VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 17.07.2007 - 2 A 56/06 - asyl.net: M11165
https://www.asyl.net/rsdb/M11165
Leitsatz:

Verfolgungsgründe sind auch dann im Rahmen von § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG als zwingende Gründe, die den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung ausschließen können, zu berücksichtigen, wenn sie bei der Anerkennung keine Rolle spielten; Flüchtlingsanerkennung für alleinstehende, westlich orientierte Frau aus dem Irak

 

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, zwingende Gründe, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, depressive Störung, dissoziative Störung, Verfolgungszusammenhang, Glaubwürdigkeit, traumatisierte Flüchtlinge, Situation bei Rückkehr, soziale Gruppe, Frauen, alleinstehende Frauen, Flüchtlingsfrauen, Islamisten, Schutzfähigkeit, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, westliche Orientierung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Verfolgungsgründe sind auch dann im Rahmen von § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG als zwingende Gründe, die den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung ausschließen können, zu berücksichtigen, wenn sie bei der Anerkennung keine Rolle spielten; Flüchtlingsanerkennung für alleinstehende, westlich orientierte Frau aus dem Irak

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist mit dem Hauptantrag begründet. Dem Widerruf der Flüchtlingseigenschaft des Klägers zu 1.) steht § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG entgegen, die Klägerin zu 2.) kann sich auf eine ihr aktuell im Fall der Rückkehr in den Irak drohende, den Widerruf ausschließende Gefahr politischer Verfolgung berufen.

Zwar war die vom Kläger geschilderte Verfolgung nicht ausschlaggebend für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, doch spielt dies bei der Anwendung des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG keine Rolle (Renner, a.a.O. Rn. 11).

Ausweislich der vorliegenden ärztlichen Atteste des Nds. Landeskrankenhauses Göttingen, insbesondere desjenigen vom 5. Dezember 2006 leidet der Kläger zu 1.) an einer posttraumatischen Belastungsstörung nach Erlebnissen im Herkunftsland (ICD 10: F 43.1), einer mittelgradigen depressiven Störung (ICD 10: F 32.1) sowie einer dissoziativen Störung (1 CD 10: F 44.88).

Die krankheitsauslösenden Erlebnisse beruhen, wovon das Gericht nach Anhörung des Klägers zu 1.) überzeugt ist, maßgeblich auch auf einer zweimonatigen Verhaftung des Klägers während seiner Militärdienstzeit.

Die Tatsache, dass der Kläger zu 1.) weder bei seiner Anhörung im Rahmen der Vorprüfung am 8. Juni 2000 noch in seiner Klagebegründung vom 20. Juli 2000 von diesen Ereignissen berichtet hat, entwertet den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen nicht. Einerseits ist dieses Schweigen durch die in der ärztlichen Stellungnahme vom 17. November 2006 geschilderten Auswirkungen seiner Erkrankung zu erklären. Der Kläger hat sich nach den Erlebnissen immer mehr in sich zurückgezogen und insbesondere gegenüber amtlichen Stellen eine starke Angst- und Rückzugstendenzen entwickelt; hiervon konnte sich das Gericht selbst, wie geschildert, einen Eindruck verschaffen. Der Kläger hatte nach dem Verlauf der Anhörung auch keine Veranlassung von den lange Jahre zurückliegenden Foltererlebnissen zu berichten. Denn er war, dem asylrechtlichen Grundsatz der Kausalität zwischen Verfolgung und Flucht entsprechend, nur danach befragt worden, warum er den Irak im Jahre 2000 verlassen hat. So kamen folgerichtig lediglich die Ereignisse um die Tankkonstruktion zur Sprache.

