VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 19.01.2006 - 1 A 7/05 - asyl.net: M8197
https://www.asyl.net/rsdb/M8197
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, abgelehnte Asylbewerber, Deutschverheiratung, Schutz von Ehe und Familie, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Ausweisungsgrund, Falschangaben, Serbien und Montenegro, Albaner, Ashkali, Verstoß gegen Rechtsvorschriften, Ausnahmefall, Zukunftsprognose, Wiederholungsgefahr, Anspruch, Visum nach Einreise
Normen: AufenthG § 10 Abs. 3 S. 3; AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2; AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 2; AufenthG § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1
Auszüge:

Der Kläger hat einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Abschnitt 6 des AufenthG (Aufenthalt aus familiären Gründen). Dem steht nicht bereits § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegen. Nach dieser Vorschrift darf unter anderem einem Ausländer, dessen Asylantrag unanfechtbar abgelehnt worden ist, vor seiner Ausreise ein Aufenthaltstitel nur nach Maßgabe des Abschnitts 5 (Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen) erteilt werden. Gemäß § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG findet diese Vorschrift im Falle eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis jedoch keine Anwendung. Der Kläger hat nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG einen gesetzlichen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Nach dieser Vorschrift ist die Aufenthaltserlaubnis abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 dem ausländischen Ehegatten eines Deutschen zu erteilen, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Der Kläger ist seit dem 24.05.2004 mit einer Deutschen verheiratet, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat. Zwar beziehen der Kläger und seine Ehefrau, bzw. Familie zur Zeit Sozialhilfeleistungen und erfüllen damit nicht die allgemeine Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Dies ist für einen gesetzlichen Anspruch nach § 28 Abs. 1 AufenthG jedoch unbeachtlich.

Der Kläger erfüllt auch die übrigen allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG.

Das Gericht teilt allerdings nicht die Auffassung der Beklagten, der Kläger habe den Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG verwirklicht. Er hat nicht entsprechend den Voraussetzungen dieser Norm falsche Angaben zur Erlangung eines Aufenthaltstitels gemacht. Er, bzw. seine Eltern hat/haben in seinem/ihren Asylverfahren keine falschen Angaben über ihre Volkszugehörigkeit gemacht; vielmehr dürfte die Angabe, der Kläger und seine Familie seien Albaner, nach bestem Wissen und Gewissen erfolgt sein. Bis zum Kriegsende im Kosovo im Juni 1999 wurden von der ehemaligen jugoslawischen Regierung alle Nichtserben im Kosovo als Albaner angesehen und deshalb verfolgt. Dementsprechend dürften der Kläger, bzw. dessen Eltern sich bei ihrer Einreise nach Deutschland auch als Albaner gefühlt haben. Die Zugehörigkeit zu einer - weiteren - Minderheitengruppe spielte damals keine Rolle. Dies änderte sich jedoch, nachdem der Krieg beendet war und das Kosovo als UN-Protektorat eine eigene Regierung und Verwaltung aufbaute, in der nunmehr die - ethnischen - Albaner die Mehrheit haben und Angehörige der Minderheiten im Kosovo - wie Ashkali - z.T. der Kollaboration mit den Serben beschuldigen. Insofern ist es nachvollziehbar, das für den Kläger seit Beginn des UN-Protektorats im Juni 1999 seine Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Ashkali wieder in den Vordergrund rückt.

Der Kläger verwirklicht aber den Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG. Nach dieser Vorschrift kann ein Ausländer nach Abs. 1 insbesondere ausgewiesen werden, wenn er einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat. Dies trifft auf den Kläger unter Berücksichtigung seiner strafrechtlichen Verurteilungen wegen Körperverletzungen vom 10.01.2003 und vom 24.01.2003 zu. Darüber hinaus ist der Kläger entgegen § 8 Abs. 1 Nr. 1 AuslG ohne erforderliches Visum eingereist. Auch ein Asylbewerber benötigt für seine Einreise ein Visum. Die nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. Abs. 1 AufenthG gegebene Ausweisungsgründe sind aber nur beachtlich, wenn dadurch aktuell eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder sonstiger erheblicher Interessen der Bundesrepublik Deutschland im Sinne von § 55 Abs. 1 AufenthG zu befürchten ist (siehe auch Nr. 5.1.4.2 der "Vorläufigen Niedersächsischen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 30. November 2005" - vorl. Nds. VV-AufenthG -). Nicht die Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Vergangenheit steht einem weiteren Verbleib in Deutschland entgegen, sondern nur in Gegenwart und Zukunft drohende Beeinträchtigungen. Nur diese Überlegungen rechtfertigen die Verweigerung eines Aufenthaltstitels bei Vorliegen eines Ausweisungsgrundes (Renner, Kommentar zum Aufenthaltsgesetz, 8. Auflage, § 5 Rn. 22). Nach diesen Maßstäben liegt für den Kläger ein Ausnahmefall von der Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vor.

Gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ferner voraus, dass der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist ist. Hiervon kann gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen. Die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG sind erfüllt (s. o. ). Über die Frage, ob von der Voraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG abgesehen werden kann, hat die Ausländerbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Soweit der Behörde Ermessen eingeräumt ist, ist es dem Gericht im Rahmen der Überprüfung ihrer Entscheidungen verwehrt, sein eigenes Ermessen anstelle des behördlichen Ermessens zu setzen. Das Gericht überprüft vielmehr lediglich, ob die Behörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von diesem in einem dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 114 Satz 1 VwGO). Anderes gilt, wenn angesichts der besonderen Umstände des zu entscheidenden Falles nur eine einzige Entscheidung ermessensfehlerfrei sein könnte und das Ermessen der Behörde infolge dessen "auf Null" reduziert ist. Dieser Fall liegt hier vor.

Es kann dahinstehen, ob eine Ermessensreduzierung "auf Null" bereits deshalb anzunehmen ist, weil eine Ausnahme von der Regel des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG gegeben ist. Eine Ermessensreduzierung "auf Null" liegt hier deshalb vor, weil zum einen dem Kläger sein Visumsverstoß nicht angelastet werden kann, da er als - minderjähriger - Asylsuchender "naturgemäß" ohne Visum einreiste. Eine Ermessensreduzierung "auf Null" liegt aber zum anderen auch deshalb vor, weil die Forderung nach Einhaltung der Visumsvorschriften im vorliegenden Fall eine reine Förmelei darstellt. Die Beklagte hat gegenüber dem Gericht ausdrücklich erklärt, dass sie dem Kläger die Aufenthaltserlaubnis erteilen würde, wenn dieser ausreist und von seinem Heimatland aus ein Visum beantragt (siehe Gesprächsvermerk vom 10.01.2006 über ein Telefongespräch zwischen der Einzelrichterin und der Beklagten, Blatt 49 Gerichtsakte). Eine erneute Sachprüfung soll dann offenbar nicht mehr erfolgen.

Erfüllt das Visumverfahren wie im vorliegenden Fall aber nur eine rein formale Funktion, rechtfertigt dies insbesondere unter Berücksichtigung des hier in Rede stehenden hohen Schutzgutes der grundgesetzlich geschützten Ehe es nicht, die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis allein unter diesem Gesichtspunkt abzulehnen (siehe auch vorl. Nds. VV AufenthG, a.a.O. Nr. 5.2.2).