OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 19.05.2006 - 10 A 10795/05.OVG - asyl.net: M8413
https://www.asyl.net/rsdb/M8413
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Kurden, Nordirak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Anerkennungsrichtlinie, politische Entwicklung, nichtstaatliche Verfolgung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG
Auszüge:

Der Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigter und der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs. 1 AuslG 1990 bzw. § 60 Abs. 1 AufenthG ist für Kurden irakischer Staatsangehörigkeit aus dem Nordirak grundsätzlich rechtmäßig.

Für sie bestehen generell auch keine Abschiebungsverbote nach § 53 AuslG 1990 bzw. § 60 Abs. 2-7 AufenthG.

(Amtlicher Leitsätze)

 

Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 bzw. des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr gegeben sind. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 1. November 2005 - BVerwG 1 C 21.04 -, DVBl. 2006, 511) ist das insbesondere dann der Fall, wenn sich die zum Zeitpunkt der

Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen

Heimatstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht.

Zugleich ist mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts die Frage nach der Bedeutung der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Qualifikationsrichtlinie) für den Widerruf beantwortet. Denn wenn das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 1. November 2005 auch nicht ausdrücklich auf die Qualifikationsrichtlinie zu sprechen gekommen ist, so hat es darin doch eindeutig zu erkennen gegeben, dass daraus jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt das Widerrufsrecht nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht eingeschränkt ist.

Auf der Grundlage dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung liegen hier die Voraussetzungen für den Widerruf der Asylanerkennung und der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (§ 60 Abs. 1 AufenthG) vor. Zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) geht der Senat von folgender allgemeinen Lage im Irak aus: ...

So Besorgnis erregend diese Einschätzungen auch sind, so zeigt die Analyse der gegenwärtigen Situation und die Vorschau auf die nähere Zukunft doch zweierlei: Zum einen, dass das bisherige Regime Saddam Husseins vollständig beseitigt ist. Zum anderen zeigt das Vorstehende, dass der Prozess der demokratischen Neugestaltung von ungeheurer Gewalt, Terror und Instabilität begleitet wird.

Vor diesem Hintergrund hat der Senat keinen Zweifel, dass sich die maßgeblichen Verhältnisse i.S.d. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 1. November 2005, DVBl. 2006, 511) nachträglich und nicht nur vorübergehend so

verändert haben, dass bei einer Rückkehr der Kläger in den Irak eine Wiederholung der für ihre Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist.

Angesichts der aufgezeigten innenpolitischen Verhältnisse droht den Klägern bei einer hier allein wegen des Asylrechts und seines Widerrufs in Betracht zu ziehende Rückkehr in den Irak auch keine politische Verfolgung aus anderen Gründen, d.h. aus solchen, die keinerlei Verknüpfung mehr mit den früheren aufweisen, die zur Anerkennung geführt haben. Solche Gründe haben die Kläger nicht geltend gemacht, sie sind für den Senat auch nicht ersichtlich.

Von daher droht (sunnitischen) Kurden wie den Klägern von den staatlichen Sicherheitskräften keine politische Verfolgung, das gilt umso mehr, als sie mit dem langjährigen Kurdenführer Dschalal Talabani das Staatsoberhaupt stellen und in den bisher gewählten Parlamenten und Regierungen eine maßgeblich Rolle gespielt haben und auch gegenwärtig spielen.

Aber auch von nicht-staatlichen Akteuren haben (sunnitische) Kurden in ihrer Gesamtheit keine politische Verfolgung zu befürchten. Wie dargelegt gehen die Anschläge und Entführungen - soweit sie nicht ohnehin einen rein kriminellen Hintergrund haben - vornehmlich von sunnitischen Arabern aus. Sie provozieren Vergeltungsschläge der Schiiten, vor allem von deren Milizen. Des Öfteren greifen die schiitischen Milizen aber auch zuerst die Sunniten und ihre religiösen Orte an. An diesen Auseinandersetzungen und Gewaltakten sind die (sunnitischen) Kurden sowohl als Angreifer als auch als Opfer nicht beteiligt. Sie sind eine starke Bevölkerungsgruppe (ca. 16 Prozent der irakischen Gesamtbevölkerung), die sich nicht entscheidend über die Religion, sondern über die Ethnie definiert. Zudem haben sie nicht nur eine starke Position im Gefüge des Irak insgesamt, sondern gerade auch in ihrem traditionellen Siedlungsgebiet im Nordirak.

Aus alledem folgt, dass eine Verfolgung der Kläger bei einer Rückkehr in ihre Heimatstadt Arbil unwahrscheinlich ist.