VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 30.04.2008 - 8 K 766/06 - asyl.net: M13391
https://www.asyl.net/rsdb/M13391
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Untätigkeitsklage, Niederlassungserlaubnis, Anwendbarkeit, Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltsbefugnis, Übergangsregelung, Zuwanderungsgesetz, Aufenthaltsdauer, Aufenthaltsbewilligung, Studium, Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG, Daueraufenthaltsrichtlinie, rechtmäßiger Aufenthalt, subsidiärer Schutz, Anerkennungsrichtlinie, humanitäre Gründe, Studium, Ausbildung, Aufenthaltszweck, vorübergehender Aufenthalt, Lebensunterhalt, Integration
Normen: AufenthG § 26 Abs. 4; AufenthG § 9; AufenthG § 25 Abs. 4 S. 2; RL 2003/109/EG Art. 11; RL 2003/109/EG Art. 3 Abs. 2; AufenthG § 9a Abs. 3; AufenthG § 9a Abs. 2; RL 2003/109/EG Art. 5; AufenthG § 9c
Auszüge:

§ 26 Abs. 4 AufenthG ist die speziellere Regelung zu § 9 AufenthG.

Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes sind von der Erteilung einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG nur ausgeschlossen, wenn die Aufenthaltserlaubnis wegen zielstaatsbezogener Gefahren erteilt worden ist.

(Leitsätze der Redaktion)

 

II. Soweit der Kläger mit dem Antrag zu 1. die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis beginnend ab dem 1. Februar 2006 und die Gestattung der Erwerbstätigkeit jeder Art begehrt, ist die Klage jedoch sowohl mit dem Haupt- als auch mit dem Hilfsantrag unbegründet.

Der geltend gemachte Anspruch beurteilt sich - entgegen der Auffassung des Klägers - ausschließlich nach § 26 Abs. 4 AufenthG.

Diese Vorschrift trifft für Ausländer, die - wie der Kläger - im Besitz einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes sind, ein spezielle Regelung in Bezug auf den Zweck der Aufenthaltserlaubnis (Aufenthaltserlaubnis nach dem Abschnitt 5), auf die erforderlichen Zeiten des Besitzes der Aufenthaltserlaubnis (sieben Jahre statt fünf Jahre nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG), auf die Rechtsnatur des Anspruchs (Ermessensanspruch statt Rechtsanspruch nach § 9 Abs. 2 AufenthG) sowie auf die Anrechenbarkeit von Voraufenthaltszeiten (vgl. §§ 26 Abs. 4 Satz 3, 102 Abs. 2 AufenthG). Die Vorschrift ist deswegen in ihrem Anwendungsbereich vorrangig und abschließend gegenüber der allgemeinen Bestimmung des § 9 AufenthG. Andernfalls liefen bei ergänzender Anwendung von § 9 AufenthG die besonderen Erteilungsvoraussetzungen des § 26 Abs. 4 AufenthG leer (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Band 1, Stand: August 2005, § 9 Rdnr. 2 und 11; Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl., § 9 Rdnr. 6 und 10; Burr in Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsrecht (GK-AufenthG), Band 1, Stand Juni 2007, § 26 Rdnr. 23; Ziffer 9.2.1.3 der vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesministerium des Innern zum AufenthG, Stand: 22. Dezember 2004 (vorl. AWH)).

Im Fall des Klägers liegen jedoch bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen der demnach allein in Betracht zu ziehenden Anspruchsgrundlage des § 26 Abs. 4 AufenthG nicht vor, mit der Folge, dass dem Beklagten hinsichtlich der Erteilung der Niederlassungserlaubnis auch kein Ermessen eröffnet ist.

III. Die Klage ist jedoch begründet, soweit der Kläger die Ausstellung einer Bescheinigung über die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten (Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG) ab dem 14. September 2006 und die "Notifizierung" der Berechtigung zu jeder Erwerbstätigkeit begehrt.