Zusammenfassend kann damit gesagt werden, dass die lange Jahre zurückliegenden Foltererfahrungen des Klägers, von deren tatsächlichen Vorhandensein das Gericht überzeugt ist, noch heute maßgeblichen Einfluss auf seine psychische Erkrankung haben. Diese ist mithin verfolgungsbedingt. In Anbetracht dessen kann offen bleiben, ob auch die befürchtete Blutrache und die Geschehnisse um die Konstruktion einer Tankummantelung Verfolgungen im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG sind. Dieser Zusammenhang zwischen früheren Verfolgungen und der aktuellen psychischen Erkrankung des Klägers lassen seine Rückkehr in den Irak unzumutbar erscheinen, so dass der Widerruf seiner Flüchtlingseigenschaft mit dem Bescheid der Beklagten vom 23. Januar 2006 rechtswidrig ist.

Sollte dieses Urteil rechtskräftig werden, hätte die Klägerin zu 2.) gemäß § 26 Abs. 4 AsylVfG einen Anspruch auf Feststellung von Familienabschiebungsschutz durch die Beklagte. Gleichwohl hat das Gericht davon abgesehen, das Verfahren insoweit abzutrennen und bis zur Rechtskraft dieser Entscheidung abzuwarten. Denn der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft der Klägerin zu 2.) ist aus selbständig tragenden Gründen rechtswidrig.

Denn der Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG setzt auch voraus, dass nicht aus anderen Gründen, als denjenigen, die zur Asylanerkennung bzw. zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, die Gefahr politischer Verfolgung besteht (BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 -1 C 21.04-, DVBl 2006 S. 511, 513; Nds. OVG, Beschluss v. 27.12.2004 - 8 LA 245/04 -). Dabei kommt es für die Beurteilung auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung an (§ 77 Abs. 1 AsylVfG).

Gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG darf eine Ausländerin in Anwendung des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in der ihr Leben oder ihre Freiheit wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung bedroht ist.

Diese Voraussetzungen liegen im Fall der Klägerin zu 2.) vor.

Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe liegt u.a. dann vor, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann vom Staat, staatsähnlichen Organisationen oder auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder nichtstaatliche Träger faktischer Staatsgewalt (aber auch internationale Organisationen) erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten und soweit nicht eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht. Durch die Neuregelung in § 60 Abs. 1 AufenthG wird (im Gegensatz zum ehemals geltenden § 51 Abs. 1 AuslG) klargestellt, dass bereits die Anknüpfung von Verfolgungshandlungen allein an das Geschlecht das Kriterium der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe erfüllt und damit "asylrelevant" sein kann. Geschlechtsspezifische Verfolgung - sei es von Seiten staatlicher Stellen oder von Seiten Privater - sind danach insbesondere die Entrechtung von Frauen, insbesondere durch sexuelle Gewalt bis hin zu ritueller Tötung. Geschützt sind ebenfalls Frauen, die Verfolgung befürchten müssen, weil sie mit der selbstgewählten (westlich-orientierten) Lebensweise, die Ausdruck ihres allgemeines Freiheitsrechtes im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG ist, kulturelle oder religiöse Normen - insbesondere Vorschriften über Kleidung oder das Auftreten in der Öffentlichkeit - übertreten würden oder sich diesen nicht beugen wollen.

Das Gericht ist nach Auswertung der insoweit vorliegenden Erkenntnismittel (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom November 2005: "Mord im Namen der Ehre", Entwicklung und Hintergründe von "Ehrenmorden" - eine in Kurdistan verbreitete Form der Gewalt gegen Frauen, Hrsg.: Internationales Zentrum für Menschenrechte der Kurden - MK e.V.; UNHCR: Situation von Frauen im Irak, November 2005; UNHCR, Stellungnahme vom 20. Juni 2006 an Rechtsanwalt Waldmann-Stocker) davon überzeugt, dass die Klägerin zu 2.) im Irak wegen ihrer Lebensweise geschlechtsspezifische Verfolgung landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hätte. Diese Rechtsprechung wird vom 9. Senat des Nds. Oberverwaltungsgerichts im Grundsatz geteilt (vgl. Beschl. v. 16.02.2006 - 9 LB 27/03 -, S. 6 des Abdrucks, veröffentlicht in der Internet-Rechtsprechungsdatenbank des Nds. OVG).

