VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 10.05.2006 - 4 A 13/04 - asyl.net: M8262
https://www.asyl.net/rsdb/M8262
Leitsatz:

Gefährdung wegen Verletzung der "Familienehre" durch Nichteinhaltung eines Eheversprechens; extreme Gefahrenlage für afghanische Staatsangehörige i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG ohne Schutz und Hilfe durch Großfamilie.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Flüchtlingsbegriff, geschlechtsspezifische Verfolgung, Zwangsehe, Familienehre, Eheversprechen, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Versorgungslage, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, alleinstehende Personen, Situation bei Rückkehr, soziale Bindungen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Gefährdung wegen Verletzung der "Familienehre" durch Nichteinhaltung eines Eheversprechens; extreme Gefahrenlage für afghanische Staatsangehörige i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG ohne Schutz und Hilfe durch Großfamilie.

(Leitsatz der Redaktion)

 

2. Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf Zuerkennung von Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) vom 30.7.2004 (BGBl. I S. 1950).

Nach § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG darf ein Ausländer (und insoweit deckt sich der Anwendungsbereich der Vorschrift mit demjenigen des Art. 16 a Abs. 1 GG) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Während die Asylanerkennung darüber hinaus den Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht verlangt, greift das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 1 AufenthG auch dann ein, wenn beispielsweise politische Verfolgung wegen eines für die Asylanerkennung unbeachtlichen Nachfluchtgrundes droht (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.2.1992 - 9 C 59.91-, DVBl. 1992, 843 zu § 51 Abs. 1 des mit Ablauf des Jahres 2004 außer Kraft getretenen Ausländergesetzes - AuslG -).

Eine Verfolgung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. v. 10.7.1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315, 333 f., 336; Beschl. v. 10.8.2000 - 2 BvR 260/98 und 1353/98 -, NVwZ 2000, 1165 m.w.N.) und des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 20.2.2001 - 9 C 20.00 -, BVerwGE 114, 16) dann "politisch" im Sinne von Art. 16 a Abs. 1 GG, wenn sie im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um die Gestaltung und Eigenart der allgemeinen Ordnung des Zusammenlebens von Menschen und Menschengruppen steht, also - im Unterschied etwa zu einer privaten Verfolgung - einen öffentlichen Bezug hat und von einem Träger überlegener, in der Regel hoheitlicher Macht ausgeht, der der Verletzte unterworfen ist. Politische Verfolgung im Sinne von Art. 16 a Abs. 1 GG ist somit grundsätzlich staatliche Verfolgung. Dem Staat stehen solche staatsähnlichen (quasi-staatlichen) Organisationen gleich, die den jeweiligen Staat verdrängt haben oder denen dieser das Feld überlassen hat und die ihn daher insoweit ersetzen. Vor den Folgen anarchischer Zustände oder der Auflösung der Staatsgewalt schützt das Asylrecht dagegen nicht.

Auch § 60 Abs. 1 S. 4 AufenthG, der wie § 51 Abs. 1 AuslG an die Merkmale "Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" oder "politische Überzeugung" anknüpft, setzt einen öffentlichen Bezug der Verfolgung voraus; es bestehen keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass der Gesetzgeber den Anwendungsbereich der Vorschrift im Vergleich zu § 51 Abs. 1 AuslG auf eine Verfolgung aus privaten Interessen ausweiten wollte. Allerdings erweitert die Neuregelung den Kreis der Verfolgungssubjekte gegenüber Art. 16 a Abs. 1 GG insoweit, als als solche neben dem Staat (Buchstabe a) auch Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen (Buchstabe b) oder nichtstaatliche Akteure in Betracht kommen, sofern die unter den Buchstaben a und b genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten (Buchstabe c). Letzteres gilt unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative.

