OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 07.10.2004 - 11 ME 289/04 - asyl.net: M5817
https://www.asyl.net/rsdb/M5817
Leitsatz:

1. Zu den veränderten Umständen iSd § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO gehört auch eine sich nachträglich ergebende höchstrichterliche Rechtsprechung, die sich entscheidungserheblich auswirken könnte (hier: Urteil des BVerwG v. 3. 8. 2004 - 1 C 29.02 - mit neuen Maßstäben für die Ausweisung von assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen).

2. Eine Ausländerbehörde ist während des laufenden Widerspruchsverfahrens befugt, die Rechtsgrundlage für eine Ausweisungsverfügung auszuwechseln und erstmals Ermessenserwägungen anzustellen.

3. Zu den rechtlichen Anforderungen an die Begründung einer Ermessensausweisung.(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Türken, Ausweisung, Sofortvollzug, Straftäter, Drogendelikte, Freiheitsstrafe, Regelausweisung, Änderung der Rechtsprechung, Assoziationsberechtigte, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Ermessensausweisung, Ermessen, Widerspruchsverfahren, Nachholung, Nachschieben von Gründen, Schutz von Ehe und Familie, Wiederholungsgefahr, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Abänderungsantrag
Normen: VwGO § 80 Abs. 7; AuslG § 47 Abs. 1 Nr. 2; AuslG § 47 Abs. 3 S. 1; AuslG § 48 Abs. 1 S. 1; Nr. 4; ARB Nr. 1/80 Art. 7 S. 1; ARB 1 /80 Art. 6 Abs. 1; AuslG § 45 Abs. 2; GG Art. 6
Auszüge:

Gegen die Zulässigkeit des Antrags nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO bestehen keine Bedenken. Danach kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung eines nach § 80 Abs. 5 VwGO ergangenen Beschlusses wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Es ist allgemein anerkannt, dass zu solchen Umständen auch eine sich nachträglich ergebende Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung oder die Klärung einer umstrittenen Rechtsfrage gehören, falls sich dies auf die Beurteilung der Erfolgsaussichten der Hauptsacheentscheidung auswirkt (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl., § 80, 197 m. N.). Das könnte hier der Fall sein. Das BVerwG hat nämlich die Grundsätze, die nach dem Urteil des EuGH vom 29. April 2004 (a. a. O.) nunmehr für die Ausweisung von freizügigkeitsberechtigten EU-Bürgern gelten, weitgehend auch auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige übertragen (vgl. dazu die Pressemitteilung des BVerwG Nr. 48/2004 v. 3. 8. 2004 in der Sache 1 C 29.02). Des weiteren hat es dem EuGH durch Beschlüsse vom 3.8.2004 -1 C 26.02 - und - 1 C 27.02 - Fragen zur Vorabentscheidung nach Art. 234 des EG-Vertrages vorgelegt, die sich auf den Erwerb und Verlust des privilegierten Status von Kindern türkischer Arbeitnehmer nach Art. 7 ARB.1/80 beziehen. Nach dieser neuen Rechtsprechung dürfen - so die zitierte Pressemitteilung des BVerwG - zwingende Ausweisungen und Regelausweisungen, wie sie § 47 AuslG bei schweren Straftaten vorsieht, auch gegen Türken, die sich auf Assoziationsrecht berufen können, nicht mehr verfügt werden.

