VG Berlin

Merkliste
Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 04.01.2006 - VG 5 V 12.05 - asyl.net: M8205
https://www.asyl.net/rsdb/M8205
Leitsatz:
Schlagwörter: Visum, Familienzusammenführung, Ehegattennachzug, Anwendungszeitpunkt, Zuwanderungsgesetz, Wohnraum, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Ausweisungsgrund, Ausweisung, Befristung, Wirkungen der Ausweisung, Sperrwirkung, Lebensunterhalt, Ausnahmefall, Schutz von Ehe und Familie
Normen: AufenthG § 6 Abs. 4; AufenthG § 30 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 27 Abs. 1; AufenthG § 29 Abs. 1 Nr. 2; AufenthG § 2 Abs. 4; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1; GG Art. 6 Abs. 1
Auszüge:

Der Kläger kann die Erteilung eines Visums zum Nachzug zu seiner Ehefrau und zu seinen Kindern in das Bundesgebiet nach den maßgebenden Vorschriften des am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) beanspruchen.

Dem Ehegatten eines Ausländers ist nach diesen Vorschriften gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn der Ausländer eine Niederlassungserlaubnis besitzt. Die im Bundesgebiet lebende Ehefrau des Klägers besitzt eine Niederlassungserlaubnis. Ihr ist am 17. November 1998 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt worden, die seit dem 1. Januar 2005 gemäß § 101 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als Niederlassungserlaubnis fortgilt.

Der Grundsatz des § 27 Abs. 1 AufenthG bestimmt für den Familiennachzug, dass die Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet für ausländische Familienangehörige zum Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 des Grundgesetzes erteilt wird. Das Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau kann nicht ernsthaft bezweifelt werden. Die Ehegatten haben vor der Abschiebung des Klägers in die Türkei jahrelang zusammengelebt. Sie haben zwei gemeinsame Kinder. Die Feststellungen des Amtsgerichts ... im Urteil vom 18. August 1994 und des Landgerichts ... im Urteil vom 24. Februar 1995 können angesichts dieser Umstände keine durchgreifenden Zweifel an der ehelichen Lebensgemeinschaft begründen, auch wenn die Ehe als zunächst wenig harmonisch bezeichnet wird und die Rede ist von einer Beziehung des Klägers zu einer anderen Frau. Auch dass aufgrund der langen räumlichen Trennung zunehmend Spannungen zwischen den Eheleuten auftreten, ist nachvollziehbar und spricht eher für als gegen den Fortbestand ihrer ehelichen Lebensgemeinschaft.

Für den Kläger sind schließlich die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG gegeben.

Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass gegen den Ausländer kein Ausweisungsgrund vorliegt. Die Verurteilung des Klägers durch das Amtsgericht ... vom 18. August 1994 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten wegen Vergewaltigung ist nach § 54 Nr. 1 AufenthG ein Ausweisungsgrund. Dieser Ausweisungsgrund kann dem Kläger indes in diesem Verfahren nicht entgegengehalten werden. Er ist wegen der zugrunde liegenden Straftat aus dem Bundesgebiet ausgewiesen und in die Türkei abgeschoben worden. Die Wirkungen der Ausweisung und der Abschiebung sind inzwischen, sei es auf den 28. Januar 2003, sei es auf den 7. April 2004, befristet worden. Der wirksame Ablauf der Frist ist nicht mehr im Streit, wie aus den entsprechenden Schreiben des Regierungspräsidiums Karlsruhe an den Verfahrensbevollmächtigten des Klägers vom 23. April 2003 unter dem Betreff "Befristung der Wirkungen der Ausweisung und Abschiebung" und an das Auswärtige Amt vom 22. November 2004 hervorgeht. Ist aber das für einen ausgewiesenen und abgeschobenen Ausländer geltende Einreise- und Aufenthaltsverbot des § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG aufgrund des Ablaufs der gesetzten Frist gemäß Satz 3 dieser Vorschrift beendet, kann der zugrunde liegende Ausweisungsgrund nicht zur Regelversagung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG führen.

Das Visum ist dem Kläger zudem nicht gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zu versagen. Die Erteilung eines Aufenthaltstitels setzt nach dieser Vorschrift in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Hier mag dahin stehen, ob dies bei der Familie des Klägers nach Maßgabe des § 2 Abs. 3 AufenthG der Fall wäre. Jedenfalls liegt ein Ausnahmefall vor, der die Erteilung des Visums entgegen der Regel rechtfertigt. Die Worte "in der Regel" beziehen sich auf Fälle, welche sich von der Vielzahl nicht durch außergewöhnliche Umstände und einen so bedeutsamen atypischen Geschehensablauf unterscheiden, dass das sonst für die Versagung des Aufenthaltstitels ausschlaggebende Gewicht des Regelversagungsgrunds ausnahmsweise beseitigt wird (vgl. zu § 7 Abs. 2 AuslG 1990 BVerwG, Urteil vorn 29, Juli 1993, 1 C 25.93, InfAuslR 1994. S. 2, 5). Ein Ausnahmefall liegt insbesondere vor, wenn die Versagung des Aufenthaltstitels mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen nicht vereinbar wäre (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. März 1999, 1 B 18.99, InfAuslR 1999, S. 332 f.) Als eine solche Wertentscheidung, welcher die Versagung des Aufenthaltstitels zuwiderliefe und die deshalb die Annahme eines Ausnahmefalls rechtfertigte, kommt vor allem der Schutz der Familie gemäß Art. 6 Abs. 1 GG in Betracht (s. BVerwG, Urteil vom 04. Juni 1997, 1 C 9.95, InfAuslR 1997. S. 355. 358). Der verfassungskräftige Schutz der Familie des Klägers überwiegt in diesem Sinne das öffentliche Interesse daran, dass die im Bundesgebiet lebenden Ausländer ihren Lebensunterhalt grundsätzlich ohne die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten. Die Situation des Klägers und seiner Familie unterscheidet sich von der Vielzahl der aus der Gerichtspraxis bekannten familiär bedingten Nachzugsfälle. Der Kläger hat besondere schützenswerte Bindungen an die Bundesrepublik Deutschland, die im Normalfall der Eheschließung eines Ausländers mit einer hier berechtigt lebenden Ausländerin nicht bestehen. Er ist in Deutschland geboren worden und hat (wohl mit einer kurzen Unterbrechung) bis zu seinem 25. Lebensjahr im Bundesgebiet gelebt. Die Ehefrau des Klägers und seine in Deutschland geborenen und aufgewachsenen minderjährigen Kinder leben hier erlaubt. Die vorgelegten ärztlichen Atteste belegen ungeachtet der Krankheitsbilder im Einzelnen nachvollziehbar, dass die Ehefrau und die Kinder des Klägers, insbesondere seine Tochter, in psychischer Hinsicht erheblich unter der Trennung der Familie leiden. Angesichts all dieser Umstände ist es der Familie nicht zuzumuten, die Familieneinheit in der Türkei herzustellen.