VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 08.02.2006 - 23 K 4033/03 - asyl.net: M8601
https://www.asyl.net/rsdb/M8601
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Ausreisehindernis, Aufenthaltsdauer, Integration, Lebensunterhalt, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Privatleben, Situation bei Rückkehr, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Serbien und Montenegro, Kosovo, Ashkali, Sprachkenntnisse, Rentenanwartschaft, Visum nach Einreise
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5; EMRK Art. 8; AufenthG § 5 Abs. 3 2. Hs.
Auszüge:

Die Kläger haben einen Anspruch auf die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen.

Der Rechtsanspruch ergibt sich aus § 25 Abs. 5 AufenthG.

Für die Klägerin zu 6) ergibt sich ein rechtliches Ausreisehindernis aus dem "Anspruch auf Achtung ihres Privatlebens" gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK. Dieses Recht ist weit zu verstehen und umfasst seinem Schutzbereich nach u.a. das Recht auf Entwicklung der Person und das Recht darauf, Beziehungen zu anderen Personen und der Außenwelt anzuknüpfen und zu entwickeln (vgl. EGMR (Große Kammer) Urteil vom 13.02.2003 - 42326/98 -, NJW 2003, 2145, 2146) und damit auch die Gesamtheit der im Land des Aufenthalts gewachsenen Bindungen. In dieses Recht würde durch eine Abschiebung der Klägerin zu 6) eingegriffen. Ein solcher Eingriff wäre auch nicht nach Art. 8 Abs. 2 EMRK zulässig. Die danach gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung (vgl. hierzu und zu den nach der Rechtsprechung des EGMR beachtlichen Kriterien Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 01.03.2004 - 2 BvR 1570/03 -, InfAuslR 2004, 280, 282 f) ergibt, dass eine Abschiebung der Klägerin zu 6) in den Kosovo unverhältnismäßig wäre. Sie hat sich in einem Maße in die hiesigen Lebensverhältnisse im Bundesgebiet integriert, dass ihr das Verlassen des Bundesgebietes und die Rückführung in den Kosovo nicht zugemutet werden kann (vgl. auch OVG NW, Beschluss vom 21.07.2005 - 19 B 939/05 -).

Die Klägerin zu 6) reiste im Jahre 1992 im Alter von vier Jahren in das Bundesgebiet ein, ist hier aufgewachsen und hat ihre Integration weitgehend erfolgreich abgeschlossen. Sie weist alle Merkmale eines sog. "faktischen Inländers" auf. Nach den vorgelegten Bescheinigungen des Schulleiters sowie der Lehrerin, die in der Klasse der Klägerin zu 6) vier Jahre lang Klassenlehrerin war, war sie von Anfang in die Klassengemeinschaft integriert. Aufgrund ihrer Sprachkenntnisse konnte die Klägerin zu 6) auch problemlos den beiden mündlichen Verhandlungen im vorliegenden Verfahren folgen. Sie hat dem Gericht erklärt, dass sie nur mit Mühe albanisch sprechen könne. Der Kosovo sei für sie ein fremdes Land. Dies ist nach Auffassung des Gerichts einleuchtend, da die Klägerin zu 6) ihre gesamte, erfolgreich vollzogene Sozialisation im Bundesgebiet erfahren hat. Im Rahmen der Gesamtschau, die bei einer Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Rahmen von Art. 8 EMRK vorzunehmen ist, ist ferner zu berücksichtigen, dass sie nicht nur in ein für sie fremdes Land verbracht würde, sondern - als Angehörige des Volkes der Ashkali - dort überdies in eine besonders schwierige soziale Situation geriete (vgl. zur Berücksichtigung dieses Umstandes Benassi, "Zur praktischen Bedeutung des § 25 Abs. 4 und 5 AufenthG", InfAuslR 2005, 357 ff, 360. Zur Anwendung von Art. 8 EMRK im Rahmen von § 25 Abs. 5 AufenthG vgl. auch VG Stuttgart, Urteil vom 24.06.2004 - 11 K 4809/03 -, InfAuslR 2005, 106 ff sowie VG Darmstadt, Beschluss vom 21.12.2005 - 8 G 2120/05(2) - ).

Das sich aus Art. 8 EMRK ergebende Ausreisehindernis der Klägerin zu 6) entfällt nicht dadurch, dass die Klägerin noch minderjährig ist. Allerdings wird minderjährigen Kindern nicht ohne weiteres ein von ihren Eltern unabhängiges Aufenthaltsrecht gewährt. Das Gericht geht jedoch davon aus, dass nach § 25 Abs. 5 AufenthG Minderjährigen eine eigenständige Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, wenn die Voraussetzungen eines Ausreisehindernisses nach Art. 8 EMRK vorliegen. Gemäß Art. 8 EMRK kann sie sich auf ein eigenständiges Recht berufen, denn nach dieser Regelung hat "jedermann" Anspruch auf entsprechenden Schutz. Diese Auffassung widerspricht auch nicht - wie das VG Stuttgart in seinem Urteil vom 11.10.2005 - 11 K 5363 - zu Recht ausführt - der Konzeption des Aufenthaltsgesetzes. Denn dieses billigt zum Beispiel in seinem § 37 beim Recht auf Wiederkehr Ausländern bereits nach Vollendung des 15. Lebensjahres (also noch als Minderjährigen) unter den dort genannten Voraussetzungen ein eigenständiges Recht zu. Eine Versagungsmöglichkeit liegt gemäß § 37 Abs. 3 Nr. 3 im Ermessen der Behörde, wenn die persönliche Betreuung des Minderjährigen im Bundesgebiet nicht gewährleistet ist.

