VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 03.02.1999 - 7 UE 655/97.A - asyl.net: R620
https://www.asyl.net/rsdb/R620
Leitsatz:

1. Ob die Fiktion der Rücknahme des Asylantrags gemäß § 33 Abs. 2 AsylVfG in Anbetracht des Fehlens einer entsprechenden Regelung für das Asylgerichtsverfahren in § 81 AsylVfG auf Reisen in den Herkunftsstaat während des gerichtlichen Verfahrens überhaupt und bejahendenfalls mit welchen Maßgaben Anwendung findet, bleibt offen.

2. Die im Verlauf von bewaffneten Auseinandersetzungen seit Ende Februar/Anfang März 1998 vielfach erfolgten massiven Übergriffe der serbischen Sicherheitskräfte auf zivile Personen und Sachen außerhalb - insbesondere nach Abschluß - der eigentlichen Kampfhandlungen sind grundsätzlich asylrelevant, denn damit wurde bzw. wird die Grenze einer legitimen staatlichen Selbstverteidigung mit dem Ziel der Erhaltung der territorialen Integrität gegenüber gewaltsamen Sezessionsbestrebungen deutlich überschritten.

3. Albanischen Volkszugehörigen aus dem Kosovo - und zwar auch einem sachlich oder persönlich begrenzten Kreis von ihnen - drohte bzw. droht seit 1990 bis heute und in absehbarer Zukunft keine landes- oder kosovoweite und (läßt man die für den vorliegenden Fall rechtlich nicht maßgebende Zeit von März bis Oktober 1998 außer Betracht) auch keine auf Teilgebiete des Kosovo begrenzte unmittelbare oder mittelbare staatliche Gruppenverfolgung.

4. Hinsichtlich des vorgenannten Zeitraums bestehen weder hinreichend gesicherte Anhaltspunkte für die Annahme eines staatlichen Verfolgungsprogramms mit dem Ziel einer physischen Vernichtung, gewaltsamen Vertreibung oder sonst asylerheblichen Beeinträchtigung der gesamten oder eines sachlich oder persönlich begrenzten Teils der aus dem Kosovo stammenden albanischen Bevölkerung in der Bundesrepublik Jugoslawien, im ganzen Kosovo oder in Teilgebieten davon, noch ist die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte landes- oder kosovoweit oder begrenzt auf Teilgebiete des Kosovo gegeben.

5. Ob die von März bis Oktober 1998 in den umkämpften Gebieten zu verzeichnenden Verfolgungsschläge damals die zur Annahme einer auf diese Gebiete beschränkten erforderliche Verfolgungsdichte erreicht haben, ob bejahendenfalls eine regionale oder örtlich begrenzte Gruppenverfolgung anzunehmen wäre und ob letzterenfalls aus den betreffenden Gebieten stammende, aber unverfolgt ausgereiste Asylbewerber sich auf den fraglichen objektiven Nachfluchttatbestand, falls er fortbestünde, berufen könnten, bleibt offen.

6. Einem albanischen Volkszugehörigen aus dem Kosovo kann Individualverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit drohen, wenn weitere ihn in den Augen des jugoslawischen Staates belastende Umstände hinzutreten - etwa die Zugehörigkeit zu einem relativ stärker als die wehrpflichtigen Männer gefährdeten Personenkreis wie beispielsweise politische Aktivisten, in parallelen Strukturen tätige Personen, aktive Gewerkschafter, aus seit Ende Februar/Anfang März 1998 umkämpften Dörfern stammende jüngere Männer oder ehemalige Polizisten und Offiziere -, die eine Verfolgung zwar nicht unterschiedslos und ungeachtet sonstiger individueller Besonderheiten, aber doch in manchen Fällen nach Maßgabe weiterer Eigentümlichkeiten des im konkreten Einzelfall Betroffenen auslösen.

7. Ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK oder nach § 53 Abs. 6 AuslG steht albanischen Volkszugehörigen aus dem Kosovo schon deshalb regelmäßig nicht zur Seite, weil sie sich insoweit auf die bisher zu keiner Zeit umkämpften Gebiete im Ostkosvo sowie auf das übrige Serbien und auf Montenegro verweisen lassen müssen. (amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Jugoslawien, Kosovo, Albaner, Bürgerkrieg, Gebietsgewalt, Separatismusbekämpfung, Gruppenverfolgung, Vertreibung, Verfolgungsprogramm, Verfolgungsdichte, Regionale Gruppenverfolgung, Örtlich begrenzte Gruppenverfolgung, Objektive Nachfluchtgründe, Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Interne Fluchtalternative, Ostkosovo, Serbien, Montenegro, D (A), Verfahrensrecht, Nichtbetreiben des Verfahrens, Fiktionswirkung, Asylantrag, Rücknahme, Besuchsreise, Auslegung
Normen: AsylVfG § 33 Abs. 2; AsylVfG § 81; AuslG § 53 Abs. 4; AuslG § 53 Abs. 6 S. 1; AuslG § 54
Auszüge: