkeit des Ausländers und deren Umfang entgegen den Grundsätzen des im Strafrecht geltenden Schuldprinzips letztlich die jeweilige Ausländerbehörde entscheiden zu lassen.

Die Strafgerichte dürfen sich deshalb nicht mit der Feststellung begnügen, der Ausländer sei nicht im Besitz einer Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslG. Die Duldung ist eine gesetzlich zwingende Reaktion auf ein vom Verschulden des Ausländers unabhängiges Abschiebungshindernis. Insofern dient § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG nicht der Strafbewehrung eines Verwaltungsakts und bindet den Strafrichter nicht an die unterlassene oder verspätet getroffene Entscheidung einer Verwaltungsbehörde (vgl. BVerfGE 80, 244 256>).

Die Strafgerichte sind vielmehr von Verfassungs wegen gehalten, selbstständig zu prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer ausländerrechtlichen Duldung im Tatzeitraum gegeben waren. Kommen sie zu der Überzeugung, die Voraussetzungen hätten vorgelegen, scheidet eine Strafbarkeit des Ausländers nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG aus.

Für die Überzeugungsbildung ist es von besonderer Bedeutung, wenn die Ausländerbehörde selbst - wenn auch verzögert und für einen späteren Zeitpunkt - eine Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslG erteilt hat. Fehlen - wie im vorliegenden Fall - jegliche Anhaltspunkte dafür, dass die der Duldungserteilung zu Grunde liegende tatsächliche Situation von derjenigen des Tatzeitraums abweicht, wird ohne Weiteres auch davon auszugehen sein, dass eine Duldung schon in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dem Beginn der Ausreisepflicht des Ausländers hätte erteilt werden müssen.

Unterbleibt die von Verfassungs wegen gebotene Prüfung, weil die Gerichte wie im zu Grunde liegenden Fall der Ansicht sind, hierzu angesichts des Wortlauts des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG nicht verpflichtet zu sein, liegt dem eine nicht vertretbare Rechtsansicht zu Grunde.