VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 01.02.2005 - 1 A 343/00 - asyl.net: M6285
https://www.asyl.net/rsdb/M6285
Leitsatz:

1. Auch dann, wenn ein Asyl- bzw. Asylfolgeantrag nicht gestellt ist, kann wegen sonstiger Änderungen der Verhältnisse beim Bundesamt ein Wiederaufgreifen des Verfahrens beantragt werden.

2. Bei dieer Bundesamtentscheidung kommt es auf die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis VwVfG nicht mehr an.

3. Aufgrund der Sollvorschrift des § 60 Abs. 7 AufenthG besteht bei konkreten und individuellen Gefahren ein Anspruch darauf, eine Abschiebung zu unterlassen.

4. Im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG ist die Richtlinie 2004/83/EG zu beachten und heranzuziehen.

5. Zum zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernis bei psychiatrischen Erkrankungen und ihrer Finanzierbarkeit in Vietnam.

 

Schlagwörter: Vietnam, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Prüfungskompetenz, Zuständigkeit, Bundesamt, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Psychische Erkrankung, Krankheit, Diabetes mellitus, Gesetzesänderung, Zuwanderungsgesetz, Ermessen, Sollvorschrift, Anerkennungsrichtlinie, Zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; AufenthG § 72 Abs. 2; VwVfG § 51; RL 2004/83/EG
Auszüge:

1. Auch dann, wenn ein Asyl- bzw. Asylfolgeantrag nicht gestellt ist, kann wegen sonstiger Änderungen der Verhältnisse beim Bundesamt ein Wiederaufgreifen des Verfahrens beantragt werden.

2. Bei dieer Bundesamtentscheidung kommt es auf die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis VwVfG nicht mehr an.

3. Aufgrund der Sollvorschrift des § 60 Abs. 7 AufenthG besteht bei konkreten und individuellen Gefahren ein Anspruch darauf, eine Abschiebung zu unterlassen.

4. Im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG ist die Richtlinie 2004/83/EG zu beachten und heranzuziehen.

5. Zum zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernis bei psychiatrischen Erkrankungen und ihrer Finanzierbarkeit in Vietnam.

(Amtliche Leitsätze).

 

Dem Kläger steht ein Abschiebungshindernis gem. § 60 Abs. 7 AufenthG zur Seite.

Wie nach früherem Recht ist auch unter Geltung des AufenthG davon auszugehen, dass ein Wiederaufgreifen im weiteren Sinne möglich ist (BVerwGE 78, 333, 338 ff).Allerdings war der hier insoweit gestellte Antrag des Klägers von vornherein darauf beschränkt, Feststellungen zu § 53 AuslG zu treffen, was die Zuständigkeit des Bundesamtes nicht ohne weiteres begründet, da ein Asyl- bzw. Asylfolgeantrag gem. § 71 Abs. 1 AsylVfG damit gerade nicht gestellt war. § 24 Abs. 2 AsylVfG ist somit nicht anwendbar. Gleichwohl ist auch dieses Begehren zulässigerweise an das Bundesamt herangetragen worden, wie § 72 Abs. 2 AufenthG aufzeigt. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann dem Umstand, dass die Befugnis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse mit Bindungswirkung für die Ausländerbehörde festzustellen, in der Hand des Bundesamtes aus Sach- und Fachgründen monopolisiert ist, im Interesse des Ausländers auch bei sonstigen Änderungen der Verhältnisse Rechnung getragen werden (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 1.3.2001 - 1 L 593/00 -).

Grundlage für eine entsprechende Entscheidung des Bundesamtes ist dann § 51 Abs. 5 iVm § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG.

Diese Entscheidung ist jedoch - weil gerade kein Asyl- bzw. Asylfolgeantrag gestellt ist - entgegen den Ausführungen auf S. 2 des angefochtenen Bescheides, die neben der Sache liegen, nicht mehr an die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG gebunden (Nds. OVG, a.a.O.). Denn es geht "nur" um die Feststellung von Abschiebungshindernissen, welche die Vollziehbarkeit der Ausreiseaufforderung grundsätzlich unangetastet lassen (BVerwG NVwZ 2000, 941 = Buchholz 2.25 § 71 AsylVfG Nr. 5; BVerfG NVwZ 2000, 907).

Anstelle des § 53 Abs. 4 - 6 AuslG kommt es hier seit dem 1.1.2005 jedoch auf § 60 AufenthG an, bzw. auf dessen Abs. 7. Im Unterschied zur früheren Rechtslage ist jetzt an die Stelle eines Verwaltungsermessens jedoch eine Sollvorschrift getreten (§ 60 Abs. 7 AufenthG), so dass nicht mehr ein nur falkultatives Abschiebungshindernis gegeben ist, sondern von einem - bei Vorliegen der Voraussetzungen - verpflichtenden Abschiebungshindernis auszugehen ist. Bei konkreten und individuellen Gefahren - bei allgemeinen Gefahren greift § 60 Abs. 6 AufenthG ein - ist in der Regel von einer Abschiebung abzusehen. Somit ist ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gegeben, der ein Absehen von § 10 Abs. 3 AufenthG ermöglicht. Erst recht ist von der Abschiebung nach wie vor abzusehen, wenn der betreffende Ausländer " sehenden Auges" dem sicheren Tod oder aber schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (bisherige Rechtsprg. BVerwGE 99, 321/324).

