VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 14.11.2007 - 23 B 07.30508 - asyl.net: M12075
https://www.asyl.net/rsdb/M12075
Leitsatz:

Nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak.

Aufgehoben durch Urteil des BVerwG v. 21.4.2009 (10 C 10.08 = M16391).

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Sunniten, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Schiiten, interne Fluchtalternative, Gesamtschau, Anerkennungsrichtlinie, nichtstaatliche Akteure, Verfolgungsdichte, Menschenrechtslage, Sicherheitslage, Schutzfähigkeit, Todesschwadrone, Kriminalität, Nordirak, Existenzminimum
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die zulässige Berufung ist begründet.

Der Widerrufsbescheid des Bundesamts vom 5. April 2006 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, weil ihm wegen seiner sunnitischen Religionszugehörigkeit bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure droht und eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht besteht. Die Berufung führt daher unter Änderung des angefochtenen Urteils zur Aufhebung des Widerrufsbescheids (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG erfasst dabei schon seinem Wortlaut nach alle nichtstaatlichen Akteure ohne weitere Einschränkung, namentlich also auch Einzelpersonen, sofern von ihnen Verfolgungshandlungen im Sinne des Satzes 1 ausgehen. Weiter müssen die Nachstellungen nichtstaatlicher Akteure - je für sich, soweit sie auf unterschiedliche Gruppen gerichtet sind, oder zusammen, soweit sie sich gegen dieselbe Personengruppe richten - auch das Erfordernis der Verfolgungsdichte erfüllen, um eine private Gruppenverfolgung mit der Regelvermutung individueller Betroffenheit annehmen zu können. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist von den Tatsachengerichten aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden (vgl. BVerwG vom 18.7.2006 a.a.O., auch zu weiteren Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung).

Seit dem Antritt der Regierung von Ministerpräsident Al-Maliki intensivierten sich die Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten und es herrscht politischer Stillstand.

Allerdings droht zurückkehrenden Irakern sunnitischen Glaubens nunmehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure wegen ihrer Religion, gegen die Schutz zu gewähren der irakische Staat oder nichtstaatliche Herrschaftsorganisationen nicht in der Lage sind.

Die Bemühungen um Schaffung eines neuen irakischen Staatsgebildes geschahen und geschehen in einem wachsenden Umfeld gewalttätiger Übergriffe und terroristischer Anschläge. Nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen ist die allgemeine Sicherheitslage nach Beendigung der Hauptkampfhandlungen im Mai 2003 hochgradig instabil geworden, was auch Anfang Juli 2004 zum Erlass eines Notstandsgesetzes geführt hat. Sie ist geprägt durch Tausende terroristische Anschläge und durch fortgesetzte offene Kampfhandlungen zwischen militanter Opposition einerseits sowie regulären Sicherheitskräften und Koalitionsstreitkräften andererseits. Schwerpunkt der Anschläge fundamentalistischer Gruppen und militanter Opposition sind Bagdad und der Zentralirak. Aber auch im Nord- und Südirak geschehen Anschläge mit zum Teil verheerenden Folgen. Die allgemeine Kriminalität ist stark angestiegen und mancherorts außer Kontrolle geraten. Überfälle und Entführungen sind an der Tagesordnung. Im Irak marodierende Todesschwadronen, sowohl schiitischer als auch sunnitischer Extremisten, entführen Angehörige der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe und erschießen sie (Frankfurter Rundschau - FR - vom 14.9.2006). Landesweit ereignen sich konfessions-motivierte Verbrechen wie Ermordungen, Folterungen und Entführungen der jeweilig anderen Glaubensrichtung. Das US-Militär hat den Westen des Irak (Provinz Al Anbar) militärisch für verloren gegeben; US-Truppen sollen nicht mehr in der Lage sein, die Aufständischen zu besiegen (FR vom 29.11.2006 unter Berufung auf einen Bericht der US-Marineinfanterie). Staatlicher Schutz gegen Übergriffe militanter Opposition, Todesschwadronen und irakischer Guerilla kann nicht erlangt werden; eine Verfolgung von einzelnen Straftaten findet so gut wie nicht statt (AALB vom 19.10.2007 S. 20). Ziel der in ihrer Intensität zunehmenden Anschläge, die sich auf öffentliche Plätze und Märkte erstrecken, ist es, Furcht und Schrecken zu verbreiten, Gewalttätigkeiten verschiedener irakischer Bevölkerungsgruppen gegeneinander zu provozieren und das Land insgesamt zu destabilisieren (AALB vom 11.1.2007, vom 24.11.2005, vom 2.11.2004, DOI vom 31.1.2005).

