VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 05.11.2007 - A 6 S 1097/05 - asyl.net: M12010
https://www.asyl.net/rsdb/M12010
Leitsatz:

1. Von einem Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG abzusehen, wenn qualifizierte verfolgungsbedingte Gründe des Einzelfalles eine Rückkehr unzumutbar machen. Vorzunehmen ist insoweit eine spezifisch asylrechtliche Bewertung der objektiven und subjektiven Besonderheiten des Einzelfalles, nicht eine allgemeine Abwägung aller (möglichen) Rückkehrfolgen.

2. § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG unterscheidet sich in Tatbestand und Rechtsfolgen wesentlich von der Frage des Vorliegens von krankheitsbedingten Abschiebungsverboten im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

 

Schlagwörter: Serbien, Kosovo, Albaner, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, zwingende Gründe, Genfer Flüchtlingskonvention, Wegfall-der-Umstände-Klausel, allgemeine Gefahr, Vergewaltigung, traumatisierte Flüchtlinge, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1
Auszüge:

1. Von einem Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG abzusehen, wenn qualifizierte verfolgungsbedingte Gründe des Einzelfalles eine Rückkehr unzumutbar machen. Vorzunehmen ist insoweit eine spezifisch asylrechtliche Bewertung der objektiven und subjektiven Besonderheiten des Einzelfalles, nicht eine allgemeine Abwägung aller (möglichen) Rückkehrfolgen.

2. § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG unterscheidet sich in Tatbestand und Rechtsfolgen wesentlich von der Frage des Vorliegens von krankheitsbedingten Abschiebungsverboten im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die zulässige Klage zu Unrecht teilweise abgewiesen. Der Bescheid des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 11.10.2004 ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) auch im Hinblick auf Ziffer 1 - Widerruf der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen - rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Widerruf, der in formeller Hinsicht keinen Bedenken unterliegt, ist materiell-rechtlich rechtswidrig. Ihm steht die Bestimmung des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG entgegen.

Nach § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG gilt jedoch die aus Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 und Nr. 6 Satz 1 der GFK abgeleitete und nunmehr in § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG ausdrücklich aufgenommene "Wegfall-der-Umstände-Klausel" nicht, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Diese Einschränkung betrifft nur Nachwirkungen einer früheren Verfolgung im besonders gelagerten Einzelfall. Von einem Widerruf ist trotz objektiv bestehender Verfolgungssicherheit abzusehen, wenn sich aus dem konkreten Flüchtlingsschicksal besondere Gründe ergeben, die eine Rückkehr unzumutbar erscheinen lassen. Auch diese Vorschrift schützt nicht gegen allgemeine Gefahren (vgl. BVerwG, Urteile vom 01.11.2005 und vom 18.07.2006 a.a.O.). § 73 Abs. 1 Satz 3 AsyVfG trägt der psychischen Sondersituation solcher Personen Rechnung, die ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Verfolgungsschicksal erlitten haben und denen es deshalb selbst lange Zeit danach - auch ungeachtet veränderter Verhältnisse - nicht zumutbar ist, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.11.2005 a.a.O.; VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 12.02.1986 - A 13 S 77/85 -, NVwZ 1986, 957; vom 04.05.2006 - A 2 S 1046/05 - und vom 21.06.2007 - A 2 S 571/05 -, juris; s. a. UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft 1979/Neuauflage 2003 Rn. 136).

Die Bestimmung des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG ist Art. 1 C Nr. 5 Satz 2 und Nr. 6 Satz 2 der GFK nachgebildet (vgl. BT-Drs. 9/875, S. 18 zum Entwurf des § 11 Abs. 1 Satz 2 und späteren § 16 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG 1982), wonach die "Wegfall-der-Umstände-Klausel" nicht für den Flüchtling gilt, der sich auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Inanspruchnahme des Schutzes des Landes abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt bzw. um die Rückkehr in das Land abzulehnen, in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Es werden qualifizierte verfolgungsbedingte Gründe vorausgesetzt, die eine Rückkehr objektiv unzumutbar erscheinen lassen. Die Rückkehr muss nicht tatsächlich unmöglich sein, sie muss nur mit Recht aus den genannten - verfolgungsbedingten - Gründen abgelehnt werden, wobei auch die subjektive Befindlichkeit des Flüchtlings in Rechnung zu stellen ist (vgl. Renner, AuslR 8. Aufl. 2005, § 73 AsylVfG Rn. 10; Hailbronner, Komm. zum AuslR, § 73 AsylVfG Rn. 32; Marx, AsylVfG 6. Aufl. 2005, § 73 Rn. 130 ff.). Nach den zu Art. 1 C Nr. 5 und Nr. 6 GFK ergangenen UNHCR-Richtlinien berücksichtigen die humanitären Klauseln Fälle, in denen Flüchtlinge oder ihre Familienangehörigen einer außergewöhnlich menschenverachtenden Verfolgung ausgesetzt waren und deshalb von ihnen eine Rückkehr nicht erwartet werden kann. Beispielhaft genannt werden insoweit Personen, die interniert oder inhaftiert waren, Opfer von Gewalt einschließlich sexuellen Missbrauchs waren oder Gewaltanwendung gegen Familienmitglieder ansehen mussten und schwer traumatisierte Personen (UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: Beendigung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Artikels 1 C (5) und (6) des Abkommens von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge <"Wegfall-der-Umstände"-Klauseln> vom 10.02.2003 - HCR/GIP/03/03 - Rn. 20; vgl. zu Entstehungsgeschichte und - möglichen - Anwendungsbeispielen: Salomons/Hruschka, ZAR 2005, 1 ff. m.w.N.).

