BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Urteil vom 08.12.2006 - 2 BvR 1339/06 - asyl.net: M9308
https://www.asyl.net/rsdb/M9308
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Staatsangehörigkeitsrecht, Staatsangehörigkeit, deutsche Staatsangehörigkeit, Verlust, Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit, Wiedereinbürgerung, Verhältnismäßigkeit, Rückwirkung, Vertrauensschutz
Normen: StAG § 25; GG Art. 16 Abs. 1 S. 1; GG Art. 20 Abs. 3; GG Art. 28 Abs. 1; BVerfGG § 83a Abs. 2
Auszüge:

Die Voraussetzungen, unter denen eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen ist (§ 93a Abs. 2 BVerfGG), liegen nicht vor.

Die den angegriffenen Entscheidungen zugrunde liegende Annahme, dass der auf einen am 11. Juni 1999 gestellten Antrag hin nach dem 1. Januar 2000 erfolgte Erwerb der türkischen Staatsangehörigkeit bei dem im Inland wohnhaften Beschwerdeführer gemäß § 25 StAG in der am 1. Januar 2000 in Kraft getretenen Fassung des Gesetzes zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15. Juli 1999 (BGBl I S. 1618) zum Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit geführt hat, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

1. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG ist nicht verletzt. Eine danach verbotene Entziehung der Staatsangehörigkeit ist jede Verlustzufügung, die die - für den Einzelnen und für die Gesellschaft gleichermaßen bedeutsame - Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit beeinträchtigt (vgl. Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Mai 2006 - 2 BvR 669/04 -, NVwZ 2006, S. 807 <809> = EuGRZ 2006, S. 435 <441>). In der den angegriffenen Entscheidungen zugrunde liegenden Annahme, der Beschwerdeführer habe die deutsche Staatsangehörigkeit nach § 25 StAG in der derzeit gültigen Fassung verloren, liegt eine solche Beeinträchtigung nicht. Bei dem demgemäß eingetretenen Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit handelt es sich insbesondere nicht um eine Verlustzufügung, die der Betroffene nicht oder nicht auf zumutbare Weise beeinflussen konnte und die aus diesem Grund als Entziehung einzustufen wäre (vgl. BVerfG, a.a.O.).

a) Eine gesetzliche Regelung, die den Verlust der Staatsangehörigkeit an den freiwilligen, antragsgemäßen Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit knüpft, begegnet keinen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Zwar tritt der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit ohne hierauf gerichteten Antrag als automatische Rechtsfolge ein, wenn der Betroffene den gesetzlichen Tatbestand verwirklicht hat und keine Ausnahmen (vgl. § 25 Abs. 2 StAG) gegeben sind. Der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit ist jedoch nicht die Folge eines allein auf dem Willen des Staates zur Wegnahme der deutschen Staatsangehörigkeit beruhenden Aktes, sondern er tritt aufgrund von Handlungen des Betroffenen ein, die auf einem selbstverantwortlichen und freien Willensentschluss gegründet sind. Der Betroffene hat es selbst in der Hand, die deutsche Staatsangehörigkeit zu behalten, sei es, dass er auf den Erwerb der ausländischen Staatsangehörigkeit verzichtet, sei es, dass er nach § 25 Abs. 2 StAG vor Erwerb der ausländischen Staatsangehörigkeit eine Genehmigung zur Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit einholt (vgl. zum früheren § 25 RuStAG Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Juni 1990 - 2 BvR 116/90 -, NJW 1990, S. 2193; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. August 2001 - 2 BvR 2101/00 -, NVwZ 2001, S. 1393).

Die nach Lage des geltenden einfachen Rechts beim Antragserwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit unter Umständen sich ergebende Notwendigkeit, sich zwischen der deutschen und der ausländischen Staatsangehörigkeit zu entscheiden, ist auch nicht als solche schon unzumutbar. Sie ist Folge der Entscheidung des Gesetzgebers gegen eine uneingeschränkte Hinnahme von Mehrstaatigkeit. Diese Entscheidung ist ihrerseits, soweit bei der näheren Ausgestaltung Grundrechte der Betroffenen beachtet werden, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. BVerfGE 37, 217 <257>). Dementsprechend kann es nicht als schon für sich genommen unzumutbar gelten, dass nach der Grundregel des § 25 Abs. 1 StAG die Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit daran geknüpft ist, dass kein Antragserwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit stattfindet.

b) Ebensowenig bewirkt die Anwendung des § 25 StAG in der am 1. Januar 2000 in Kraft getretenen Fassung auf Inlandsdeutsche, die den Antrag auf Erwerb der ausländischen Staatsangehörigkeit bereits vor dem Inkrafttreten dieser Vorschrift gestellt hatten, eine Entziehung der Staatsangehörigkeit.