Rechtlicher Maßstab für die Beurteilung des Anspruchs sind für die Zeit vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union zum 28. August 2007 die Bestimmungen der Richtlinie 2003/109/EG des Rates betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (Daueraufenthaltsrichtlinie) unmittelbar und für die Zeit ab dem 28. August 2008 die §§ 9 a ff. AufenthG, durch die die Daueraufenthaltsrichtlinie in nationales Recht umgesetzt worden ist, unter Berücksichtigung der Richtlinienbestimmungen.

Die Daueraufenthaltsrichtlinie entfaltete nach Ablauf der Umsetzungsfrist zum 23. Januar 2006 (vgl. Art. 26 der Richtlinie 2003/109/EG) und vor ihrer Umsetzung durch den Bundesgesetzgeber bereits unmittelbare Wirkung mit der Folge, dass der Kläger sich auf die Richtlinie berufen konnte, soweit deren Bestimmungen ihm unbedingt und hinreichend genau bestimmte Rechte einräumen.

Dies ist jedoch der Fall sowohl im Hinblick auf die eindeutige Bestimmung des personellen Anwendungsbereichs der Richtlinie in Art. 3 der Richtlinie 2003/109/EG als auch im Hinblick auf die in Art. 4 Abs. 1 bis Abs. 3, 1. Unterabsatz, Art 5 Abs. 1 und Art. 6 der Richtlinie 2003/109/EG genau umschriebenen Voraussetzungen, unter denen einem Drittstaatsangehörigen die Rechtstellung eines langfristige Aufenthaltsberechtigten zuzuerkennen ist (vgl. Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie) und in Bezug auf die den Mitgliedstaaten auch kein Gestaltungsspielraum eröffnet ist. Bereits auf der Grundlage dieser Bestimmungen steht fest, welchem Personenkreis unter welchen Bedingungen die in der Richtlinie vorgesehene Rechtsstellung zugute kommt.

1. Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109/EG findet die Richtlinie auf alle Drittstaatsangehörigen Anwendung, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates aufhalten. Vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen sind gemäß Absatz 2 der Bestimmung allerdings die dort im Einzelnen aufgeführten Gruppen von Drittstaatsangehörigen.

Der Kläger, als marokkanischer Staatsangehöriger Drittstaatsangehöriger im Sinne von Art. 2 lit. a) der Richtlinie 2003/109/EG, hielt bzw. hält sich im maßgeblichen Beurteilungszeitraum aufgrund der Ihm gemäß § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis rechtmäßig im Bundesgebiet auf und fällt auch nicht unter einen der Ausschlusstatbestände des Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109/EG (i.V.m. § 9 a Abs. 3 AufenthG), namentlich weder unter lit. c) - subsidiärer Schutz - noch unter lit. a) - Studium oder Berufsausbildung - noch unter lit. e) - sonstiger vorübergehender Aufenthalt -.

a) Im Fall des Klägers greift - entgegen der Auffassung des Beklagten - insbesondere nicht der Ausschlusstatbestand des Art. 3 Abs. 2 lit. c) der Richtlinie 2003/109/EG, (i.V.m. § 9 a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG). Danach findet die Richtlinie keine Anwendung auf Drittstaatsangehörige, denen der Aufenthalt in einem Mitgliedstaat aufgrund subsidiärer Schutzformen gemäß internationalen Verpflichtungen, nationalen Rechtsvorschriften oder Praktiken der Mitgliedstaaten genehmigt wurde oder die aus diesem Grunde um die Genehmigung des Aufenthalts nachgesucht haben und über deren Rechtsstellung noch nicht entschieden worden ist.

Was unter dem Begriff "subsidiäre Schutzformen gemäß internationalen Verpflichtungen, nationalen Rechtsvorschriften oder Praktiken der Mitgliedstaaten" zu verstehen ist, ist in Art. 2 der Richtlinie 2003/109/EG, der verschiedene Begriffsbestimmungen enthält, nicht näher bestimmt.

aa) Der Begriff der "subsidiären Schutzformen" im Sinne von Art. 3 Abs. 2 lit. c) der Richtlinie 2003/109/EG ist jedoch - entgegen der Auffassung des Klägers - nicht gleichbedeutend mit der Begriff des "subsidiären Schutzes" im Sinne von Art. 2 e) der Richtlinie 2004/83/EG (vgl. a.A.: für die wortgleiche Bestimmung des Art. 3 Abs. 2 lit. c) der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung: Dienelt, Auswirkungen der Familienzusammenführungsrichtlinie auf das AufenthG unter Berücksichtigung des 2. Änderungsgesetzes, ebooks, 2. Aufl., Stand: März 2006, S. 47 ff.)