Der unbestimmte Rechtsbegriff der "zwingenden Gründe" im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG ist gerichtlich voll überprüfbar (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12.02.1986 a.a.O.; Schäfer, in: GK-AsylVfG § 73 Rn. 67). Vorzunehmen ist keine allgemeine Zumutbarkeitsprüfung im Sinne einer Abwägung aller eventuellen Rückkehrfolgen; vielmehr handelt es sich um eine asylrechtliche Ausnahmebestimmung für besonders gelagerte Einzelfälle (vgl. hierzu auch Salomons/Hruschka, ZAR 2005, 1 <6>).

Ein solcher Fall liegt hier vor. Die Klägerin hat zur Überzeugung des Senats ein besonders schweres Verfolgungsschicksal erlitten und eine Rückkehr in ihr Heimatland würde zu einer schwerwiegenden Belastung führen, die ihr angesichts des konkreten Fluchtgeschehens und der hierdurch ausgelösten und nach wie vor andauernden Folgewirkungen nicht zuzumuten ist, denn die Klägerin hat aufgrund der erlittenen Verfolgung bleibende physische und psychische Schädigungen erlitten, die sich im Falle einer Rückkehr erheblich verschlechtern würden (vgl. zur Anwendung des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG in derartigen Fällen auch Schäfer, in: GK-AsylVfG § 73 Rn. 62; Hessischer VGH, Beschluss vom 28.05.2003, InfAuslR 2003, 400; VG Stuttgart, Urteil vom 22.05.2006 - A 10 K 12711/04 -, juris m.w.N.).

Es ist der Klägerin bei einer Gesamtschau des Verfolgungsgeschehens und ihrer individuellen psychischen und physischen Verfassung unzumutbar, in den Kosovo als dem Ort der erlittenen Verfolgung oder aber in das restliche Serbien als dem "Ort der serbischen Täter" zurückzukehren, denn es liegen besonders erniedrigende und unmittelbar nachwirkende Fluchtgründe vor. Die zum 01.01.2005 in Kraft getretene Neufassung des § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG unterstreicht insoweit die Bedeutung geschlechtsspezifischer Verfolgung. Die Klägerin wurde vergewaltigt und hat dabei ihr ungeborenes Kind verloren. Durch die von serbischen Ärzten ohne medizinische Notwendigkeit durchgeführte Entfernung der Gebärmutter kann sie auch keine Kinder mehr bekommen. Die Klägerin hat infolge der Zufügung psychischer und physischer Gewalt ihr Selbstwertgefühl verloren; darüber hinaus drohen ihr im Falle einer Rückkehr weiterhin die durch die Verfolgung ausgelöste gesellschaftliche Ausgrenzung und eine schwerwiegende psychische Beeinträchtigung.

Nur ergänzend weist der Senat darauf hin, dass das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung weder notwendige noch hinreichende Voraussetzung für die Unzumutbarkeit der Rückkehr im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG ist. Traumatisierende Erlebnisse können ausnahmsweise im Einzelfall ein Rückkehrhindernis im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG begründen, wenn sie Ausdruck eines schwerwiegenden Verfolgungsschicksals sind, zur Flucht geführt haben und nachwirken. Der anzulegende Prüfungsmaßstab unterscheidet sich jedoch wesentlich von dem Maßstab einer krankheitsbedingten beachtlich wahrscheinlichen Gefahr für Leib oder Leben im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Dort kommt es auf den individuellen Gesundheitszustand und die Frage der Behandelbarkeit im Falle einer Rückkehr an, hier ausschließlich auf das besondere Flüchtlingsschicksal in Verbindung mit der fortbestehenden individuellen Belastungssituation.