Die Klägerin zu 6) hat ihre Integrationsleistungen auch in einer Zeit erbracht, in der sie nicht ernsthaft eine Rückkehr in ihr Heimatland in Betracht ziehen musste (vgl. hierzu OVG NW, Beschluss vom 16.09.2005 - 19 B 1442/05 -; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 02.12.2005 - 11 S 1099/04 -).

Als Minderjährige kam eine alleinige Rückkehr in ihr Heimatland nicht in Betracht. Insoweit war sie auf ihre Eltern angewiesen.

Der Kläger zu 1) stellt seit Mitte 2001 ohne Unterbrechung den Lebensunterhalt seiner sechsköpfigen Familie insoweit sicher, als diese keine Sozialhilfeleistungen mehr in Anspruch nehmen muss. Wie er glaubhaft vorgetragen hat, hätte er das Arbeitsverhältnis bei demselben Arbeitgeber auch schon im Jahre 1999 begründen können, wenn ihm seinerzeit eine Arbeitserlaubnis hierfür erteilt worden wäre. Sein Arbeitgeber hat in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass auf Grund der Auftragslage der Firma davon auszugehen sei, dass die Arbeitsstelle des Klägers zu 1) auf Jahre hinaus gesichert sei. Dieser wird also auch in der absehbaren Zukunft in der Lage sein, den Lebensunterhalt seiner Familie sicherzustellen.

Ferner hat der Kläger zu 1) durch die Art und Weise seiner Erwerbstätigkeit eine schützenswerte Integrationsleistung in das Wirtschaftsleben im Bundesgebiet erbracht. Aus den Bescheinigungen seines Arbeitgebers vom Mai 2003 und vom September 2005 und dessen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung lässt sich entnehmen, dass er als Vorarbeiter einer Handwerkergruppe tätig ist und diese Tätigkeit zur vollsten Zufriedenheit sowohl des Arbeitgebers als auch der Kunden durchführt.

Bei der Frage der Integration sind auch die zwischenzeitlich erworbenen Rentenanwartschaften des Klägers zu 1) zu berücksichtigen.

Das Gericht hat sich in der mündlichen Verhandlung selbst einen Eindruck davon verschaffen können, dass der Kläger zu 1) die deutsche Sprache vollkommen beherrscht. Nach alledem spricht vieles dafür, dass der - nicht vorbestrafte - Kläger zu 1) ebenfalls die Merkmale eines sogenannten "faktischen Inländers" aufweist.

Es gibt auch keine Gründe, wonach die von ihm erbrachten Integrationsleistungen unberücksichtigt bleiben müssten. Nach der Rechtsprechung zu § 30 Abs. 4 AuslG wäre dies der Fall, wenn er seiner Obliegenheit nicht nachgekommen wäre, alles in seiner Kraft Stehende und ihm Zumutbare dazu beizutragen, dass etwaige Abschiebungshindernisse überwunden werden könnten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16.12.1998 - 1 B 105.98 -, InfAuslR 1999, 110; OVG NW, Beschluss vom 01.06.2005 - 18 B 677/05 -).Dem Kläger zu 1) sind keine Versäumnisse in Bezug auf die berwindung zeitweiliger Abschiebungshindernisse in den Kosovo anzulasten.

Das Gericht lässt die Frage, ob Art. 8 Abs. 1 EMRK beim Kläger zu 1) in der Variante "Anspruch auf Achtung des Privatlebens" durchgreift, letztlich offen. Denn eine Unklarheit besteht beim Kläger zu 1) insofern, als er im Zeitpunkt seiner Einreise in das Bundesgebiet bereits 24 Jahre alt war und damit seine wesentliche Prägung im Kosovo erhalten hat.

Der Kläger kann sich jedenfalls auf den in Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 6 GG eröffneten Schutz des Familienlebens berufen, da die Klägerin zu 6) noch minderjährig ist.

Da alle Kläger seit mehr als 18 Monaten im Besitz von Duldungen sind, greift zu ihren Gunsten die "Sollbestimmung" des § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG ein. Ein Ausnahmefall ist nicht erkennbar.

Das Ermessen des Beklagten ist auch insoweit auf die Erteilung der Aufenthaltserlaubnisse reduziert, als die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG nicht erfüllt sind, davon aber abgesehen werden kann, Abs. 3 2. Halbsatz.

Eine Nachholung des Visumsverfahrens ist angesichts beruflichen Verpflichtungen des Klägers zu 1) und der Schulpflicht der Kläger zu 4) bis 6) unzumutbar.