OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 18.11.2005 - 10 A 10580/05.OVG - asyl.net: M8156
https://www.asyl.net/rsdb/M8156
Leitsatz:

Ungeachtet der neueren innenpolitischen Entwicklung in der Türkei (vgl. dazu zuletzt Urteil des Senats vom 12. März 2004 - 10 A 11952/03.OVG -) kann für Kurden bei einer Rückkehr dorthin nach wie vor ein beachtlich wahrscheinliches Verfolgungsrisiko bestehen, wenn sie durch ein entsprechend nachhaltiges exilpolitisches Engagement als exponierte und ernstzunehmende Gegner des türkischen Staates in Erscheinung getreten sind (hier: verneint).

 

Schlagwörter: Türkei, Kurden, exilpolitische Betätigung, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Grenzkontrollen, Situation bei Rückkehr, politische Entwicklung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Ungeachtet der neueren innenpolitischen Entwicklung in der Türkei (vgl. dazu zuletzt Urteil des Senats vom 12. März 2004 - 10 A 11952/03.OVG -) kann für Kurden bei einer Rückkehr dorthin nach wie vor ein beachtlich wahrscheinliches Verfolgungsrisiko bestehen, wenn sie durch ein entsprechend nachhaltiges exilpolitisches Engagement als exponierte und ernstzunehmende Gegner des türkischen Staates in Erscheinung getreten sind (hier: verneint).

(Amtlicher Leitsatz)

 

Dem Kläger zu 1) steht ein Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht zu.

Was zunächst die in Rede stehenden Rückkehrkontrollen anbelangt, so ist der Senat in ständiger Rechtsprechung bislang davon ausgegangen, dass diese regelmäßig dann zu einer umfassenden Überprüfung führen, wenn sich aus den von dem Rückkehrer mitgeführten Unterlagen ergibt, dass es sich bei ihm offenbar um einen Asylbewerber handelt, der nicht nur kurdischer Volkszugehörigkeit ist, sondern überdies aus einem Ort mit früher erhöhter Guerillatätigkeit stammt und bei dem zudem Namensgleichheit oder gar Verwandtschaft mit prokurdischen Aktivisten besteht. Die polizeiliche Überprüfung führt in derartigen Fällen alsdann nämlich zumeist zu einer intensiven persönlichen Befragung des Betroffenen, daneben in gleicher Weise aber auch zu ergänzenden Rückfragen bei den für seinen Heimatort zuständigen Behörden. Diese Ermittlungen dienen nicht nur der Feststellung der Personalien, Vorstrafen oder etwa anhängiger Verfahren, sondern auch der Aufklärung seiner politischen Einstellung sowie gegebenenfalls auch der Ausforschung der persönlichen Lebensverhältnisse bekanntermaßen in politischer Gegnerschaft zum türkischen Staat stehender naher Angehöriger. Im Zusammenhang mit den Rückfragen bei den Heimatbehörden spielen demgemäß die dort regional geführten Suchlisten und anderweitig vorgegebenen Erkenntnisse eine wesentliche Rolle. Ist der Betroffene in ihnen vermerkt oder besteht sonst - ungeachtet seiner längeren Abwesenheit - ein Interesse an seiner Person, weil etwa inzwischen gegen ihn anlässlich oder nach seiner Ausreise Verdachtsmomente bezüglich eines prokurdischen Engagements aufgetreten sind, die noch fortbestehen oder aus Anlass der Rückkehr wieder aufleben, so wird er auf entsprechendes Ersuchen festgenommen, weiter verhört und schließlich gegebenenfalls den Behörden an seinem Heimatort überstellt, wobei es bei allen diesen Maßnahmen auch zu schwerwiegenden Übergriffen bis hin zu Misshandlungen und Folterungen kommen kann. Letzteres gilt naturgemäß erst recht, wenn gegen den Rückkehrer wegen eines solchen Engagements bereits ein Haftbefehl vorliegt.

An dieser Einschätzung hat der Senat jedenfalls vom Ansatz her auch in seinem in das Verfahren eingeführten Urteil vom 12. März 2004 - 10 A 11952/03.OVG - mit Blick auf die neuere innenpolitische Entwicklung in der Türkei und deren Anstrengungen, die für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union vorgegebenen Kriterien des Kopenhagener Gipfels von 1993 zu erfüllen, festgehalten.