Der Begriff der "subsidiären Schutzformen" im Sinne der Daueraufenthaltsrichtlinie geht in seinem Bedeutungsgehalt vielmehr über den Begriff des "subsidiären Schutzes" im Sinne der Qualifikationsrichtlinie hinaus und erfasst neben letzterem auch weitere, über den Anwendungsbereich der Qualifikationsrichtlinie hinausgehende subsidiäre Schutzformen aufgrund nationaler Rechtsvorschriften und Praktiken (vgl. im Ansatz auch: VG Berlin, Urteil vom 14. Februar 2007 - VG 35 V 4.05 -; Hailbronner, a.a.O., Stand: Dezember 2007, § 9 a Rdnr. 52; BT-Drucks. 16/5965, S. 161 f. zu § 9 a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG).

Gegen eine enge Auslegung des Begriffs der "subsidiären Schutzformen" - allein - im Sinne der Qualifikationsrichtlinie spricht zunächst der unterschiedliche Wortlaut der Richtlinienbestimmungen: In Art. 3 Abs. 2 lit. c) der Richtlinie 2003/109/EG heißt es "subsidiäre Schutzformen gemäß internationalen Verpflichtungen, nationalen Rechtsvorschriften oder Praktiken der Mitgliedstaaten" (englische Fassung: "on the basis of a subsidiär/ form of protection in accordance with international obligations, national legislation or the practice of the Member States", französische Fassung: "en vertu d'une forme subsidiaire de protection, conformement aux obligations internationales, aux legislations nationales ou aux pratiques des Etats membres"), während Art. 2 lit. e) der Richtlinie 2004/83/EG von "subsidiärem Schutz" spricht (englische Fassung: "subsidiär/ protection", französische Fassung: "la protection subsidiaire") -, dass die Begriffsbestimmung in Art. 2 lit. e) der Richtlinie 2004/83/EG.

Außerdem gilt die Begriffsbestimmung des Art. 2 lit. e) der Richtlinie 2004/83/EG, wie bereits die Eingangsformulierung "im Sinne dieser Richtlinie" zeigt, im Grundsatz allein für die Qualifikationsrichtlinie.

Auch fehlt es im Hinblick auf den Begriff der "subsidiären Schutzformen" in der Richtlinie 2003/109/EG an einer ausdrücklichen Bezugnahme auf die Begrifflichkeit der Qualifikationsrichtlinie, anders als dies etwa beim Begriff des "Familienangehörigen" (vgl. Art. 2 lit. e) der Richtlinie 2003/109/EG, der auf die Richtlinie 2003/86/EG verweist) oder des "vorübergehenden Schutzes" im Sinne von Art. 3 Abs. 2 lit. b) der Richtlinie 2003/109/EG der Fall ist (vgl. Begründung der Kommission vom 13. März 2001, KOM(2001) 127 endgültig, S.14, wo insoweit auf den Vorschlag für die Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen verwiesen wird). Dies erklärt sich daraus, dass die Qualifikationsrichtlinie erst nach der Daueraufenthaltsrichtlinie erlassen worden ist und schon deswegen keine Begriffsbestimmung für den früher verabschiedeten Rechtsakt liefern kann.

Für dieses Verständnis spricht auch, dass die Qualifikationsrichtlinie, wie bereits ihr Name zeigt ("Richtlinie über Mindestnormen ...") , lediglich Mindestnormen im Hinblick auf die Anerkennung, den Status und den Inhalt des Schutzes als Flüchtling oder als Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz enthält.

