VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 07.07.2006 - 6 K 4001/04.A - asyl.net: M8471
https://www.asyl.net/rsdb/M8471
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, exilpolitische Betätigung, Mitglieder, Vorstandsmitglieder, Funktionäre, kurdisches Exilparlament, PKK, TKP/ML, ATIF, Föderation türkischer Arbeitervereine, KONGRA-GEL, Kurdisches Kulturhaus, YEK-KOM, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, Folgeantrag, Zuwanderungsgesetz, Anwendungszeitpunkt, Übergangsregelung, atypischer Ausnahmefall
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1; AsylVfG § 28 Abs. 2; AsylVfG § 77 Abs. 1
Auszüge:

Der Bescheid des Bundesamtes vom 17. September 2004 ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), als die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens und die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (nunmehr: § 60 Abs. 1 AufenthG) abgelehnt worden ist. Der Kläger hat nämlich einen Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG.

Es lässt sich zwar nicht feststellen, dass in seinem Fall der "herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab" anzuwenden ist.

Dem Kläger ist jedoch eine Rückkehr in den Heimatstaat nicht zuzumuten, weil ihm - bei Anwendung des "normalen" Prognosemaßstabes - aufgrund seiner exilpolitischen Aktivitäten in Deutschland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung in der Türkei droht.

Die zulässig geltend gemachten Wiederaufgreifensgründe - insbesondere die Vorstandstätigkeiten des Klägers im "Kurdischen Kulturhauses E. e.V.", seine Wahl zum ersten Vorsitzenden des Vereins sowie deren Eintragung ins Vereinsregister, seine Teilnahme am Kongress der KONGRA-GEL sowie seine Mitgliedschaft im Föderationsrat der YEK-KOM - führen, wenn nicht schon für sich allein, so jedenfalls in Rahmen einer Gesamtschau, in die die erwähnte strafgerichtliche Verurteilung durch das Amtsgericht E. ebenso einzufließen hat wie die vom Kläger maßgeblich beeinflussten öffentlichen Veranstaltungen (Durchführung einer öffentlichen Versammlung auf dem Rathausvorplatz in E. am 4. Februar 2004 zum Thema "Menschenunwürdige Behandlung von A. Öcalan/ Freiheit für Öcalan", Aufstellen eines Info-Standes in der Fußgängerzone von E. am 21. April 2004 zum Verteilen von Handzetteln, Aufstellen eines Info-Standes des "Kurdischen Kulturhauses E. e. V." in der Fußgängerzone von E. am 23. November 2005), neben dem Vorbringen des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 7. Juli 2006 und dem dabei von ihm hinterlassenen Eindruck dazu, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

Exilpolitische Aktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland begründen ein beachtlich wahrscheinliches Verfolgungsrisiko für türkische Staatsangehörige im Allgemeinen nur, wenn sich der Betreffende politisch exponiert hat, wenn sich also seine Betätigung deutlich von derjenigen der breiten Masse abhebt (vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -, S. 80 des amtlichen Umdrucks).

Nicht beachtlich wahrscheinlich zu politischer Verfolgung führen demgegenüber exilpolitische Aktivitäten niedrigen Profils. Dazu gehören alle Tätigkeiten von untergeordneter Bedeutung. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass der Beitrag des Einzelnen entweder - wie bei Großveranstaltungen - kaum sichtbar oder zwar noch individualisierbar ist, aber hinter den zahllosen deckungsgleichen Beiträgen anderer Personen zurücktritt. Derartige Aktivitäten sind ein Massenphänomen, bei denen die Beteiligten ganz überwiegend nur die Kulisse abgeben für die eigentlich agierenden Wortführer (vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -, S. 84 des amtlichen Umdrucks).

Zu den exilpolitischen Aktivitäten niedrigen Profils zählen auch die mit einer schlichten Vereinsmitgliedschaft verbundene regelmäßige Zahlung von Mitgliedsbeiträgen sowie von Spenden, schlichte Teilnahme an Demonstrationen, Hungerstreiks, Autobahnblockaden, Informationsveranstaltungen oder Schulungsseminaren, Verteilung von Flugblättern und Verkauf von Zeitschriften, Platzierung von namentlich gezeichneten Artikeln und Leserbriefen in türkischsprachigen Zeitschriften (vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -, S. 84 des amtlichen Umdrucks).