Zur Verlässlichkeit des Staatsangehörigkeitsstatus, die Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisten will, gehört allerdings auch die Vorhersehbarkeit eines Verlusts und damit ein ausreichendes Maß an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit im Bereich der staatsangehörigkeitsrechtlichen Verlustregelungen (vgl. Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Mai 2006 - 2 BvR 669/04 -, NVwZ 2006, S. 807 <809> = EuGRZ 2006, S. 435 <441>).

An der verfassungsrechtlich gebotenen Vorhersehbarkeit des Staatsangehörigkeitsverlusts und der dazu erforderlichen Normenklarheit (vgl. BVerfGE 108, 52 <75>) fehlte es jedoch auch für Fälle wie den vorliegenden nicht.

aa) Der Wortlaut des § 25 Abs. 1 StAG weckt keinen Zweifel daran, dass die Bestimmung in ihrer geltenden Fassung Fälle des Erwerbs einer ausländischen Staatsangehörigkeit auch dann erfasst, wenn der zugrunde liegende Antrag schon vor ihrem Inkrafttreten gestellt wurde.

Weder die Entstehungsgeschichte des Änderungsgesetzes vom 15. Juli 1999 noch der aus ihr ersichtliche Sinn und Zweck der Neufassung des Verlusttatbestandes deuten in eine andere Richtung.

Die Auslegung der Vorschrift führt demnach - ohne dass Anhaltspunkte bestünden oder auch nur Unklarheiten überwunden werden müssten, auf die Betroffene sich für ein entgegengesetztes Vertrauen berufen könnten - zu dem Ergebnis, dass für die Anwendbarkeit der Vorschrift allein der Erwerb der ausländischen Staatsangehörigkeit nach dem Inkrafttreten, das heißt dem 1. Januar 2000, maßgeblich ist. Ob der darauf gerichtete Antrag vor oder nach diesem Zeitpunkt gestellt wurde, ist dagegen unerheblich.

bb) Die Anwendbarkeit des § 25 StAG auf Anträge, die vor dem Inkrafttreten der Vorschrift gestellt wurden, läuft auch nicht dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Vertrauensschutz zuwider.

Nach diesen Grundsätzen steht ein verfassungsrechtlicher Vertrauensschutz der Anwendung des neu gefassten § 25 StAG auch in den Fällen nicht entgegen, in denen, wie hier, der Antrag auf Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit bereits vor der Verkündung der Neufassung der Vorschrift im Bundesgesetzblatt vom 23. Juli 1999 gestellt worden ist.

Es liegt hier keine Rückbewirkung von Rechtsfolgen, sondern eine tatbestandliche Rückanknüpfung vor. Denn die Rechtsfolge des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit trat bei dem in Rede stehenden Personenkreis nicht bereits vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts am 1. Januar 2000, sondern erst von diesem Zeitpunkt an ein, soweit auf einen zuvor gestellten Antrag hin eine ausländische Staatsangehörigkeit nach diesem Zeitpunkt wirksam erworben wurde. Da die Verlustfolge erst an den Erwerb und nicht an die bloße Antragstellung geknüpft ist, greift die Regelung, soweit sie auf Fälle einer schon vor Verkündung oder Inkrafttreten erfolgten Antragstellung angewendet wird, entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht nachträglich ändernd auf einen bereits abgeschlossenen Sachverhalt zu. § 25 StAG sieht einen gestreckten Verlusttatbestand vor: In dem Antrag liegt lediglich der Beginn der Tatbestandsverwirklichung; abgeschlossen wird der Tatbestand durch den Erwerb der ausländischen Staatsangehörigkeit, der den Verlust der deutschen auslöst. Dies ist der typische Fall einer tatbestandlichen Rückanknüpfung - die Rechtsfolgen des Gesetzes treten erst nach Verkündung ein, ein Teil des Tatbestandes wird aber bereits zuvor verwirklicht (vgl. BVerfGE 109, 133 <181>). Im vorliegenden Fall wurde die Neuregelung des § 25 StAG am 23. Juli 1999 verkündet; der Beschwerdeführer hat den Antrag auf Erwerb der türkischen Staatsangehörigkeit am 11. Juni 1999 gestellt und somit deren Erwerb am 5. Februar 2001 bereits vor der Verkündung "ins Werk gesetzt".

(a) Die Erstreckung der Verlustregelung auf vor der Verkündung gestellte Anträge war zur optimalen Erreichung des vom Gesetzgeber verfolgten Ziels geeignet und erforderlich. Der Gesetzgeber bezweckte mit der Neuregelung, einen vielbegangenen Weg zur Erlangung mehrfacher Staatsangehörigkeiten abzuschneiden, dessen Nutzung er als Umgehung der von ihm verfolgten Politik der Begrenzung von Mehrstaatigkeit erachtete (BTDrucks 14/533, S. 12, 15). Es liegt auf der Hand, dass dieser Zweck am besten durch eine Regelung zu erreichen war, die nicht nur die Fälle erfasst, in denen der Antrag auf Erwerb der ausländischen Staatsangehörigkeit erst nach Verkündung oder Inkrafttreten gestellt wird.