Auch zeigt die Definition des Begriffs "internationaler Schutz" in Art. 2 lit. g) der Richtlinie 2004/83/EG, wonach Antrag auf "internationalen Schutz" das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat ist, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt, und wenn er nicht ausdrücklich um eine andere, gesondert zu beantragende Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie ersucht, dass auch nach dem Verständnis des Gemeinschaftsgesetzgebers noch weitere - subsidiäre - Schutzformen außerhalb des Anwendungsbereichs der Qualifikationsrichtlinie bestehen.

Für eine über die Begriffsbestimmung in der Qualifikationsrichtlinie hinausgehende Auslegung des Begriffs der "subsidiären Schutzformen" im Rahmen der Daueraufenthaltsrichtlinie spricht schließlich auch der Vorschlag der Kommission für eine Änderung der Richtlinie 2003/109/EG zwecks Erweiterung ihres Anwendungsbereichs auf "Personen mit internationalem Schutzstatus" vom 6. Juni 2007 (vgl. KOM (2007) 298 endgültig).

Insoweit werden zwar - neben anerkannten Flüchtlingen (vgl. Art. 3 Abs. 2 lit. d) des Änderungsvorschlags) - grundsätzlich auch Personen, denen eine Form von subsidiärem Schutz zuerkannt worden ist, in den Anwendungsbereich der Daueraufenthaltsrichtlinie einbezogen. Der Begriff der "subsidiären Schutzformen gemäß internationaler Verpflichtungen, nationaler Rechtsvorschriften oder Praktiken der Mitgliedstaaten" wird jedoch beibehalten und trotz Bezugnahme auf die Terminologie der Qualifikationsrichtlinie in Art. 2 lit. f) des Änderungsvorschlags nicht durch den Begriff des "subsidiären Schutzes" im Sinne der Qualifikationsrichtlinie ersetzt.

Aus den vorstehenden Erwägungen, insbesondere der Entstehungsgeschichte der Daueraufenthaltsrichtlinie und der Eigenschaft der Qualifikationsrichtlinie als Kodifikation von Mindeststandards auf der Ebene des Gemeinschafts rechts, folgt gleichzeitig jedoch auch, dass unter den Begriff der "subsidiären Schutzformen" im Sinne der Daueraufenthaltsrichtlinie jedenfalls auch "subsidiärer Schutz" im Sinne der Qualifikationsrichtlinie fällt.

Denn der Gemeinschaftsgesetzgeber hat, wie in der Begründung zum Vorschlag der Daueraufenthaltsrichtlinie angekündigt, gemäß den Vorgaben der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere vom 15. und 16. Oktober 1999 den Begriff des "subsidiären Schutzes" in der Qualifikationsrichtlinie auf Gemeinschaftsebene harmonisiert und sich dabei an den subsidiären Schutzformen orientiert, die in den Mitgliedstaaten aufgrund internationaler Verpflichtungen - insbesondere nach Maßgabe der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen rechte (EGMR) - sowie aufgrund nationaler Bestimmungen und Praktiken bereits bestanden, und diese in den Mindestnormen der Qualifikationsrichtlinie als "kleinster gemeinsamer Nenner" zusammengefasst, klargestellt und festgeschrieben (vgl. Begründung der Kommission zum Vorschlag der Qualifikationsrichtlinie vom 12. September 2001, KOM (2001) 510 endgültig, S. 12 zum ursprüngl. Art. 2 lit. i) "Antrag auf subsidiären Schutz", S. 14 zum ursprüngl. Art. 5 "Bestandteile des internationalen Schutzes" und S. 29 f. zum Kapitel IV "subsidiärer Schutz"). Die Daueraufenthaltsrichtlinie und die Qualifikationsrichtlinie stellen sich insoweit als miteinander zusammenhängende Rechtsakte im Rahmen eines einheitlichen Gesetzgebungsprogramms der Europäischen Union im Bereich der Asyl- und Einwanderungspolitik dar (vgl. Art. 63 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft i.d.F. des Vertrags von Amsterdam - EG -), das u.a. von dem Ziel der Harmonisierung des Begriffs des "subsidiären Schutzes" und der Kodifizierung von diesbezüglichen Mindeststandards getragen war.