Vielmehr ist dann eine Ausweisung nur nach einer individuellen Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde zulässig. Außerdem müssen die Ausländerbehörden und Gerichte künftig neue Tatsachen, die nach der Ausweisungsverfügung entstanden sind, berücksichtigen. Voraussetzung ist allerdings, dass der betreffende türkische Staatsangehörige ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzt. Hat aber der Antragsteller als Kind türkischer Arbeitnehmer ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht erworben und ist dieses auch nicht aufgrund seiner Arbeitslosigkeit und Strafhaft wieder verloren gegangen, wäre die gegen ihn verfügte Regelausweisung rechtswidrig. Allerdings ist der Antragsgegner während des laufenden Widerspruchsverfahrens befugt, die Rechtsgrundlage für die Ausweisung des Antragstellers auszuwechseln und die erforderlichen Ermessenserwägungen nachzuholen. Das BVerwG hat sogar in der zitierten Pressemitteilung darauf hingewiesen, dass angesichts der neuen Rechtsprechung zur Ausweisung von assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen die Gerichte den Ausländerbehörden in allen bei ihnen anhängigen Verfahren dieser Art auch Gelegenheit geben müssen, erstmals Ermessenserwägungen anzustellen. Dies dürfte sich daraus rechtfertigen, dass nach der geänderten Rechtsprechung des BVerwG nunmehr neue Tatsachen, die nach der Ausweisungsverfügung entstanden sind, von Ausländerbehörden und Gerichten zu berücksichtigen sind. Der Antragsgegner hat zwar in Kenntnis der neuen Rechtsprechung des BVerwG ergänzende Erwägungen angestellt, doch genügen diese nicht den Anforderungen, die in der Rechtsprechung des BVerwG an die Begründung einer Ermessensausweisung gestellt werden (vgl. dazu etwa Urt. v. 16. 11. 1999, DVBI. 2000, 425 = NVwZ-RR 2000, 320 = AuAS 2000, 98; Urt. v. 24. 9. 1996, BVerwGE 102,63 = DVBI. 1997, 189 = InfAuslR 1997, 63; Urt. v. 11.6.1996, BVerwGE 101, 247 = DVBI. 1997, 170 = InfAuslR 1997, 8). Insbesondere hat er die vom Antragsteller im Schriftsatz vom 27. September 2004 geltend gemachten neuen Umstände, die nach Erlass der angefochtenen Verfügung eingetreten sein sollen, bei der erforderlichen Abwägung aller für und gegen die Ausweisung des Antragstellers sprechenden Gründe nicht hinreichend berücksichtigt.

Nach der Rechtsprechung des BVerwG (a. a. O.) ergeben sich die Anforderungen an die Ermessenausübung aus § 45 Abs. 2 AuslG, den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes sowie aus dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK). Dabei sind nicht nur einzelne Aspekte, sondern alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls in die Beurteilung einzubeziehen.

Diesen Anforderungen an eine sachgerechte Ermessensausübung ist der Antragsgegner bisher nicht gerecht geworden. Auch wenn der Senat der Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass der Antragsgegner Ermessenserwägungen über die Ausweisung des Antragstellers bisher überhaupt nicht angestellt habe, jedenfalls für das Beschwerdeverfahren nicht teilen kann, reichen die nachgeschobenen Gründe derzeit aber nicht aus, eine Ermessensausweisung zu rechtfertigen. Die Erwägungen des Antragsgegners nehmen nicht alle für die Ausübung des Ermessens maßgeblichen Umstände in den Blick. Insbesondere ist er nicht näher auf die vom Antragsteller im Schriftsatz vom 27. September 2004 geltend gemachte Entwicklung seit dem Erlass der angefochtenen Verfügung eingegangen. Der Antragsteller hat sich darauf berufen, dass der Annahme einer konkreten Wiederholungsgefahr schon der positive Vollzugsverlauf entgegenstehe. Er habe die Haft genutzt und seinen Hauptschulabschluss nachgeholt. Er sei nachhaltig durch die Haft beeindruckt worden. Auch sei er nochmals Vater geworden. Darauf hat der Antragsgegner lediglich erwidert, die in der Vergangenheit andauernde Verletzung strafrechtlicher Vorschriften belege die Gefahr der Wiederholung. Hieran ändere auch die Tatsache nichts, dass der Antragsteller seit Jahren in Haft sitze und deshalb zur Zeit keine Straftaten begehen könne. Dass er mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet und Vater eines Kindes sei, sei zu seinen Gunsten berücksichtigt worden. Weitergehende Tatsachen, die nach dem Erlass der Ausweisungsverfügung entstanden seien, seien ersichtlich nicht gegeben. Hieran wird deutlich, dass sich der Antragsgegner weder mit der Entwicklung des Antragstellers im Strafvollzug näher auseinandergesetzt hat noch den Vortrag des Antragstellers zur Kenntnis genommen hat, dass er nochmals Vater geworden sei. Ob diese neuen Umstände aus dem persönlich-familiären Bereich des Antragstellers ausreichen, das grundsätzlich vorrangige öffentliche Interesse an einer Beendigung des Aufenthalts des wegen schwerer Drogendelikte bestraften Antragstellers zurückzudrängen, mag zweifelhaft sein. Es ist jedoch Aufgabe des Antragsgegners, alle wesentlichen und aktuellen Umstände des Einzelfalles in seine Beurteilung einzubeziehen und bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen und zu gewichten.