Eine exponierte exilpolitische Tätigkeit im Zusammenhang mit öffentlichen Veranstaltungen liegt etwa vor, wenn der Asylsuchende bestimmenden Einfluss auf Zeitpunkt, Ort, Ablauf oder - vor allem - auf den politischen Inhalt der Veranstaltung hat, also in den Augen der türkischen Sicherheitskräfte in der Rolle des "Aufwieglers" und Anstifters zum Separatismus agiert. Dies ist etwa anzunehmen für Leiter von größeren und öffentlichkeitswirksamen Demonstrationen und Protestaktionen sowie Redner auf solchen Veranstaltungen, nicht aber schon für denjenigen, der bei der Anmeldung gegenüber der deutschen Polizei rein formell als Versammlungsleiter aufgeführt ist (vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -, S. 88 f. des amtlichen Umdrucks).

Die Mitgliedschaft in einer nach deutschem Recht legalen Exilorganisation ist für sich genommen nach türkischem Recht nicht strafbar. Anderes gilt nur dann, wenn die konkreten Aktivitäten eines Vereinsmitgliedes den Verdacht einer Straftat begründen, etwa wegen tatsächlicher oder vermuteter Verbindungen zur PKK oder wegen einer Meinungsäußerung, die nach den dargestellten Maßstäben und aus der Sicht des türkischen Staates eine Einflussnahme auf die türkische Innenpolitik darstellt. Ob dies der Fall ist, hängt im wesentlichen davon ab, welche politischen Ziele die jeweilige Exilorganisation verfolgt und welche Stellung der Asylsuchende dort innehat. Im Blickpunkt der türkischen Sicherheitskräfte stehen vor allem diejenigen exilpolitischen Vereinigungen, die als von der PKK bzw. ihren Nachfolgeorganisationen dominiert oder beeinflusst gelten oder die von türkischer Seite als vergleichbar militant staatsfeindlich eingestuft werden. Dazu sind insbesondere Vereine zu zählen, die der in der Türkei illegalen und als terroristisch eingestuften TKP/ML sowie deren Unterorganisationen wie etwa der ATIF (Föderation türkischer Arbeitervereine in Deutschland) zuzurechnen sind. Dasselbe gilt für die Mitglieder oder Delegierten des von 1995 bis 1999 bestehenden kurdischen Exilparlaments in C. bzw. des seit 1999 bestehenden kurdischen Nationalkongresses, aus dessen Reihen etwa der erste Vorsitzende des KONGRA-GEL, Zübeyir Aydar, stammt (vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -, S. 93 des amtlichen Umdrucks).

Ferner kommen die in den Verfassungsschutzberichten des Bundes bzw. der Länder oder die in behördlichen Auskünften als extremistisch eingeschätzten Gruppen in Betracht (vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -, S. 94 des amtlichen Umdrucks).

Ob Vorstandsmitglieder sonstiger Vereine einem Verfolgungsrisiko in der Türkei ausgesetzt sind, hängt von Größe, politischer Ausrichtung, Dauer, Umfang und Gewicht der Aktivitäten sowie von anderen insoweit bedeutsamen Umständen des Einzelfalles ab. Handelt es sich um einen Verein, dessen Einzugsbereich örtlich oder regional begrenzt ist, so kann es für die Einschätzung des Verfolgungsrisikos eine Rolle spielen, ob jener als Mitgliedsverein einer Dachorganisation angehört, die bei türkischen Stellen als staatsfeindlich gilt (vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -, S. 95 des amtlichen Umdrucks).

Gemessen an diesen Grundsätzen droht dem Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei namentlich aufgrund seiner Tätigkeit als erster Vorsitzender des "Kurdischen Kulturhauses E. e. V." mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.

Der Verein "Kurdisches Kulturhaus E. e.V." ist zunächst ebenso wie die YEK-KOM nach wie vor zu den Exilorganisationen zu zählen, die zumindest als von der PKK bzw. dem KADEK/KONGRA-GEL beeinflusst gelten können.

Damit gehören der Dachverband YEK-KOM und der Verein "Kurdisches Kulturhaus E. e.V." zu den Exilorganisationen, die der besonderen Beobachtung durch türkische Stellen in Deutschland unterliegen und deren eingetragene Vorstandsmitglieder somit grundsätzlich einem hohen Verfolgungsinteresse des türkischen Staates ausgesetzt sind.

Das von dem Kläger vor diesem Hintergrund zuletzt als erster Vorsitzender des "Kurdischen Kulturhauses E. e. V." entfaltete exilpolitische Engagement ist nach seiner Art und seinem Gewicht im Zuge einer Gesamtwürdigung als exponiert einzustufen und begründet solchermaßen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verfolgungsinteresse des türkischen Staates an seiner Person. Er ist bei seiner exilpolitischen Betätigung als Ideenträger und Initiator hervorgetreten und erfüllt als erster Vorsitzender des "Kurdischen Kulturhauses E. e. V." erkennbar Leitungsaufgaben mit inhaltlich-politischem Bezug.

Die Regelung des § 28 Abs. 2 AsylVfG steht der Feststellung, dass dem Kläger die in § 60 Abs. 1 AufenthG bezeichneten Gefahren im Falle einer Rückkehr in die Türkei drohen, nicht entgegen.

Der nach Art. 15 Abs. 3 des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern am 1. Januar 2005 in Kraft getretene § 28 Abs. 2 AsylVfG ist im vorliegenden Verfahren anwendbar. Denn gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist in asylverfahrensrechtlichen Streitigkeiten die Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgeblich. Eine Übergangsregelung, die hinsichtlich des § 28 Abs. 2 AsylVfG Abweichendes regelt, enthält das Asylverfahrensgesetz nicht; dessen § 87 b bezieht sich nur auf die Änderung des § 6 AsylVfG. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gilt für alle Streitigkeiten aufgrund dieses Gesetzes, womit das AsylVfG 1992 mit nachfolgenden Änderungen gemeint ist (vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. Juli 2005 - 8 A 780/04.A -, juris; siehe außerdem OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 5. Januar 2006 - 6 A 10761/05 -, juris; VG Osnabrück, Beschluss vom 10. Mai 2006 - 5 B 82/06 -, juris; VG Darmstadt, Urteil vom 12. Januar 2006 - 5 E 1549/03.A -, juris).

Danach könnte § 28 Abs. 2 AsylVfG die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG im Falle des Klägers grundsätzlich ausschließen.

§ 28 Abs. 2 AsylVfG schließt die Feststellung, dass dem Ausländer die in § 60 Abs. 1 AufenthG bezeichneten Gefahren drohen, im Falle des Vorliegens seiner Voraussetzungen "in der Regel" aus. Den Gegensatz zum Regelfall bilden Ausnahmefälle, die durch einen atypischen Geschehensablauf gekennzeichnet sind, der so bedeutsam ist, dass er jedenfalls das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigt. Die Regelversagung greift daher mit Blick auf den Sinn und Zweck des § 28 Abs. 2 AsylVfG im Allgemeinen dann ein, wenn aufgrund des Vorverhaltens offenkundig ist, dass alleiniger Zweck des geltend gemachten Nachfluchtgrunds die Aufenthaltssicherung - und damit der Missbrauch des Asylrechts - ist. Eine Ausnahme liegt demgegenüber z. B. vor, wenn der Nachfluchtgrund in einer bloßen Intensivierung eines früheren, nicht in den Anwendungsbereich des § 28 Abs. 2 AsylVfG fallenden Vorverhaltens liegt, also etwa bei einer Fortsetzung und Steigerung einer bereits vor Abschluss des Asylerstverfahrens gezeigten politischen Betätigung niedrigeren Profils (vgl. VG Darmstadt, Urteil vom 11. März 2005 - 5 E 806/03.A -, juris; VG Göttingen, Urteil vom 2. März 2005 - 4 A 38/03 - juris; Funke-Kaiser, in: Gemeinschaftskommentar zum AsylVfG, Band 2, Loseblatt, Stand Februar 2006, § 28 Rn. 49.1; siehe ferner zur Auslegung des § 28 Abs. 2 AsylVfG: VG Stuttgart, Urteil vom 18. April 2005 - A 11 K 12040/03 -, juris, demzufolge § 60 Abs. 1 AufenthG durch die Regel des § 28 Abs. 2 AsylVfG dann nicht ausgeschlossen sein könne, wenn Art. 33 Abs. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK -), einer Abschiebung entgegen stehe; sowie Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, § 28 AsylVfG Rn. 22, demzufolge sich eine verfassungskonforme Auslegung des § 28 Abs. 2 AsylVfG nur dadurch gewährleisten lasse, dass der Regelfall restriktiv ausgelegt und auf den Fall reduziert werde, dass ein offensichtlicher Missbrauch vorliege; OVG NRW, Urteil vom 12. Juli 2005 - 8 A 780/04.A -, juris, lässt offen, in welchen Fällen ein ausnahmsweises Abweichen von dem gesetzlichen Regelfall in Betracht kommt, jedenfalls ermögliche § 28 Abs. 2 AsylVfG lediglich ein Abweichen zugunsten des Schutzsuchenden).

So liegt es aufgrund der Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalls hier.