Dass "subsidiärer Schutz" im Sinne der Qualifikationsrichtlinie vom Begriff der "subsidiären Schutzformen" im Sinne der Daueraufenthaltsrichtlinie erfasst wird, folgt im Übrigen auch aus dem bereits erwähnten Kommissionsvorschlag für eine Änderung der Daueraufenthaltsrichtlinie vom 6. Juni 2007.

bb) Soweit der Begriff "subsidiäre Schutzformen gemäß internationaler Verpflichtungen, nationaler Rechtsvorschriften und Praktiken der Mitgliedstaaten" im Sinne der Daueraufenthaltsrichtlinie über den Begriff des "subsidiären Schutzes" im Sinne der Qualifikationsrichtlinie hinausgeht, ist darunter jedoch - entgegen der Auffassung des Beklagten - nicht jede Aufenthaltsgewährung der Mitgliedstaaten aufgrund von humanitären Erwägungen zu fassen, wie dies im Erlass des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen vom 23. Januar 2003 - Az. 15-29.06.02-2-(NE) - vorgesehen und schließlich auch in § 9 a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG vom Bundesgesetzgeber umgesetzt worden ist.

Vielmehr fällt darunter nur eine solche Schutz- bzw. Aufenthaltsgewährung, die mit Blick auf im Herkunftsland des Drittstaatsangehörigen drohende Gefahren erfolgt und insoweit einen über den in der Qualifikationsrichtlinie vorgesehenen internationalen Schutz hinausgehenden - internationalen - Schutz nach nationalen Bestimmungen bietet (vgl. zu dieser Schutzform auch Art. 2 lit. c) der Richtlinie 2001/55/EG, wo im Rahmen der Begriffsbestimmung des "Vertriebenen" von sonstigen internationalen oder "nationalen" Instrumenten die Rede ist, die internationalen Schutz gewähren). Das bedeutet andererseits, dass die Gestattung des Aufenthalts aus sonstigen humanitären oder auch familiären Gründen nicht vom Ausschlusstatbestand des Art. 3 Abs. 2 lit. c) der Richtlinie 2003/109/EG erfasst ist.

Diese Auslegung des Begriffs "subsidiäre Schutzformen gemäß internationalen Verpflichtungen, nationalen Bestimmungen und Praktiken der Mitgliedstaaten" im Sinne der Daueraufenthaltsrichtlinie ergibt sich zum einen aus dem Bedeutungsgehalt des Begriffs "subsidiärer Schutz" unter Berücksichtigung dessen Entstehungsgeschichte im Rahmen der europäischen Gesetzgebung im Bereich der Asyl- und Einwanderungspolitik. Zum anderen beruht sie auf einem Vergleich mit dem Inhalt des in der Qualifikationsrichtlinie als gemeinschaftsrechtlicher Mindeststandard festgelegten subsidiären Schutz.

Für die Bestimmung der Reichweite des Begriffs "subsidiäre Schutzformen" ist zunächst

vom Bedeutungsgehalt des Begriffs "subsidiärer Schutz" auszugehen. Subsidiär bedeutet "helfend, unterstützend, behelfsmäßig oder als Behelf dienend". Als subsidiäres Recht werden insbesondere Rechtsnormen bezeichnet, die nur dann zur Anwendung kommen, wenn das übergeordnete, vorrangig geltende Recht keine Regelungen enthält. Zur Bestimmung des Anwendungsbereich der "subsidiären Schutzformen" kann daher der Anwendungsbereich des übergeordneten Schutzes herangezogen werden, den der "subsidiäre Schutz" ergänzt.

Übergeordneter bzw. vorrangiger Schutz im Verhältnis zum "subsidiären Schutz" im Sinne des Gemeinschaftsrechts ist jedoch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Nach der Vorstellung des Gemeinschaftsgesetzgebers, die dem Gesetzgebungsprogramm der Europäischen Union im Bereich der Asyl- und Einwanderungspolitik auf der Grundlage von Art. 63 EGV zugrunde lag und die in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere vom 15. und 16. Oktober 1999 festgehalten ist, sollten im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems auf der Grundlage einer uneingeschränkten und umfassenden Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention zum einen die Bestimmungen über die Zuerkennung und die Merkmale über den Flüchtlingsstatus angenähert und zum anderen die Vorschriften über die Flüchtlingseigenschaft durch Maßnahmen über die Formen des "subsidiären Schutzes" ergänzt werden, die einer Person, die eines solchen Schutzes bedarf, einen angemessenen Status verleiht (vgl. 1. bis 7. Begründungserwägung der Richtlinie 2004/83/EG).

In der Qualifikationsrichtlinie werden dementsprechend sowohl Mindestnormen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen als Flüchtlinge entsprechend der Genfer Flüchtlingskonvention als auch Mindestnormen für den subsidiären Schutz von Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, festgelegt, wobei letzterer den Flüchtlingsstatus ergänzen soll (vgl. 5. Begründungserwägung der Richtlinie 2004/83/EG).

Die Richtlinien, die im Bereich der gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik aufgrund der Kompetenztitel des Art. 63 EGV im Rahmen des Gesetzgebungsprogramms nach der Tagung von Tampere ergangen sind, wozu u.a. die Daueraufenthalts- und die Qualifikationsrichtlinie zählen, gehen dabei alle von dem bereits in Art. 63 Nr. 1 c) und Nr. 2 a) EGV angelegten Verständnis eines zweigeteilten internationalen Schutzes aus, bestehend aus der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft einerseits und der Zuerkennung anderweitigen - subsidiären - Schutzes auf der Grundlage der bestehenden Verpflichtungen nach dem Völker- und Gemeinschaftsrecht sowie der aktuellen Praxis der Mitgliedstaaten andererseits (vgl. Begründung zum Vorschlag für die Daueraufenthaltsrichtlinie KOM(2001), 127 endgültig, S. 14 f. zu Art. 3 Abs. 2 lit. b) - heute lit. c) -; Begründung zum Vorschlag für die Qualifikationsrichtlinie KOM(2001), 510 endgültig, S. 11 f. zum Begriff "internationaler Schutz" und "Antrag auf subsidiären Schutz"; Begründung zum 1. Vorschlag für die Familienzusammenführungsrichtlinte KOM(1999) 638 endgültig, S. 13 zum Begriff "Person, die subsidiären Schutz genießt" und zum Änderungsvorschlag KOM (2000) 624 endgültig, S. 3 zu Art. 3 Abs. 2 c); Protokolle zur 2455. Tagung des Rates - Justiz, Inneres und Katastrophenschutz - am 14715. Oktober 2002 in Luxemburg sowie zur 2504. Tagung am 8. Mai 2003 in Brüssel, wo sowohl die Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen als auch die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen erörtert wurde).

Die Gewährung des "vorrangigen Schutzes" in Form der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfolgt aber ausschließlich im Hinblick auf eine im Herkunftsstaat erlittene oder drohende Verfolgung wegen zumindest einem der in Art. 1 A der Genfer Flüchtlingskonvention aufgeführten fünf Gründe (Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Überzeugung). In Anlehnung daran kann der subsidiäre bzw. komplementäre Schutz, der den vorrangigen Schutz ergänzt und als solcher dessen Schutzrichtung - mit Ausnahme der Gründe für den drohenden Schaden - teilt, ebenfalls nur Gefahren betreffen, die aus sonstigen, nicht in Art. 1 A der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen im Herkunftsstaat drohen (vgl. insoweit auch die Begründung zum Vorschlag der Qualifikationsrichtlinie KOM (2001) 510, S. 14 f.).

Dieses Verständnis findet sich auch bestätigt durch einen Vergleich mit Art und Umfang des in der Qualifikationsrichtlinie auf der Grundlage der bestehenden subsidiären Schutzpraxis der Mitgliedstaaten auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts als Mindeststandard festgelegten "subsidiären Schutzes".

