Weibliche Genitalverstümmelung ist in Nigeria politische Verfolgung.(Leitsatz der Redaktion)
Die Klägerin hat nach der gem. § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 51 Abs. 1 AuslG.
Die Klägerin hat glaubhaft gemacht, dass ihr bei Rückkehr nach Nigeria eine zwangsweise Genitalverstümmelung droht.
In der mündlichen Verhandlung am 4. August 2003 hat sie detailreich und schlüssig zu ihrer Verfolgungsgeschichte und den daraus resultierenden Befürchtungen für eine Rückkehr Stellung genommen. Sie hat insbesondere für das Gericht nachvollziehbar dargelegt, warum sie bislang einer Genitalverstümmelung entgehen konnte. In ihrem Falle ist es den verschiedenen Beschneidungssitten der Volksgruppen entsprechend, (vgl. hierzu: Auswärtiges Amt (AA), Auskunft an die erkennende Kammer vom 27. Dezember 2002; Institut für Afrika-Kunde (IAK), Auskunft an die erkennende Kammer vom 21. August 2003) zu keiner Beschneidung gekommen, weil sie das "Glück" hatte, Kind eines gemischt ethnischen Elternpaares zu sein, wobei der Vater als Familienoberhaupt die Entscheidung getroffen hatte, dass die Beschneidung - den Gebräuchen seiner Volksgruppe Urobo folgend - erst im Zusammenhang mit der Heirat erfolgen solle.
Ebenso nachvollziehbar hat die Klägerin erklärt, warum in ihrem Falle auch im Zusammenhang mit der Hochzeit keine Beschneidung erfolgt ist.
Der die Genitalverstümmelung betreffende Vortrag der Klägerin lässt sich im Übrigen ohne Weiteres in Einklang mit den dem Gericht zur Lage in Nigeria vorliegenden Erkenntnissen bringen. In Nigeria herrscht eine weit verbreitete, weder religiös noch sozial eingrenzbare Praxis der Genitalverstümmelung, von der mindestens 50 bis 60 % der Frauen betroffen sind. Zumeist wird die "leichteste" Form der Beschneidung (sunna), zuweilen aber auch die weitergehende Form der "Exzision" zur Anwendung gebracht. Das Beschneidungsalter variiert von kurz nach der Geburt bis zum Erwachsenenalter. Beschneidungen werden (oftmals) ohne Zustimmung der Betroffenen und auch ohne Einwilligung der Eltern vorgenommen. Als Gründe für die Beschneidung dienen die Sicherung der Fruchtbarkeit der Frau, die Kontrolle der weiblichen Sexualität sowie der Schutz vor Promiskuität. Angesichts der Tatsache, dass nur eine beschnittene Frau als "heiratsfähig" angesehen wird, besteht ein erheblicher Druck sowohl auf die Betroffenen als auch ihre Eltern, die Beschneidung durchführen zu lassen (vgl. AA, Lageberichte Nigeria vom 20. April 1999, 14. Juni 2000, 11. März 2001, 24. Oktober 2001 und 10. Februar 2003, Auskünfte an das VG Koblenz vom 11. März 1999, an die erkennende Kammer vom 27. Dezember 2002 und an das VG Düsseldorf vom 28. April 2003; amnesty international (ai), Auskünfte an das VG Koblenz vom 16. März 1999 und an die erkennende Kammer vom 6. August 2002; IAK, Auskünfte an das VG Koblenz vom 4. Dezember 1998, an die erkennende Kammer vom 21. August 2002 und an das VG Düsseldorf vom 28. März 2003).
Die zwangsweise Genitalverstümmelung stellt eine politische Verfolgung dar. Sie knüpft an die Überzeugung der betroffenen Frau an, das Recht zu haben, ein körperlich unversehrtes Leben als Frau zu führen und die traditionelle Beschneidung zu verweigern. Diese Überzeugung ist eine politische, da sie im Zusammenhang mit dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern einerseits sowie der gesellschaftlichen Stellung der Frau und ihrem Selbstbestimmungsrecht andererseits steht.