Mit dem Anschlag vom 22. Februar 2006 auf das schiitische Heiligtum in Samarra und den Vergeltungsaktionen in der Folgezeit nähert sich der Irak offenen, bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen. Im Laufe des Jahres 2006 hat die Gewalt im Irak einen deutlicher konfessionell ausgerichteten Zug angenommen. Wiederholt brannten sunnitische und schiitische Moscheen. Straßenzüge in Bagdad und weiteren größeren Städten wie Mosul, Tikrit und Kerkuk werden von Milizen kontrolliert; dazu gehört die Vertreibung der jeweiligen konfessionellen Minderheit bis hin zu gegenseitigen Tötungsorgien. Im Oktober 2006 wurden 90 sunnitische Araber in Balad umgebracht und Hunderte von Sunniten aus der Stadt gejagt (AALB vom 19.10.2007 S. 21). Immer wieder kommt es zu Massenentführungen von Mitgliedern beider Konfessionen, die Entführten werden gefoltert und ermordet. Schiitische Akteure führen willkürlich Razzien in sunnitischen Vierteln und Nachbarschaften von Städten und Ortschaften durch und entsenden Todesschwadronen, möglicherweise mit Unterstützung des Innenministeriums. Sowohl die irakische Armee als auch die Polizei und andere Sicherheitskräfte sind schiitisch dominiert. Verbreitet sind Selbstmordanschläge in Bussen. Zur Nachtzeit überfallen in Polizei- oder Armeeuniformen gekleidete Personen überwiegend sunnitisch bewohnte Städte und Stadtviertel. Nicht wenige der im Zuge dieser Razzien inhaftierten Sunniten werden wenig später gefesselt und erschossen, mit Spuren von Folter und Misshandlungen, auf der Straße gefunden (vgl. AALB vom 19.10.2007 S. 21, Europäisches Zentrum für kurdische Studien - EZKS - vom 12.5.2007, UNHCR vom 8.10.2007 sowie die zahlreichen zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Presseberichte).

Die Gewalt und die schwierigen Lebensbedingungen haben zu einer Flüchtlingswelle großen Ausmaßes in die Nachbarländer geführt.

Eine detaillierte Feststellung von Anzahl und Intensität aller solcher Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Sunniten (17 bis 22 % der irakischen Bevölkerung), gegen die im Zentralirak Schutz weder von staatlichen Stellen noch von nichtstaatlichen Herrschaftsorganisationen zu erlangen ist, ist ebenso wenig möglich wie eine Inbeziehungsetzung zur Größe der betroffenen Gruppe (vgl. hierzu BVerwG vom 18.7.2006 a.a.O.). Weder ist die genaue Zahl der derzeit noch im Irak lebenden sunnitischen Bevölkerung ermittelbar, noch ist es möglich exakte Erkenntnisse über das zahlenmäßige Ausmaß der asylrelevanten Übergriffe zu gewinnen. Weitere Aufklärung kommt nicht in Betracht, weil das Auswärtige Amt aufgrund der desolaten Sicherheitslage im Irak nicht in der Lage ist, Amtshilfeersuchen der Verwaltungsgerichte zu bearbeiten (AA vom 17.8.2006). Aus den einschlägigen beigezogenen Erkenntnisquellen ist zu entnehmen, dass bei weitem nicht alle Anschläge und Übergriffe dieser Art bekannt werden und dass auch nicht alle bekannt gewordenen in den Medien veröffentlicht werden. Die vorhandenen Berichte über zahlreiche einzelne Vorfälle lassen jedoch indes nach Überzeugung des Senats darauf schließen, dass Sunniten allein wegen ihres Glaubens häufig Ziel von Übergriffen und Anschlägen werden. Die genaue Anzahl der seit dem Jahr 2003 im Irak getöteten Sunniten ist ebenso wenig feststellbar wie die Gesamtanzahl der im Irak getöteten Zivilisten. Nach Angaben der Vereinten Nationen sollen im Lauf des Jahres 2006 über 34.452 Zivilisten eines gewaltsamen Todes gestorben sein, weitere 36.685 seien verwundet worden. Auch im ersten Halbjahr des Jahres 2007 kamen monatlich Tausende von Zivilisten bei Feuergefechten, Bombenanschlägen, Selbstmordattentaten oder gezielten Morden ums Leben; viele Entführte sind verschwunden. Immer wieder werden Leichen (auch von sunnitischen Gläubigen) gefunden. Insgesamt 4,2 Millionen Iraker befinden sich auf der Flucht (vgl. AALB vom 19.10.2007 S. 4).

