VG Leipzig

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Zitieren als:
VG Leipzig, Urteil vom 24.08.2005 - A 5 K 31048/02 - asyl.net: M7431
https://www.asyl.net/rsdb/M7431
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung bei Rückkehr in die Türkei (hier: Vorverfolgung wegen pro-kurdischen Engagements).

 

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Unterstützer, PKK, HADEP, Strafverfahren, Glaubwürdigkeit, Festnahme, Antragstellung als Asylgrund, interne Fluchtalternative, hinreichende Sicherheit, Situation bei Rückkehr, Separatismus, politische Entwicklung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung bei Rückkehr in die Türkei (hier: Vorverfolgung wegen pro-kurdischen Engagements).

(Leitsatz der Redaktion)

 

Dem Kläger steht ein Anspruch auf Feststellung des Bestehens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz - AufenthG - zu, so dass sich die entgegenstehenden Feststellungen in dem angegriffenen Bescheid sowie die Abschiebungsandrohung in dem aufgehobenen Umfang als rechtswidrig erweisen und den Kläger in seinen Rechten verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).

1.a. Zur Überzeugung des Gerichts sind die von dem Kläger geschilderten Gründe für die Ausreise aus der Türkei zutreffend. Die Angaben des Klägers gegenüber dem Bundesamt sowie in der mündlichen Verhandlung sind glaubhaft. Sie werden durch schriftliche Unterlagen sowie insbesondere die Angaben des gehörten Zeugen bestätigt. Gründe, die zu Zweifeln an der Richtigkeit der Angaben des Klägers und des Zeugen berechtigen, liegen nicht vor.

aa. Der Kläger hat sowohl gegenüber dem Bundesamt als auch im gerichtlichen Verfahren detailliert und widerspruchsfrei seine politischen Aktivitäten, die erlittenen Verfolgungsmaßnahmen sowie die Ereignisse geschildert, die zum Untertauchen führten und den Anlass für seine Ausreise bildeten.

Bereits die Angaben im Rahmen des Verwaltungsverfahrens erweisen sich als glaubhafte Darstellung des politischen Wirkens in der Türkei, der hierauf beruhenden Strafverfolgung sowie der weiteren wegen des fortdauernden Verdachts von politischen Aktivitäten gegen den Kläger gerichteten Verfolgungsmaßnahmen. Der Kläger beschrieb glaubhaft seine früheren Unterstützungshandlungen für die PKK, das in diesem Zusammenhang gegen ihn geführte Strafverfahren, die Intensivierung seiner Aktivitäten für die HADEP nach dem Rückzug der PKK, die Art und Weise der Unterstützung der HADEP, insbesondere die Mitwirkung an der Verbreitung von Publikationen, die Hausdurchsuchung in seiner Abwesenheit im Februar 2001 mit der Beschlagnahme von Büchern und Zeitschriften, die Information hierüber durch seinen Vater, den weiteren Aufenthalt in Gaziantep sowie die Organisation und den Ablauf der Ausreise aus der Türkei.

dd. Umstände, die angesichts des oben Ausgeführten zu berechtigten Zweifeln an dem geschilderten Vorfluchtgeschehen Anlass gäben, bestehen nicht.

Gegen die Richtigkeit der Angaben des Klägers sprechen schließlich nicht die weiteren Umstände der Asylantragstellung. So lassen sich keine Rückschlüsse daraus ziehen, dass der Kläger den Asylantrag erst stellte, nachdem er zuvor in Bergisch-Gladbach festgenommen worden war. Bei dein Asylantrag des Klägers handelt es sich ersichtlich nicht um eine bloße Reaktion auf diese Festnahme. Vielmehr konnte der Kläger seinen Asylantrag durch eingehenden Vortrag, alsbald vorgelegte schriftliche Unterlagen sowie später auch durch Zeugenaussagen untermauern. Es steht auch fest, dass der Kläger sich im Zeitpunkt seiner Festnahme in Bergisch-Gladbach am 3.4.2001 erst kurzzeitig in Deutschland aufhielt.