Dass ein großer Teil der weiblichen nigerianischen Bevölkerung hiervon betroffen ist, hindert nicht die Annahme einer Verfolgung. Zur Verfolgungsmaßnahme wird die Genitalverstümmelung dadurch, dass sie zwangsweise erfolgt (vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90 -, BVerwGE 89, 162 ff.).
Als solche knüpft sie nicht an das Geschlecht per se an, sondern sie richtet sich gegen die sich weigernden Mädchen und Frauen, nicht aber gegen diejenigen, die die Beschneidung als Tradition akzeptieren. Der Bewertung der zwangsweisen Genitalverstümmelung als politischer Verfolgung steht darüber hinaus nicht entgegen, dass sie die Betroffenen ihrer Intention nach gerade nicht aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen will, weil sie gerade den Zweck einer Integration des betroffenen Mädchens oder der betroffenen Frau in die Gesellschaft als vollwertiges Mitglied verfolgt (vgl. so aber: VG Frankfurt, Urteil vom 29. März 1999 - 9 E 30919/97.A -, InfAuslR 1999, 300).
Diese Argumentation übersieht, dass die Zwangsbeschneidung gerade darauf gerichtet ist, die sich weigernden Betroffenen in ihrer politischen Überzeugung zu treffen. Sie sollen den Traditionen unterworfen und unter Missachtung ihres Selbstbestimmungsrechtes zu verstümmelten Objekten gemacht werden (vgl. hierzu: VG München, Urteil vom 17. Januar 2001 - M 21 K 98.52243 -, VG Freiburg, Urteil vom 5. Februar 2001 - A 2 K 10475/00 -).
Dass die Zwangsverstümmelung der Genitalien eine Rechtsverletzung von asylerheblicher Intensität ist, bedarf schließlich keiner näheren Begründung.
Auch wenn die Genitalverstümmelung in Nigeria nicht unmittelbar von staatlichen Organen, sondern von Dritten vorgenommen wird, ist sie derzeit noch dem Staat als mittelbare politische Verfolgung zuzurechnen.
Zwar missbilligt der nigerianische Staat die Zwangsbeschneidung, die im Gesamtstaat im Rahmen der allgemeinen Körperverletzungsdelikte unter Strafe gestellt ist. Ein eigenständiger Straftatbestand befindet sich dagegen bereits seit längerem erst im Gesetzgebungsverfahren. Lediglich einige nigerianische Bundesstaaten - so auch der Herkunftsstaat der Klägerin, Edo - haben die Genitalverstümmelung in einem eigenständigen Straftatbestand geregelt.
Insoweit fehlt es aber an jeglichen Anhaltspunkten dafür, dass es im Zusammenhang mit Genitalverstümmelungen zu Strafverfahren gekommen ist oder aber dass die Behörden auf entsprechende Hinweise reagierten. Zwar unterstützt der nigerianische Staat Aufklärungskampagnen gegen die Beschneidungspraxis. Diese haben jedoch ausweislich der Auskunft von ai an das erkennende Gericht wegen geringer finanzieller Ausstattung keine große Reichweite und finden ihre Grenzen oftmals an der fehlenden Einsicht örtlicher Behörden
(vgl. AA, Auskünfte an das VG Koblenz vom 11. März 1999, an die erkennende Kammer vom 27. Dezember 2002 und an das VG Düsseldorf vom 28. April 2003, Lageberichte vom 20. April 1999, 14. Juni 2000, 11. März 2001, 24. Oktober 2001 und vom 10. Februar 2003; ai, Auskünfte an das VG Koblenz vom 16. März 1999 und an die erkennende Kammer vom 6. August 2002; IAK, Auskünfte an das VG Koblenz vom 4. Dezember 1998, an die erkennende Kammer vom 21. August 2002 und an das VG Düsseldorf vom 28. März 2003; Erkenntnisse des Bundesamtes zu Nigeria, Juli 2001).
In Würdigung dieser Auskünfte und unter Berücksichtigung der innenpolitischen Schwierigkeiten in Nigeria ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass der nigerianische Staat derzeit nicht wirksam gegen die Zwangsbeschneidung vorgehen kann bzw. will.
Aus obigen Ausführungen folgt, dass der Klägerin bei Rückkehr nach Nigeria eine
Genitalbeschneidung auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen wird.
Der Klägerin steht in Nigeria schließlich keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung.