VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.11.2006 - 13 S 2435/05 - asyl.net: M9429
https://www.asyl.net/rsdb/M9429
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Gemeinschaftsrecht, Unionsbürger, Familienangehörige, Stiefkinder, Untätigkeitsklage, Aufenthaltserlaubnis-EG, Rückwirkung, Rechtsschutzinteresse, Beurteilungszeitpunkt, Wohnung, Wohnung nehmen, Schutz von Ehe und Familie, Freizügigkeit
Normen: VwGO § 75; AufenthG/EWG § 7 Abs. 1; VO 1612/68 Art. 10; VO 1612/68 Art. 11; AufenthG/EWG § 1 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG/EWG § 1 Abs. 2 Nr. 1; RL 2004/38/EG Art. 2 Nr. 2; EMRK Art. 8
Auszüge:

I. 1.) Die Untätigkeitsklage ist im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats zulässig (§ 75 Sätze 1 und 2 VwGO).

2.) Für die Klage besteht auch ein Rechtsschutzbedürfnis, obwohl die Kläger die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis-EG rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Antragstellung und damit jedenfalls teilweise für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum begehren. Denn die rückwirkende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis-EG kann für ihre weitere aufenthaltsrechtliche Stellung erheblich sein (vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 29.9.1998 - 1 C 14.97 -, InfAuslR und vom 15.12.1995 - 1 C 31.93 -, InfAuslR 1996, 168).

II. Die Klage ist auch begründet.

1.) Anspruchsgrundlage ist § 7 Abs. 1 des am 31.12.2004 außer Kraft getretenen Aufenthaltsgesetzes/EWG. In europarechtlicher Hinsicht sind Art. 10 und 11 VO 1612/68 zu berücksichtigen, obwohl sie durch Art. 38 Abs. 1 RL 2004/38/EWG mit Ablauf des 30.4.2006 aufgehoben worden sind. Zwar ist bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz maßgebend, jedenfalls soweit es darum geht, ob der Aufenthaltstitel aus Rechtsgründen erteilt oder versagt werden muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.2.2001 - 1 C 23.00 -, BVerwGE 114, 9/12 m.z.N.). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt jedoch bei zeitgebundenen Ansprüchen. Bei diesen wird die maßgebliche Sach- und Rechtslage durch den in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt bzw. Zeitraum bestimmt (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 7.5.1975 - VII C 37.73 - und - VII C 38.73 -, BVerwGE 48, 211/213 sowie Sodan/Ziekow, a.a.O., Rn 129 zu § 113 und Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 14. Aufl., Rn 220 zu § 113).

2.) Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 AufenthG/EWG sind gegeben.

2.1.) Die als Arbeitnehmerin im Bundesgebiet tätige, griechische Ehefrau des Vaters der Kläger ist gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG/EWG freizügigkeitsberechtigt und dementsprechend ebenso wie ihr Mann, der Vater der Kläger, im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis-EG (§ 3 Abs. 1 AufenthG/EWG). Die Kläger sind - wie das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen hat - ihre Familienangehörigen im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG/EWG, denn entgegen dem insoweit zu eng gefassten Wortlaut sind Verwandte im Sinne dieser Bestimmung nicht nur die Verwandten in absteigender Linie (d.h. u.a. auch die Kinder) des Unionsbürgers selbst, sondern auch die seines Ehegatten, d.h. die Stiefkinder des Unionsbürgers (vgl. zu der mit § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG/EU wörtlich übereinstimmenden Regelung in Art. 10 Abs. 1a VO 1612/68/EWG das Urteil des EuGH vom 17.9.2002 - C-413/99 -, [Baumbast], InfAuslR 2002, 463, Rn 57).

2.2.) § 7 Abs. 1 letzter Hs. AufenthG/EWG verlangt weiter, dass der griechischen Ehefrau des Vaters der Kläger eine Wohnung für sich und ihre Familienangehörigen zur Verfügung gestanden hat, die den am Aufenthaltsort geltenden Maßstäben für die Angemessenheit einer Wohnung entspricht. Auch diese Voraussetzung ist gegeben.

