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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 03.03.2000 - 2 BvR 39/98 - asyl.net: R6370
https://www.asyl.net/rsdb/R6370
Leitsatz:

Verletzung von GG Art 16a Abs 1 durch Verkennung der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die gerichtliche Sachaufklärungspflicht bei der Prüfung von Asylfolgeanträgen. (Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Libanon, Armenier, Aoun-Anhänger, Militär, Beschlagnahme, Verfolgung durch Dritte, Syrer, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Exilpolitische Betätigung, F.L.F., Freiheitlich Libanesischer Freundeskreis, C.N.L., Congres National Libanais, Funktionäre, Geheimdienste, Überwachung im Aufnahmeland, Folgeantrag, Verwaltungsgericht, Sachaufklärungspflicht, Beweismittel, Strafurteil, Darlegungslast
Normen: AsylVfG § 71; VwVfG § 51
Auszüge:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die aufgrund Art. 16 a Abs. 1 GG bestehenden verfassungsrechtlichen Anforderungen insbesondere an die gerichtliche Sachaufklärungspflicht bei der Prüfung von Asylfolgeanträgen.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und - in einer die Entscheidungszuständigkeit der Kammer begründenden Weise - auch offensichtlich begründet.

Die Darlegungen im angegriffenen Urteil zur Bedeutung der in dem Strafurteil des Oberlandesgerichts Koblenz vom 20. März 1997 enthaltenen Feststellungen verkennen die diesen zukommende hohe Beweisqualität und sind nicht mehr nachvollziehbar.

aa) Das Verwaltungsgericht nimmt schon nicht in den Blick, daß es sich bei dem Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz vom 20. März 1997 um ein neues Beweismittel für neue bzw. bisher nicht bekannte Tatsachen handeln könnte, also eine "Kombination" von § 51 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 VwVfG in Betracht zu ziehen ist. Zwar wird die Vorlage eines neuen Beweismittels zum Beleg einer neuen oder bislang nicht bekannten Sach- oder Rechtslage allgemein als Unterfall des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG angesehen. Daraus folgt aber nicht zugleich, daß sich die Bedeutung des neuen Beweismittels auf die Geltendmachung des Beweisgegenstandes, also der neuen Tatsache, beschränkt. Vielmehr bleibt daneben auch die eigenständige Funktion als Beweismittel zu berücksichtigen.

bb) Indem das Verwaltungsgericht die Bedeutung des Strafurteils zunächst auf den mit seiner Vorlage geltend gemachten neuen Sachvortrag reduziert und sodann in dem Urteil nach "neuen" Beweismitteln zur ausreichenden Darlegung dieses neuen Sachvortrags sucht, übersieht es nicht nur die eigenständige Beweiseignung des Strafurteils, sondern auch, daß es sich bei ihm um ein gem. § 267 Abs. 4 StPO abgekürztes Urteil handelt. Nach § 267 Abs. 4 S. 1 StPO müssen die Urteilsgründe nur die erwiesenen Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. In Anwendung dieser Vorschrift erfolgt üblicherweise in den Urteilsgründen keine Beweiswürdigung, und dementsprechend läßt sich einem nach § 267 Abs. 4 StPO abgekürzten Urteil in der Regel auch nicht entnehmen, worauf die Feststellungen beruhen.

Nach den Regeln der Strafprozeßordnung kann ein Strafgericht aber grundsätzlich nur nach einer Beweisaufnahme Tatsachen als erwiesen erachten.

In dem Strafurteil des OLG Koblenz vom 20. März 1997, das sich auf einen Tatzeitraum von 1992 bis 1996 erstreckt, sind folgende Feststellungen zur allgemeinen Gefährdung exilpolitisch aktiver Libanesen enthalten: ...

Hierzu führt das Verwaltungsgericht aus: Der Beschwerdeführer erfülle mit dem Verweis auf diese Ausführungen des OLG Koblenz nicht die ihm obliegende Darlegungslast, da sie unbestimmt seien, keine konkreten Einzelheiten enthielten und in dieser Allgemeinheit den Schluß auf einen realen Hintergrund nicht zuließen. Eine weiter gehende, diese allgemeine Feststellung konkretisierende Begründung enthalte das Urteil des Oberlandesgerichts nicht. Zwar weise das Urteil konkrete Sachverhaltsdarstellungen auf. Diese verhielten sich aber nicht zu der vom OLG generell behaupteten Gefährdungslage.

Diese Begründung genügt verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Ohne Kenntnis der vom Strafgericht erhobenen Beweise, nicht einma wissend, ob das Strafgericht möglicherweise aufgrund der glaubhaften Einlassungen des Angeklagten eine Beweisaufnahme als entbehrlich angesehen hat, durfte das Verwaltungsgericht nicht unterstellen, die im Urteil des OLG enthaltenen tatbestandlichen Feststellungen seien "ohne realen Hintergrund" erfolgt; eine solche Wertung verkennt die besondere Beweiseignung, die einem solchen Urteil zukommt (siehe oben 2. b> bb>). Das Verwaltungsgericht hätte für seine Beurteilung nicht nur einen Abdruck des Urteils des OLG, sondern die Strafverfahrensakten beiziehen müssen, zumindest aber die Anklageschrift, aus der sich die zugrunde liegenden Beweismittel mit einer - vorläufigen - Beweiswürdigung ergeben.

Soweit das Verwaltungsgericht meint, die konkreten Feststellungen des OLG verhielten sich nicht zur allgemeinen Gefährdungsgrundlage, ist dies ebenfalls nicht nachvollziehbar. Ohne Kenntnis des Strafverfahrens konnte das Verwaltungsgericht gar nicht wissen, ob das OLG die von ihm dargestellte allgemeine Gefährdungslage aus den konkreten, dem Verurteilten zur Last gelegten Vorgängen geschlossen hatte oder ob es diese aus anderen Beweismitteln für erwiesen erachtete. Überdies lassen die konkreten, dem Verurteilten zur Last gelegten Vorgänge durchaus einen Schluß auf die allgemeine Gefährdungslage nach dem Jahre 1994 erfolgten Abschluß des ersten Asylverfahrens bis zum Jahre 1996 zu. Sie belegen exemplarisch das Vorgehen des syrischen Geheimdienstes gegen in Deutschland im Exil lebende Libanesen, die als (vermeintliche) Regierungsgegner gelten. Insoweit hätte das Verwaltungsgericht allenfalls im Hinblick auf die Anzahl der vom OLG zugrunde gelegten Fälle unter dem Blickwinkel des Prognosemaßstabes für die Verfolgungsgefahr oder auch im Hinblick auf die Art der exilpolitischen Betätigung Bedenken haben können. Dies hätte aber - im Rahmen der dann vorzunehmenden Asylerfolgsprüfung - ebenfalls Anlaß für weitere Ermittlungen zu der Frage sein müssen, ob es sich insoweit lediglich um Einzelfälle handelte und wodurch sich diese von den übrigen unterschieden (etwa durch eine herausgehobene exilpolitische Position des Betroffenen). Denn auch im Asylfolgeverfahren ist es - wie oben dargestellt - Sache des Gerichts, den Sachverhalt, soweit ihm Entscheidungserheblichkeit zukommt, in einer der Bedeutung des Asylgrundrechts entsprechenden Weise aufzuklären.