VG Karlsruhe

Merkliste
Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 08.02.2007 - A 10 K 11056/05 - asyl.net: M9801
https://www.asyl.net/rsdb/M9801
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, religiös motivierte Verfolgung, religiöses Existenzminimum, Christen, Apostasie, Konversion, Scharia, Kinder, Sippenhaft
Normen: GG Art. 16a Abs. 1
Auszüge:

Die Familie des Klägers hat glaubhaft gemacht, zum Christentum übergetreten zu sein.

Es kann dahinstehen, ob der oben dargestellte Maßstab für eine Verfolgung bei Eingriffen in das religiöse Existenzminimum im Hinblick auf Art. 9 Abs. 1, 10 Abs. 1 b der Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie) zu erweitern und auf die öffentliche Glaubensbetätigung zu erstrecken ist. Denn dem Kläger wäre es nach den vorliegenden Erkenntnissen nicht möglich, seinen Glauben auch nur im internen Bereich zu bekennen. Ferner wäre das Leben aller Familienangehörigen bei Bekanntwerden des Glaubenswechsels der Eltern des Klägers bedroht.

Zur Vermeidung von Wiederholungen wird zunächst auf das den Beteiligten bekannte Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 11.01.2006 - A 10 K 10553/04 - im Verfahren der Eltern und Geschwister des Klägers Bezug genommen (ebenso VG Minden, Urt. v. 13.01.2005 - 9 K 5560/03.A -, juris; VG Göttingen, Urt v. 10.05.2006 - 4 A 210/03 - Milo). An der Sach- und Rechtslage hat sich auch im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts nichts geändert. Vielmehr wird die damalige Prognose, dass Konvertiten bei einer Rückkehr nach Afghanistan in asylerheblicher Weise gefährdet sind, durch den Fall des zum Christentum konvertierten Afghanen Abdul Rahman bestätigt, der von der afghanischen Staatsanwaltschaft angeklagt wurde und mit seiner Verurteilung zum Tode rechnen musste. Lediglich aufgrund erheblichen internationalen Drucks kam es zu seiner Freilassung. Rahman musste jedoch Afghanistan umgehend verlassen, um eine Ermordung durch islamische Fundamentalisten zu entgehen (vgl. hierzu etwa Süddeutsche Zeitung vom 22.03.2006, FAZ vom 29.03.2006, Die Welt v. 23.03.2006, Spiegel online v. 28. u. v. 29.3.2006).

Auch im Übrigen gibt es keine Anhaltspunkte für eine Verbesserung der Situation von Konvertiten. In der islamischen Rechtslehre besteht nach wie vor Einverständnis darüber, dass der Abfall vom Glauben ein todeswürdiges Verbrechen ist. Bereits unter der Herrschaft der Taliban mussten Konvertiten zum Christentum mit der Todesstrafe rechnen; es ist nicht ersichtlich, dass sich die Einstellung staatlicher Stellen gegenüber Konvertiten unter der Regierung Karzai in nachhaltiger Weise geändert hat. Die afghanische Verfassung enthält in Art. 3 einen Islamvorbehalt; die Sharia wird auch praktiziert. Auch in der afghanischen Gesellschaft gilt der Abfall vom Islam als denkbar schwerster religiöser Verstoß. Nach den vorliegenden Erkenntnissen wäre es in der fundamentalistischen, von Stammesmentalität geprägten afghanischen Gesellschaft, in der Großfamilien die Einhaltung der in der Gesellschaft herrschenden Werte überwachen, unmöglich, den christlichen Glauben auch nur im familiären Bereich ungehindert auszuüben. Vielmehr müssen Afghanen, die zum Christentum übergetreten sind oder auch nur in den Verdacht geraten, mit dem christlichen Glauben zu sympathisieren, mit mittelbaren und unmittelbaren staatlichen Verfolgungsmaßnahmen rechnen. Dies gilt nach den vorliegenden Erkenntnissen auch für die Kinder konvertierter Eltern, die selbst nicht konvertiert sind (vgl. zum Ganzen etwa AA, Lagebericht November 2005, Dr. Mostafa Danesch, Gutachten v. 13.05.2005 an V Braunschweig; AA v. 22.12.2004 an VG Hamburg, AA v. 05.04.2004 an VG Hannover, ai v. 28.07.2003 an VG Neustadt, Schweizerische Flüchtlingshilfe v. 1.3.2004 sowie die in den o.g. Urteilen zitierten Erkenntnisquellen).