Im Text des § 7 Abs. 1 AufenthG/EWG sind keine konkreten Kriterien benannt, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit eine Wohnung noch als angemessen gelten kann. Die nationalen Gericht haben - soweit ersichtlich - noch keine Entscheidungen getroffen, die sich ausdrücklich mit dieser Frage befassen. Da § 7 Abs. 1 letzter Hs. AufenthG/EWG fast wörtlich mit seinem europarechtlichen Vorbild, dem Art. 10 Abs. 3 VO 1612/68/EWG, übereinstimmt, kann indessen auch die Rechtsprechung des EuGH zu dieser Norm sowie die dazu einschlägige Literatur im Rahmen des § 7 Abs. 1 letzter Hs. AufenthG/EWG herangezogen werden.

Auch der EuGH hat diesbezüglich - soweit ersichtlich - keine konkrete Aussage getroffen, sondern in seinen Entscheidungen - entsprechend dem Wortlaut des Art. 10 Abs. 3 VO 1612/68 - nur darauf abgestellt, dass die Wohnung "normalen Anforderungen" genügen müsse (vgl. EuGH, Urteil vom 17.9.2002 - C-413/99 -, [Baumbast], InfAuslR 2002, 463, Rn 62).

Da die Wohnung mit Küche und Bad ausgestattet ist (vgl. zu diesen Kriterien Kloesel/Christ/Häußer, AuslR, Kommentar, 5. Aufl., Rn 4 zu § 7 AufenthG), können Zweifel an der Angemessenheit lediglich im Hinblick darauf bestehen, dass die Wohnung nur 53 qm groß ist und lediglich über 2 Zimmer für vier Personen verfügt.

In der Literatur wird dazu vertreten, die Maßstäbe für die Wohnungsgröße müssten sich aus Rechtsvorschriften ergeben, anderenfalls sei die Norm unanwendbar (vgl. von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Kommentar, 6. Aufl., 2003, Rn 102 zu Art. 39 EGV). § 17 Abs. 2 Nr. 2 AuslG, die im maßgeblichen Zeitraum geltende nationale ausländerrechtliche Norm, stellte für den Familiennachzug die Voraussetzung auf, dass "ausreichender Wohnraum" zur Verfügung stehen müsse. Zur Konkretisierung dieses Kriteriums wurde in der Kommentarliteratur auf die unterschiedlichen landesrechtlichen Vorschriften zum Wohnraumförderungsgesetz zurückgegriffen (vgl. §§ 5 WoBindG, 10 WoFG). Danach gilt in der Regel für eine Person bis 6 Jahren eine Wohnfläche von 10 qm und für eine ältere eine solche von 12 qm noch als angemessen (Renner, AuslR, Komm., 7. Aufl., Rn 20 zu § 17). 53 qm sind daher für die vierköpfige Familie ausreichend. Dies dürfte sich auch noch ergeben, wenn man auf die Wohnverhältnisse einer inländischen Familie in der wirtschaftlichen Situation des Vaters der Kläger und seine Ehefrau abstellt (vgl. zu diesem Ansatz Kloesel/Christ/Häußer, a.a.O.).

2.3.) Dass die Kläger mit ihrem Vater und dessen Ehefrau in einer Wohnung zusammenleben bzw. in der Vergangenheit zusammengelebt haben oder ein solches Zusammenleben für die Zukunft wenigstens anstreben, ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht Voraussetzung für die von den Klägern begehrte Aufenthaltserlaubnis-EG.

2.3.1.) Aus dem Wortlaut des § 7 Abs. 1 AufenthG/EWG ergibt sich dieses Tatbestandsmerkmal nicht. Das Verwaltungsgericht hat argumentiert, diese Bestimmung sei unter Rückgriff auf ihr europarechtliches Vorbild, den Art. 10 VO 1612/68/EWG, auszulegen. Aus dem Begriff "Wohnung nehmen" in Art. 10 Abs. 1 VO 1612/68/EWG sei zu folgern, dass die Aufenthaltserlaubnis-EG den Familienangehörigen nur erteilt werden könne, wenn das Zusammenleben der Familie in einer gemeinsamen Wohnung wenigstens angestrebt werde.

Diese Auffassung teilt der Senat nicht. Zunächst erscheint es bereits sehr zweifelhaft, ob eine europarechtliche Vorschrift herangezogen werden kann, um eine der Gewährleistung des europarechtlichen Freizügigkeitsrechts dienende Norm des nationalen Rechts einschränkend auszulegen. Letztlich kann diese Frage aber offen bleiben.