b. Aus den nach alledem glaubhaft geschilderten Umständen der Ausreise ergibt sich, dass der Kläger die Türkei wegen (zumindest) unmittelbar bevorstehender politischer Verfolgung verlassen hat. Der Kläger konnte nach der Hausdurchsuchung sowie den anschließenden behördlichen Versuchen, seinen Aufenthaltsort in Erfahrung zu bringen, berechtigt davon ausgehen, dass eine (erneute) Festnahme drohte. Diese stellt sich angesichts des politischen Hintergrunds als asylrelevant dar. Bei einer Festnahme bestand - wie bereits bei den früheren Festnahmen, jedenfalls bei der Haft im Jahre 1999 - nach der Erkenntnislage die realistische Gefahr, zumindest im Polizeigewahrsam Folter und Misshandlung ausgesetzt zu werden (vgl. hierzu auch unten 2.).

Es bestand für den Kläger auch keine inländische Fluchtalternative. Der Kläger war in individualisierter Weise Betroffener behördlicher Maßnahmen wegen des Verdachts separatistischer Aktivitäten. Die behördlichen Maßnahmen dienten dabei ersichtlich auch seiner Ergreifung. Bei einem derartigen Verfahrensstand ist in der Türkei von einer landesweiten Gefahr politischer Verfolgung auszugehen (vgl. OVG NW, Urt. v. 19.4.2005 - 8 A 273/04.A -).

2. Hinsichtlich des danach vorverfolgt ausgereisten Klägers ist - auch im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung - von einer (weiter bestehenden) Gefahr politischer Verfolgung für den Fall der Rückkehr in die Türkei auszugehen.

Einem Vorverfolgten kann eine Rückkehr in seinen Heimatstaat nur zugemutet werden, wenn aufgrund einer Änderung der dortigen Verhältnisse eine Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist.

Ausgehend hiervon ist dem Kläger eine Rückkehr in die Türkei nicht zumutbar. Die Gefahr dort wegen des Verdachts der Unterstützung als separatistisch eingestufter Aktivitäten politischer Verfolgung ausgesetzt zu werden, ist nicht entfallen. Allein die Information, dass nach dem Kläger nicht gefahndet wird, genügt - abgesehen von den Vorbehalten gegen die Reichweite und Aussagekraft dieser Information - nicht, um eine Verfolgungsgefahr zu verneinen.

Eine andere Würdigung ist auch nicht im Hinblick auf die in letzter Zeit erfolgten Änderungen in der Rechtslage und Menschenrechtspraxis der Türkei geboten. Obwohl das türkische Recht Folter und Misshandlung unter Strafe stellt, besteht die generelle Gefahr erheblicher Misshandlungen vor allem in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams (bisher) noch fort. In der "Rechts- und Behördenwirklichkeit" hat sich die Situation noch nicht so verändert, dass eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit verneint werden könnte. Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hat hierzu in seinem Urteil vom 26.5.2004 - 8 A 3852/03.A - Folgendes ausgeführt: (...)

Diesen Ausführungen schließt sich das erkennende Gericht an. Die Entwicklung der Verhältnisse in der Türkei einschließlich deren Beziehungen zur Europäischen Union seit Erlass des o.g. Urteils rechtfertigt keine andere Prognose. Besteht danach - wie das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen in seinem v.g. Urteil ausgeführt hat -, bei dem Vorwurf einschlägiger politischer Straftaten sogar unter Anwendung des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (noch) einer relevante Gefahr politischer Verfolgung in der Türkei, so gilt dies erst recht für den hier angesichts der Vorverfolgung anzuwendenden herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Für vorverfolgt ausgereiste Kurden ist nach wie vor davon auszugehen, dass diese bei einer Rückkehr vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher sind (SächsOVG, Urt. v. 9.10.2003 - A 3 B 4054/98 -; OVG NW, Urt. v. 19.4.2005 - 8 A 273/04.A -; OVG Rh.-Pf., Urt. v. 12.3.2004 - 10 A 11952/03 -).