Dass sich in dem seit dieser Entscheidung verstrichenen Zeitraum von 18 Monaten die innenpolitischen Verhältnisse in der Türkei grundlegend geändert hätten, lässt sich nicht feststellen. Auch wenn es zutreffen mag, dass die Reformpolitik mit inzwischen insgesamt acht Reformpaketen nicht nur im Zusammenhang mit den Bestrebungen der Türkei gesehen werden kann, die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen zu erreichen, sondern erklärtermaßen auch auf eine weitere Demokratisierung und Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei zum Wohle ihrer Bürger abzielt und seitdem auch weiter vorangebracht wurde, so ist doch ebenso zu berücksichtigen, dass das Reformtempo so schnell war, dass der erforderliche begleitende Mentalitätswechsel in Verwaltung und Justiz damit nicht Schritt halten konnte. Die nach wie vor bestehenden Defizite bei der Umsetzung sind dabei auch darauf zu zurückzuführen, dass viele Entscheidungsträger in den Behörden und Gerichten aufgrund ihrer Sozialisation im kemalistisch-laizistisch-nationalen Staatsverständnis Skepsis und Misstrauen gegenüber der islamisch konservativen AKP-Regierung hegen und die Reformen als von außen oktroyiert und potentiell schädlich wahrnehmen. In ihrer Berufspraxis setzen sie diesen von daher großes Beharrungsvermögen entgegen und verteidigen damit aus ihrer Sicht das Staatsgefüge als Bollwerk gegen Separatismus und Islamismus. Dass sich die Regierung gleichwohl nachdrücklich dafür einsetzt, durch zahlreiche erklärende und anweisende Erlasse die Anwendung der Gesetze sicherzustellen, mag zwar auf längere Sicht zu den erwünschten Erfolgen führen, ändert aber dennoch nichts daran, dass sich diese jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt immer noch nicht im gebotenen Umfang eingestellt haben, auch wenn sich gerade im Hinblick auf etwaige schwerwiegende Übergriffe von Seiten der Sicherheitskräfte erkennen lässt, dass diese durch die einschlägigen Gesetzesänderungen erschwert werden und zumindest im Allgemeinen wohl auch rückläufig sind. Hinzu kommt, dass seit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK/Kontra Gel bzw. die dadurch ausgelösten Operationen der staatlichen Sicherheitskräfte auf beiden Seiten wieder Tote zu beklagen sind, die bei den Sicherheitskräften zu unkontrollierten Handlungen bis hin zur Wiederaufnahme der schon früher eingesetzten Unterdrückungsmechanismen gegenüber der kurdischen Bevölkerung führen (vgl. dazu Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 3. Mai 2005, S. 7, NZZ vom 24. Juni 2005, Aydin vom 25. Juni 2005, S. 9, Welt vom 29. Juni 2005, FR vom 12. Juli 2005, SZ vom 14. Juli 2005, Oberdiek vom 2. August 2005, S. 18, Kaya vom 8. August 2005, S. 7 ff. und ai vom 20. September 2005, S. 2 sowie die von den Klägern vorgelegte umfangreiche Sammlung weiterer Artikel namentlich aus türkischen Zeitungen).

Vor diesem Hintergrund hatte der Senat in seinem soeben genannten Urteil vom 12. März 2004 entschieden, dass jedenfalls Vorverfolgten wegen des alsdann anzuwendenden herabgesetzten Wahrscheinlichkeitsmaßstabes nach wie vor nicht zugemutet werden kann, im Falle eines an ihrer Person fortbestehenden Verfolgungsinteresses sich erneut den Zugriffsmöglichkeiten der türkischen Sicherheitskräfte auszusetzen. Der Senat ist aber auch der Überzeugung, dass prokurdischen Aktivisten jedenfalls dann, wenn sie ein entsprechend nachhaltiges exilpolitisches Engagement an den Tag legen und damit als exponierte und ernstzunehmende Gegner des türkischen Staates in Erscheinung treten, auch heute noch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylerhebliche Übergriffe drohen. Darunter sind in Sonderheit solche Aktivisten zu verstehen, die politische Ideen und Strategien entwickeln und zu deren Umsetzung von Deutschland aus maßgeblichen Einfluss auf die türkische Innenpolitik oder auf ihre in Deutschland lebenden Landsleute zu nehmen versuchen oder sonst eine auf Breitenwirkung zielende Meinungsführerschaft übernehmen. Diese Schwelle wird dabei etwa dann überschritten, wenn die Betreffenden als Auslöser prokurdischer Aktivitäten, als Organisator von Veranstaltungen oder als Anstifter oder Aufwiegler auftreten und wenn ihre Vorgehensweisen bzw. Verlautbarungen die Vermutung nahe legen, sie verfügten über besondere Kenntnisse der exilpolitischen Szene, über hervorgehobene Autorität bei ihren Landsleuten oder beabsichtigten gar, mit diesen eine Kampagne in Gang zu setzen. Gleiches gilt schließlich erst recht, wenn gegen die Betreffenden eines solchen nachhaltigen Engagements bereits ein Ermittlungsverfahren anhängig ist und dabei Staatschutzdelikte inmitten stehen (ebenso Urt. des OVG Mecklenburg-Vorpommern vom 29. November 2004, Asylmagazin 1-2/2005, S. 32, Urt. des OVG Saarland vom 1. Dezember 2004, Asylmagazin, a.a.O., S. 30 sowie Urt. des OVG Nordrhein-Westfalen vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -, S. 85, 93 UA).

Ungeachtet dieser mithin auch heute noch zu verzeichnenden nicht unbeträchtlichen Verfolgungsgefahr für aus der Bundesrepublik zurückkehrende prokurdische Aktivisten, besteht eine solche für den Kläger zu 1) indessen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu besorgen. Der Senat hat sich nicht die Überzeugung zu bilden vermocht, dass der Kläger zu 1) zu dem hiernach gefährdeten Personenkreis gehört.