Auch das europarechtliche Vorbild des § 7 Abs. 1 AufenthG/EWG, der Art. 10 Abs. 1 VO 1612/68/EWG, verlangt nämlich nicht, dass die Familie in einer Wohnung zusammenlebt. Absatz 1 der letztgenannten Bestimmung enthält lediglich die Formulierung "dürfen ... Wohnung nehmen" ("have the right to install" im englischen Text bzw. "ont le droit de s’installer" im französischen Text - nicht "to domicile", wie die Kläger meinen). Der Gebrauch des Modalverbs "dürfen" bzw. der funktionsgleichen Begriffe im englischen und französischen Text lässt es als eher fern liegend erscheinen, dass damit eine tatbestandliche Voraussetzung normiert werden sollte (anders aber der Generalanwalt in seinem Schlussantrag in der bereits oben genannten Rechtssache 249/89 vor dem EuGH, Slg. 1989-5, Seite 1268/1279 und Hailbronner, Aufenthaltsbeschränkungen gegenüber EG-Angehörigen, ZAR 1985, 108/114).

Auch der EuGH hat wiederholt - wenn auch von einem anderen argumentativen Ansatz aus - entschieden, die Formulierung "Wohnung nehmen" bedeute nicht, dass der betreffende Familienangehörige ständig mit dem Arbeitnehmer mit EG-Staatsangehörigkeit zusammenleben müsse. Es genüge, wenn die Anforderungen aus Art. 10 Abs. 3 VO 1612/68/EWG erfüllt seien (vgl. EuGH, Urteile vom 13.2.1985 - Rs. 267/83 -, [Diatta], NJW 1985, 2087; vom 15.3.1989 - Rs. 389 und 390/87 -, [Echternach und Moritz], InfAuslR 1989, 219 und vom 17.9.2002 - C-413/99 -, [Baumbast], InfAuslR 2002, 463). Dem hat sich auch die Kommentarliteratur angeschlossen (vgl. von der Groeben/Schwarze, a.a.O., Rn 99 zu Art. 39 EGV und Calliess/Ruffert EUV/EGV, Kommentar, 2. Aufl., 2002, Rn 87 zu Art. 39 EGV).

2.3.2.) Wie ausgeführt, verlangt § 7 Abs. 1 letzter Hs. AufenthG/EWG allerdings, dass eine für die Familie angemessene Wohnung zur Verfügung steht. Eine Auslegung dieses Erfordernisses nach seinem Sinn und Zweck legt den Gedanken nahe, dass das - wenigstens zeitweilige - Zusammenleben der Familie in einer Wohnung Voraussetzung für die Aufenthaltserlaubnis/EG ist, weil es sonst funktionslos sein könnte (vgl. dazu noch näher unten). Dieser Argumentation ist jedoch gleichfallsnicht zu folgen. Eine Auslegung des § 7 Abs. 1 AufenthG/EWG in diesem Sinne würde dazu führen, dass die Freizügigkeitsgewährung nach nationalem Recht hinter den europarechtlichen Vorgaben zurückbliebe (zur europarechtlichen Problematik dieser Konstellation siehe bereits oben).

Gemäß Art. 10 Abs. 2 VO 1612/68/EWG begünstigen die Mitgliedsstaaten den Zugang aller nicht in Abs. 1 genannten Familienangehörigen, mit denen der freizügigkeitsberechtigte EU-Bürger im Heimatstaat in häuslicher Gemeinschaft lebt. Das Erfordernis aus Art. 10 Abs. 3 VO 1612/68/EWG, es müsse eine normalen Anforderungen entsprechende Wohnung vorhanden sein, bezieht sich nach dem Wortlaut der Bestimmung nicht nur auf die Familienzusammenführung gemäß Art. 10 Abs. 1 VO 1612/68/EWG, sondern auch auf Abs. 2 der genannten Bestimmung. Hätte der Verordnungsgeber ein Zusammenleben der Familie im Aufnahmemitgliedstaat in einer Wohnung oder wenigstens eine entsprechende Absicht verlangt, so hätte es nahe gelegen, dieses Erfordernis in den Verordnungstext aufzunehmen. Das Tatbestandsmerkmal "häusliche Gemeinschaft" war ihm - wie Art. 10 Abs. 2 VO 1612/68/EWG zeigt - als solches vertraut. Ein "Umweg" (Anforderungen an die Beschaffenheit der Wohnung in Art. 10 Abs. 3 VO 1612/68/EWG) drängte sich zur Erreichung dieses Regelungszwecks nicht auf.