(b) Bestandsinteressen der Betroffenen führen nicht zur Unzulässigkeit der Rückanknüpfung.

Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Reihe von Entscheidungen angenommen, dass Betroffene bereits vom Tag eines Gesetzesbeschlusses an mit der Verkündung und dem Inkrafttreten der Neuregelung rechnen mussten und einen Schutz des Vertrauens auf den Fortbestand der bisherigen Gesetzeslage von da an nicht mehr in Anspruch nehmen konnten (vgl. nur BVerfGE 27, 167 <174>; 72, 200 <257, 261>; 95, 64 <87>; 97, 67 <79>; dagegen Bundesfinanzhof, Vorlagebeschluss vom 2. August 2006 - XI R 34/02 - juris, Rn. 64 ff. m.w.N.). Ginge man von der Anwendbarkeit eines entsprechenden Grundsatzes für den vorliegenden Fall aus, so käme ein Vertrauensschutz, der den Beschwerdeführer vor der in § 25 StAG vorgesehenen Rechtsfolge bewahrt, schon deshalb nicht in Betracht, weil der Bundestag die Neuregelung des § 25 StAG am 7. Mai 1999 beschlossen (vgl. Plenarprotokoll 14/40, S. 3415 <3464>) und der Beschwerdeführer erst danach - am 11. Juni 1999 - seinen Antrag auf Rückerwerb der türkischen Staatsangehörigkeit gestellt hat.

Der Beschwerdeführer kann hier aber auch unabhängig von diesem Gesichtspunkt Vertrauensschutz im Ergebnis nicht beanspruchen. Die Disposition, die der Beschwerdeführer mit seinem vor Verkündung der Neuregelung gestellten Antrag auf Rückerwerb der türkischen Staatsangehörigkeit getroffen hat, war schon insofern allenfalls eingeschränkt schutzwürdig, als sie noch nach Verkündung und sogar nach dem Inkrafttreten der Neufassung des § 25 StAG - und damit zu einem Zeitpunkt, in dem ein verfassungsrechtlicher Schutz des Vertrauens auf den Fortbestand der bisherigen Regelung jedenfalls nicht mehr bestand - ohne besonderen Aufwand hätte rückgängig gemacht werden können.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer besonderen Anlass hatte, sich über die Rechtsfolgen des von ihm gestellten Antrags auf Rückerwerb der türkischen Staatsangehörigkeit auf dem Laufenden zu halten. Das Vorhaben eines deutschen Staatsangehörigen, den Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit zu beantragen, bietet bereits als solches Veranlassung, sich über etwaige Auswirkungen auf den Bestand der deutschen Staatsangehörigkeit zuverlässig zu informieren (vgl. zur Zumutbarkeit von Informationsobliegenheiten im Staatsangehörigkeitsrecht bereits Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Januar 1999 - 2 BvR 729/96 -, NVwZ-RR 1999, S. 403 <404>). Diese Obliegenheit endete unter den hier vorliegenden besonderen Umständen nicht mit der Antragstellung.

Die Bedeutung, die das geltende deutsche Staatsangehörigkeitsrecht trotz verschiedener Ausnahmen im Grundsatz bis heute der Vermeidung von Mehrstaatigkeit zumisst, stand dem Beschwerdeführer, als er den Antrag auf Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit stellte, angesichts des eben erst abgeschlossenen Einbürgerungsverfahrens, in dem ihm die Aufgabe seiner türkischen Staatsangehörigkeit abverlangt worden war, deutlich vor Augen. Von daher musste ihm bewusst sein, dass er durch die sofortige Wiederbeantragung der türkischen Staatsangehörigkeit einen Umweg zu der Doppelstaatsangehörigkeit wählte, die ihm der Gesetzgeber mit den geltenden einbürgerungsrechtlichen Bestimmungen gerade verwehren wollte, und dass er sich insofern anschickte, eine Gesetzeslücke zu nutzen. Dies zu tun, stand ihm frei; er konnte aber nicht darauf zählen, dass der Gesetzgeber keine Anstalten treffen würde, diese Absicht zu durchkreuzen. Schon das Vertrauen auf den Fortbestand einer nicht systemkonformen Norm ist nur eingeschränkt schutzwürdig (vgl.BVerfGE 97, 378 <389>). Erst recht kann daher die Erwartung, eine Gesetzeslücke werde erhalten bleiben, nicht unter allen Umständen in der Weise geschützt sein, dass es dem, der von ihr Gebrauch machen will, von Verfassungs wegen erspart bleiben müsste, sich im Zuge seiner diesbezüglichen Bemühungen über anstehende Rechtsänderungen auf dem Laufenden zu halten und sein Verhalten gegebenenfalls rechtzeitig anzupassen.

Das gilt umso mehr, wenn eine Neuregelung seit längerer Zeit im Gespräch war (vgl. BVerfGE 97, 67 <81 f.>).