Bei der Beurteilung der Frage, ob konkrete und individuelle Gefahren iSv § 60 Abs. 7 AufenthaltsG vorliegen, ist zwecks Angleichung der europäischen Rechtsstandards inzwischen allerdings die Richtlinie 2004/83/EG des Rates v. 29.4.2004 (Amtsblatt der Eur. Union v. 30.9.2004) zu beachten und einzubeziehen. Danach sind u.a. "alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind", zu berücksichtigen (Art. 4 Abs. 3 a) der Richtlinie), aber auch "die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers" ( Art. 4 Abs. 3 c) der Richtlinie).

Allerdings kann die Beklagte in ihrer Zuständigkeit nur über zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse entscheiden, nicht über inlandsbezogene Hindernisse. Entscheidend ist hier deshalb iSe zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses, ob für den Kläger eine ausreichende Therapie seiner unstreitig vorliegenden Erkrankung in Vietnam gewährleistet ist (vgl. Nds. OVG v. 28.1.1999 - 11 L 4582/98 - für Türkei). Das ist für neurologische und psychotherapeutische Behandlungen zwar nur schwer einschätzbar, aber aufgrund der bislang bekannten Verhältnisse in Vietnam (Art. 4 Abs. 3 a) der gen. Richtlinie) nicht anzunehmen.

Allgemein gilt für Vietnam nämlich die Regel, dass die Qualität der Behandlung noch an die Höhe der Bezahlung gekoppelt ist (so AA Lageberichte v. 4.3.2004 und v. 1.4.2003). Bei den gängigen Medikamenten, die als Importprodukte erhältlich sind, kann es zu qualitativen und zeitlichen Engpässen kommen, wobei für die psychiatrischen Einrichtungen davon auszugehen ist, dass sie auf einem relativ guten Niveau liegen (AA, aaO), jedoch nur in den Großstädten zur Verfügung stehen. Diese Verhältnisse garantieren nicht die notwendige Behandlung des Klägers, der ohne jedes Einkommen und ohne familiären Rückhalt wäre. Er könnte sich eine Behandlung, wie sie für ihn erforderlich wäre, ganz offensichtlich nicht leisten (vgl. dazu auch VG Göttingen, Urt. v. 10.6.2004 2 A 382/03 -).

Unabhängig von dem Vorstehenden hat die Klage aber deshalb Erfolg, weil die Versorgungslage mit Medikamenten in Vietnam für Menschen mit unzureichendem Einkommen, die an einer insulinpflichtigen Diabetes Mellitus I - Erkrankung leiden, so ungünstig ist, dass eine Abschiebung der Kl. nach Vietnam bei ihr zu schwersten gesundheitlichen Beeinträchtigungen, wenn nicht sogar zum baldigen Tod führen würde. Das hätte das Bundesamt bei der nach § 49 I VwVfG zu treffenden Ermessensentscheidung berücksichtigen müssen. Da das Ermessen hier wegen der Folgen für die Kl. auf Null reduziert ist, vermag das Gericht den begehrten Verpflichtungsausspruch zu erlassen. Nach dem aktuellen Lagebericht Vietnam des Auswärtigen Amtes vom 04.03.2004 (S. 10 f.), der die Erkenntnisse des Lageberichts aus dem Jahre 2003 fortschreibt, steht nach wie vor den Vietnamesen (bis auf hier nicht interessierende Ausnahmen) kein staatliches - kostenfreies - Gesundheitssystem Verfügung. Zwar sind die meisten Krankheitsbilder, so auch Diabetes Mellitus I in Vietnam grundsätzlich behandelbar. Die Qualität der Behandlung und die Möglichkeit, sich mit Medikamenten zu versorgen, ist aber unmittelbar abhängig von den finanziellen Möglichkeiten des Einzelnen. Anders gewendet: Wer wie die Kl. das nötige Geld in Vietnam für Insulin nicht hat, ist nach Rückkehr in die Heimat dem baldigen Tode geweiht. Nichts anderes besagt die den Beteiligten bekannte Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Hanoi an das VG Braunschweig vom 30.09.1999 (vgl. die unpaginierten Beiakten B), hinsichtlich derer das Gericht keinerlei Erkenntnisse hat, dass die dortigen Ausführungen nicht mehr zuträfen.