Daraus folgt aber, dass nach dem gemeinschaftsrechtlichen Verständnis des subsidiären Schutzes auch in den Fällen subsidiären Schutzes "aufgrund nationaler Rechtsvorschriften und Praktiken", die mit der Qualifikationsrichtlinie nicht als "kleinster gemeinsamer Nenner" erfasst worden sind, ausschließlich Gefahren erfasst sein können, die dem Schutzsuchenden bei einer Rückkehr im Herkunftsland drohen, also "zielstaatsbezogene Gefahren" im weiteren Sinne.

In Anwendung der vorstehenden Grundsätze ist der Kläger nicht vom Anwendungsbereich der Daueraufenthaltsrichtlinie ausgeschlossen. Denn ihm wurde der Aufenthalt nach dem im April 2001 im Bundesgebiet erlittenen Arbeitsunfall zur Ermöglichung einer umfassenden Rehabilitation wegen Vorliegens einer außergewöhnlichen Härte auf der Grundlage von § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG gestattet. Die Aufenthaltsgewährung erfolgte insoweit gerade nicht mit Blick auf dem Kläger in seinem Heimatland drohende Gefahren und damit aufgrund einer "subsidiären Schutzform" im Sinne von Art. 3 Abs. 2 lit. c) der Richtlinie 2003/109/EG, sondern vielmehr aus sonstigen humanitären Erwägungen.

Diesem Ergebnis auch steht nicht die zum 28. August 2007 mit dem Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union in Kraft getretene Vorschrift des § 9 a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG entgegen, durch die u.a. Art. 3 Abs. 2 lit. c) der Richtlinie 2003/109/EG in nationales Recht umgesetzt worden ist und wonach § 9 a Abs. 2 AufenthG, der die Erteilung der Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG regelt, nicht anzuwenden ist, wenn der Ausländer einen Aufenthaltstitel nach Abschnitt 5 besitzt, der nicht auf Grund des § 23 Abs. 2 erteilt wurde, oder eine vergleichbare Rechtsstellung in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union innehat.

Diese Bestimmung, steht nämlich nicht im Einklang mit dem Begriff der "subsidiären Schutzformen" im Sinne von Art. 3 Abs. 2 lit. c) der Richtlinie 2003/109/EG nach Maßgabe der vorstehenden Auslegung, soweit durch sie die Anwendbarkeit der Richtlinie in sämtlichen Fällen der Gestattung des Aufenthalts aus humanitären Gründen ausgeschlossen wird. § 9 a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ist daher richtlinienkonform einschränkend dahingehend auszulegen, dass insoweit nur die Aufenthaltstitel des Abschnitts 5 erfasst sind, die wegen im Herkunftsland des Drittstaatsangehörigen drohender Gefahren, also "zielstaatsbezogener Gefahren" im weiteren Sinne erteilt werden (wie etwa nach § 25 Abs. 1 AufenthG, § 25 Abs. 2 AufenthG, § 25 Abs. 3 i.V.m. § 60 Abs. 2, 4, 5 und 7 AufenthG, § 25 Abs. 5 AufenthG, soweit der Erteilung ebenfalls zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 4, 5 und 7 AufenthG zugrunde liegen, § 24 AufenthG sowie ggf. auch §§ 22 und 23 Abs. 1 AufenthG, je nachdem, aus welchen Gründen die Aufnahme erklärt bzw. die Anordnung getroffen wird). Ein solcher Aufenthaltstitel ist dem Kläger - wie dargelegt - jedoch gerade nicht erteilt worden.

b) Die Anwendbarkeit der Daueraufenthaltsrichtlinie ist auch nicht nach Maßgabe von Art. 3 Abs. 2 lit. a) der Richtlinie 2003/109/EG (i.V.m. § 9 a Abs. 3 Nr. 4 AufenthG) ausgeschlossen, wonach die Richtlinie keine Anwendung auf Drittstaatsangehörige findet, die sich zwecks Studiums oder Berufsausbildung aufhalten.