Dabei muss im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zunächst unterstellt werden, dass die Klägerin zu 2.) alleine in den Irak zurückkehren würde; denn der Widerruf der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft ist, soweit es ihren Ehemann betrifft, rechtswidrig, so dass er einen Anspruch darauf hat, in der Bundesrepublik Deutschland zu bleiben.

Dies vorausgeschickt würde die Klägerin zu 2.) als alleinstehende, offenkundig den westlichen Lebensgewohnheiten und Sitten verpflichtete Frau in ihre Heimat zurückkehren. Sie hat sich jedoch in ihrer jetzigen Lebensumgebung vollständig von den im Irak herrschenden Wert- und Moralvorstellungen entfernt. Eine derart selbständige und selbstbewusste Frau gerät im Falle der von traditionellen bis islamistischen Wertvorstellungen geprägten irakischen Gesellschaft dort mit großer Sicherheit in das Blickfeld konservativer Moslems und wird mit Maßnahmen bis hin zur Gewaltanwendung damit zu rechnen haben aufgefordert zu werden, sich anzupassen. Die Situation alleinstehender Frauen im Irak, die sich den dort herrschenden Moral- und Lebensvorstellungen nicht anpassen wollen, und überdies sowohl privat als auch beruflich ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben führen, stellt sich mehr als prekär (vgl. UNHCR, a.a.O., insbesondere dort Ziffer 4.) dar. Alleinstehende Frauen haben zunehmend unter gewalttätigen Repressionen zu leiden. Ohne Schutz eines Mannes oder der eigenen Familie ist unter Berücksichtigung der ohnehin schlechten Sicherheitsbedingungen innerhalb kürzester Zeit mit Bedrohungen, Belästigungen und Angriffen zu rechnen. Die geschlechtsspezifische Benachteiligung von Frauen, die ohnehin in der orientalischen Tradition wurzelt und im Nachkriegsirak auf einen fruchtbaren Nährboden gefallen ist, hat durch die religiös-extremistischen muslimischen Bestrebungen eine neue Dimension bekommen. Diese Verschlechterung der Situation bekommen Frauen, die sich schon äußerlich, also nach Kleidung und Gebräuchen, nicht den Landesgewohnheiten anpassen, ganz besonders zu spüren (vgl. Lagebericht, a.a.O., dort Ziffer 6 a. E.). Eine Frau, die sich außerhalb christlicher Viertel in Bagdad oder Mossul unverschleiert in die Öffentlichkeit begibt und dort agiert, wird nach Überzeugung des Gerichts mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb kürzester Zeit Opfer eines Angriffs (UNHCR, a.a.O.). Von staatlicher Seite hätte die Klägerin bei der Abwehr derartiger Übergriffe zur Zeit keinerlei Unterstützung zu erwarten (vg. Lagebericht, a.a.O.).

Außerdem führt die hohe Arbeitslosigkeit im Irak dazu, dass eine alleinstehende Frau, die zudem wie die Klägerin keinen Beruf hat, so gut wie keine Aussicht hat, ein eigenes Einkommen erwirtschaften zu können (vgl. Lagebericht, a.a.O., Ziffer 3). Hinzu kommt schließlich, dass die Klägerin seit etwa 7 Jahren in Deutschland lebt, sich nach hiesigen Vorstellungen kleidet, deutsche Freunde hat und insgesamt einen westlichen Lebensstil angenommen hat. Nach Überzeugung des erkennenden Einzelrichters hätte sie angesichts der geschilderten Situation im Irak, insbesondere der für die westlich orientierte weibliche Bevölkerung vorherrschenden, keine Chance, dort menschenwürdig zu leben bzw. sicher zu überleben.

Es ist vielmehr konkret wahrscheinlich, dass sie innerhalb kürzester Zeit mit tätlichen Übergriffen rechnen müsste. Da im Übrigen kein näherer Verwandter mehr im Irak lebt, der ihr nach einer Rückkehr Schutz gewährleisten könnte, ergibt die Gesamtschau dieses Falles, dass bei der Klägerin die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen. Dies schließt den Widerruf der entsprechenden Rechtsstellung mit dem angefochtenen Bescheid der Beklagten aus.