VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 11.05.2005 - A 11 K 13757/03 - asyl.net: M7118
https://www.asyl.net/rsdb/M7118
Leitsatz:

Verfolgungsmaßnahmen wegen einer den herrschenden religiösen Vorstellungen widersprechenden Lebensweise (hier: außerehelicher Geschlechtsverkehr und Mutter eines nichtehelichen Kindes) stellen wegen der engen Verbindung zwischen Religion und Politik im Iran politische Verfolgung dar.

 

Schlagwörter: Iran, nichteheliche Kinder, außerehelicher Geschlechtsverkehr, religiös motivierte Verfolgung, Verfolgungsbegriff, soziale Gruppe, Schutz von Ehe und Familie, Kadd-Strafen, Strafverfolgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Verfolgungsmaßnahmen wegen einer den herrschenden religiösen Vorstellungen widersprechenden Lebensweise (hier: außerehelicher Geschlechtsverkehr und Mutter eines nichtehelichen Kindes) stellen wegen der engen Verbindung zwischen Religion und Politik im Iran politische Verfolgung dar.

(Leitsatz der Redaktion)

 

2. Dagegen hat die Klage Erfolg, soweit die Klägerin im Wege des Asylfolgeantrags begehrt, die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festzustellen.

d) Die von der Klägerin vorgetragene Bedrohung durch den iranischen Staat stellt sich nach diesen Vorgaben tatsächlich als politische Verfolgung dar. Die Islamische Republik Iran wird als theokratische Diktatur unter weitestgehender Missachtung der Menschenrechte nach dem Grundsatz der Herrschaft der schiitischen Gottesgelehrten (velayat-e faqih) geführt. Das Regime hat sich dabei zur Ummantelung seines Machterhaltungsinteresses - und des Interesses an der Plünderung der nationalen Ressourcen durch die herrschenden Kreise - einen starken ideologischen Überbau im Sinne der schiitischen Rechts- und Moralvorstellungen gegeben. Diese wiederum werden nach Auskunft des Auswärtigen Amtes (Lagebericht Iran vom 22.12.2004, S. 5, unten) u.a. auch herangezogen, um in politisch motivierten Verfahren gehen Oppositionelle vorzugehen mit konstruierten Anklagen etwa wegen Sexualdelikten. Auch die strikte strafrechtliche Verfolgung außenwirksamer politischer Betätigung gegen das herrschende Regime wird häufig als "Feindschaft gegen Gott" und "Verderben stiften auf Erden" (Art. 183 bis 196 des iran. StGB) angeklagt (AA, Lagebericht v. 22.12.2004, S. 14/15), also vom ideologischen "Überbau" des Regimes abgeleitet. Des Weiteren wird berichtet (hierzu und nachfolgend: DOI, Auskunft vom 27.02.2003 an VG Darmstadt), dass es im Bereich der Strafbarkeit wegen Sitten- und Moralverstößen wohl ganz entscheidend auf die Hintergründe der Tat anzukommen scheint. Handelt es sich etwa um die Ahndung von Ehebruch, könnte hierfür unter engen beweisrechtlichen Voraussetzungen bei Vorliegen der notwendigen Qualifizierungen als Hadd-Strafe nach dem 2. Buch des iranischen (islamischen) StGB, die Todesstrafe verhängt werden. In der Rechtspraxis des Iran werden solche Taten - wegen der strengen Beweisregeln dieses sog. "Gottes-Rechts" - im "Normalfall" aber offenbar eher selten ausgesprochen, kommen aber gerade dann vor, wenn aus der Sicht der iranischen Machthaber besondere Umstände hinzutreten (organisierte Prostitution; Mitwirkung an Pornofilmen), die Sittenordnung, die Grundlage der Herrschaft der Mullahs ist, also zusätzlich verletzt wurde, obwohl naturgemäß zweifelhaft ist, ob die vorgeschriebenen Beweisanforderungen in diesen Fällen auch wirklich erfüllt wurden (DOI, a.a.O.). Dagegen scheint eine Tendenz zu bestehen, in Fällen, in denen die Tat irgendwie auf soziales Verständnis stößt, weil der Betroffene einfach "seine Triebe nicht beherrschen konnte" (DOI, a.a.O.), es bei einer Bestrafung nach dem 5. Buch des StGB, etwa wegen Unzucht, zu belassen und die eigentlich insoweit vorgesehenen Körperstrafen (Auspeitschung) dann sogar in Geldstrafe umzuwandeln.

Daraus muss der Schluss gezogen werden, dass politische Verfolgung im oben dargestellten Sinne wegen einer angenommenen regimefeindlichen Gesinnung zwar nicht nur bei rein politischen Aktivitäten, die sich unmittelbar und direkt gegen die Herrschaft der Gottesgelehrten richtet - wie etwa die Studentenbewegung insbesondere im Sommer 1999 -, sondern auch dann einsetzt, wenn der Einzelne seine private Lebensgestaltung offen wahrnehmbar derart gegen die herrschenden religiösen Vorstellungen hin ausrichtet, dass im Rahmen der Ahndung von Sittenverstößen dann auf jede sonst übliche Nachsicht verzichtet wird, um den tatsächlich oder vermeintlichen Gegner der herrschenden Ordnung in seiner politischen Überzeugung und seinem Gegnersein bewusst auszugrenzen.

Im Falle der Klägerin bedeutet dies, gegen sie gerichtete Maßnahmen (dazu sogleich), würden nicht allein an ihr höchst privates außereheliches Verhältnis anknüpfen. Vielmehr wäre Anknüpfungspunkt das für die Klägerin unabänderliche Merkmal im oben dargestellten Sinne, dass sie zur sozialen Gruppe - erkennbar - unverheirateter Mütter zählt, deren Existenz die herrschende Moral und damit gerade auch das sich besonders hierauf stützende herrschende Regime untergräbt, da hierdurch publik würde, dass es andere als die staatlich geforderten Lebensentwürfe gibt im Sinne eines Eintretens für die individuelle Freiheit.

In Anknüpfung an dieses asylerhebliche unabänderliche Merkmal der sozialen Gruppenzugehörigkeit ist vorliegend auch eine entsprechende Verfolgungshandlung zu erkennen. Nach Auskunft des Deutschen-Orient-Instituts vom 27.02.2003 an das VG Darmstadt führte ein uneheliches Kind im Falle der Rückkehr in den Iran zu erheblichen Schwierigkeiten, die um den Preis einer "Legendenbildung" (Vater im Ausland verstorben; Kind der verstorbenen Schwester o.ä.) unter Umständen umgangen werden kann. Hier besteht jedoch die Besonderheit, dass die Islamische Republik Iran der Klägerin ansinnt, ihr Kind zu verlassen, um alleine - dann allerdings vor Verfolgung geschützt - in den Iran zurückzukehren. Ein solches Ansinnen stellt einen Eingriff in das Rechtsgut des Schutzes der Familie dar, der nach seiner Intensität und Schwere ohne weiteres die Menschenwürde verletzen würde, weshalb i.S.d. dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts von einer Verfolgungshandlung insoweit ausgegangen werden muss.