Ein verständiger irakischer Staatsangehöriger sunnitischen Glaubens wird bei Abwägung aller Umstände auch die besondere Schwere des zu befürchtenden Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtungen einbeziehen, wie es das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 5. November 1991 (a.a.O.) verdeutlicht hat. Aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Sunniten aus dem Irak macht es bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er sich z. B. im öffentlichen Leben nur schiitischen Gepflogenheiten unterwerfen muss oder aber Folterung, Verstümmelung, Misshandlungen, Vertreibung oder Ermordung durch nichtstaatliche und teils auch staatliche Akteure zu riskieren hat. Diese Überlegungen stellen aber nicht nur viele Sunniten im Irak an. Ansonsten würden nicht 60.000 Iraker monatlich ihrem Heimatland den Rücken kehren (AALB vom 19.10.2007 S. 15). Dies macht die hohe Zahl von Flüchtlingen ins Ausland und im Inland ("Umsiedlungen") verständlich.

Die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen aus jüngster Zeit, wie der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Oktober 2007, die Stellungnahme des UNHCR vom 8. Oktober 2007 und des EZKS vom 12. Mai 2007 verdeutlichen dem Senat eine zunehmende asylrelevante Verfolgung der Sunniten durch Schiiten, insbesondere in Anbetracht der Schwere der zu befürchtenden Übergriffe. Die Sunniten im Irak, und damit auch die Klagepartei im Falle einer Rückkehr dorthin, sind demzufolge nach Überzeugung des Senats nicht nur von den allgemeinen Verhältnissen, sondern insbesondere als Gruppe von den Nachstellungen nichtstaatlicher Akteure in schweren asylerheblichem Maße betroffen.

Dem Kläger ist im Nordirak eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht eröffnet (§ 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG).

Der Senat hat zu Zeiten der Schreckensherrschaft Saddam Husseins in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass für irakische Staatsangehörige aus dem Zentralirak die "autonomen" kurdischen Provinzen nur dann eine Fluchtalternative darstellen, wenn sie dort zum einen mangels politischer Exponiertheit vor dem Zugriff des zentralirakischen Staates ausreichend sicher sind und zum anderen aufgrund familiärer oder klientelistischer Verbindungen ihr wirtschaftliches Existenzminimum gesichert ist (vgl. statt vieler BayVGH vom 6.6.2002 Az. 23 B 02.30536 und vom 14.12.2000 Az. 23 B 00.30256).

Die Verhältnisse haben sich insoweit, was Flüchtlinge aus dem Zentralirak ohne Bindungen zum Nordirak betrifft, nicht geändert (vgl. Senatsurteil vom 8.2.2007 Az. 23 B 06.31052 u. a.). Eine Zuwanderung bzw. Rückkehr in den kurdisch verwalteten Nordirak ist nach Überzeugung des Gerichts zumutbar allenfalls Irakern möglich, wenn sie von dort stammen und ihre Großfamilie/Sippe dort ansässig ist (vgl. DOI vom 13.11.2006). Andere Personen aus dem Zentralirak oder dem Südirak stoßen in den drei unter kurdischer Verwaltung stehenden Provinzen auf erhebliche Schwierigkeiten bei der Erlangung physischen Schutzes, beim Zugang zu Wohnraum und Beschäftigung sowie anderen Dienstleistungen. Eine Umsiedlung aus dem Zentralirak oder Südirak in den Nordirak ermöglicht den Betroffenen nicht, ein normales Leben ohne unzumutbare Härten zu führen (UNHCR vom 8.10.2007, vom 6.2.2007). Seit 2005 wächst die Unzufriedenheit der einheimischen Bevölkerung mit der kurdischen Verwaltung und deren Fähigkeit, die Bereitstellung grundlegender Versorgungsdienste, insbesondere der Wasser-, Brennstoff- und Energieversorgung zu verbessern. Zusätzliche Belastungen erwachsen den ohnehin nur eingeschränkt funktionsfähigen Versorgungssystemen durch die große Anzahl der Binnenvertriebenen in den drei nördlichen Provinzen, wodurch wiederum die Aufnahmekapazitäten in dieser Region drastisch begrenzt werden (UNHCR vom 6.2.2007).

Eine Fluchtalternative gibt es auch nicht innerhalb des Zentraliraks (AALB vom 19.10.2007 S. 23, UNHCR vom 8.10.2007 S. 15). Sunnitische Flüchtlinge laufen Gefahr, wenn sie sich in überwiegend sunnitischen Vierteln größerer Städte niederlassen, mit dortigen sunnitischen Aufständischen in Konflikt zu geraten. Sunnitische Familien, die aus schiitischen Gebieten vertrieben worden sind, werden immer wieder verdächtigt, Spione zu sein oder mit der irakischen Regierung oder den Koalitionstruppen zusammenzuarbeiten. Zudem finden sie keine ausreichende Lebensgrundlage, wenn sie nicht über besondere Beziehungen zu den im Ausweichbereich lebenden Menschen verfügen (vgl. EZKS vom 12.5.2007 S. 23).

Somit kann dem Kläger nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Irak nicht zugemutet werden.