Für die Kläger besteht im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung. Die Kläger zu 1) und 2) haben sich selbst als "unpolitisch" bezeichnet und mitgeteilt, sie hätten mit Ausnahme der geschilderten Vorfälle keine Schwierigkeiten mit Behörden oder politischen Gruppierungen gehabt. Einziger Ansatzpunkt für eine Gefährdung sind daher Handlungen der Familienangehörigen der Klägerin zu 2), ihres früheren Verlobten bzw. dessen Familienangehörigen, um sich für das nicht eingehaltene Eheversprechen und die hierdurch empfundene Ehrverletzung zu rächen. Derartige Racheakte wären jedoch nicht als politische Verfolgung durch "nichtstaatliche Akteure" im Sinne von § 60 Abs. 1 S. 4 lit. c) AufenthG anzusehen. Es würde sich vielmehr um eine rein private Angelegenheit ohne den für eine politische Verfolgung erforderlichen öffentlichen Bezug handeln.

4. Die Kläger haben jedoch einen Anspruch auf Gewährung von Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG.

Die Versorgungs- und Sicherheitslage in Afghanistan stellt sich für alle Rückkehrer im Wesentlichen gleich und somit als allgemeine Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG dar. Ein Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG besteht daher unter diesem Gesichtspunkt nicht. Die im Land Niedersachsen bis zum 30.6.2005 für afghanische Staatsangehörige geltende Anordnung gemäß § 60 a Abs. 1 AufenthG (RdErl. des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport vom 27.12.2004, Nds. MBl. 2005, S. 108) ist nicht verlängert worden. Den Klägern steht jedoch ein Anspruch auf Abschiebungsschutz bei verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG zu, denn sie müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, in Afghanistan Gefährdungen der oben genannten Schutzgüter ausgesetzt zu werden.

Nach den Erkenntnissen des Gerichts ist die wirtschaftliche Situation zurückkehrender Flüchtlinge in Kabul angespannt. Sie ist dadurch geprägt, dass die ohnehin kaum vorhandene Infrastruktur durch die große Anzahl von Rückkehrern belastet wird, die Wohnungsmieten steigen und die Lage auf dem Arbeitsmarkt desolat ist (vgl. zur allgemeinen Lebenssituation in Afghanistan Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 31; Arendt-Rojahn u. a., a.a.O., S. 15 ff. und S. 22 ff.; Danesch, Gutachten vom 24.7.2004 an das OVG Bautzen, S. 46 ff. und Gutachten zur Lage der Hindu- und Sikh-Minderheit im heutigen Afghanistan vom 23.1.2006). Eine Rückkehr, ohne in den Schutz einer Familie aufgenommen zu werden, erscheint unter diesen Umständen äußerst schwierig. Die Bedeutung der Familie in Afghanistan geht weit über die verwandtschaftlichen Beziehungen der europäischen Kernfamilie hinaus. Sie übernimmt die soziale Absicherung ihrer Mitglieder und hat überlebenswichtige Funktion bei der Versorgung und Pflege im Krankheitsfall und bei der Betreuung von Frauen und Kindern. Auch die Schwierigkeit, eine Unterkunft zu finden, lässt sich ohne die Hilfe eines Familienverbandes kaum bewältigen.

Sie könnten in Afghanistan nur überleben, wenn es dem Kläger zu 1) gelingen würde, im Raum Kabul eine Existenzgrundlage für alle Familienmitglieder zu schaffen. Die Klägerin zu 2) könnte hierzu nicht beitragen, denn für Frauen gibt es in Afghanistan praktisch keine Arbeit (Danesch, Gutachten vom 24.7.2004 an das OVG Bautzen, S. 47). Bei einer Arbeitslosenquote von über 70 % könnten sich der Kläger zu 1) jedoch nur in die Reihe der Tagelöhner einreihen, die versuchen, auf dem freien Markt etwas Geld zu verdienen. Es erscheint dem Gericht ausgeschlossen, dass von dem erzielten Erlös eine vierköpfige Familie überleben könnte.