Zwar absolviert der Kläger gegenwärtig eine Umschulung im Ausbildungsberuf Bauzeichner, die ihm nach dem Unfall als Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben von dem zuständigen Rehabilitationsträger gemäß § 35 SGB VII i.V.m. § 33 SGB IX bewilligt wurde. Die Umschulung ist jedoch nicht primärer Zweck seines Aufenthalts, sondern wurde dem Kläger lediglich als Teil eines umfassenden Rehabilitationsprogramms während seines bereits aus humanitären Gründen erlaubten Aufenthalts gestattet.

c) Schließlich unterfällt der Kläger auch nicht dem Ausschlusstatbestand des Art. 3 Abs. 2 lit. e) der Richtlinie 2003/109/EG (i.V.m. § 9 a Abs. 3 Nr. 5 AufenthG).

Danach findet die Richtlinie keine Anwendung auf Drittstaatsangehörige, die sich ausschließlich vorübergehend wie etwa als Au-pair oder Saisonarbeitnehmer, als von einem Dienstleistungserbringer im Rahmen der grenzüberschreitenden Erbringung von Dienstleistungen entsendete Arbeitnehmer oder als Erbringer grenzüberschreitender Dienstleistungen aufhalten oder deren Aufenthaltsgenehmigung förmlich begrenzt wurde. Bei diesem Ausschlusstatbestand handelt es sich um eine Auffangbestimmung für sämtliche nur vorübergehende Aufenthaltszwecke. Denn wie die Formulierung "wie etwa" (vgl. "insbesondere" in § 9 a Abs. 3 Nr. 5 AufenthG) erkennen lässt, sind die dort aufgeführten Beispielsfälle nicht als abschließend zu verstehen. Durch den Begriff "ausschließlich" wird außerdem deutlich, dass der Aufenthalt allein zu einem vorübergehenden Zweck genehmigt worden sein muss. Das bedeutet, dass der Ausschlusstatbestand nicht greift, wenn zugleich ein weiterer, nicht nur vorübergehender Aufenthaltszweck vorliegt. Ferner zeigen die aufgeführten Beispiele (Au-pair, Saisonarbeiter etc.), dass es sich bereits um einen "seiner Natur nach" vorübergehenden Aufenthaltszweck handeln muss (vgl. so auch § 9 a Abs. 3 Nr. 5 AufenthG).

Bereits unter Berücksichtigung der Rechtsgrundlage des ihm erteilten Aufenthaltstitels ist nicht von einem ausschließlich vorübergehenden Aufenthaltszweck auszugehen. Gegen einen solchen spricht zunächst, dass §25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG anders als Satz 1 der Vorschrift, der ausdrücklich nur einen vorübergehenden Aufenthalt zulässt, grundsätzlich auch einen langfristigen Aufenthalt ermöglicht (vgl. Marx in GK-AufenthG, a.a.O., Stand: Dezember 2005, § 29 Rdnr. 91 ff. (95); Hailbronner, a.a.O., Stand: Februar 2008, § 25 Rdnr. 87; OVG Münster, Beschluss vom 20. Mai 2005 - 18 B 1207/04 -, InfAuslR 2005, 380.)

2. Schließlich erfüllt der Kläger auch sowohl bezogen auf den begehrten Erteilungszeitpunkt 14. September 2006 als auch bezogen auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Daueraufenthalt-EG.

Der Kläger, der - wie unter I. dargelegt - seit dem 14. September 2001 durchgängig im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis bzw. seit dem 1. Januar 2005 einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG ist, hält sich damit sowohl bezogen auf den begehrten Erteilungszeitpunkt 14. September 2006 als auch bezogen auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung seit fünf Jahren ununterbrochen rechtmäßig im Bundesgebiet auf (vgl. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109/EG i.V.m. §§ 9 a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG).

Außerdem verfügt der Kläger im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt über feste und regelmäßige Einkünfte, durch die sein Lebensunterhalt - einschließlich eines ausreichenden Krankenversicherungsschutzes - gesichert ist, ohne dass er auf die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel angewiesen wäre (vgl. Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109/EG i.V.m. §§ 9 a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, 9 c AufenthG).

Soweit mit dem vorliegenden Urteil der Klage mit dem Klageantrag zu 2. stattgegeben und der Beklagte verpflichtet worden ist, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis mit dem Zusatz "Daueraufenthalt-EG" ab dem 14. September 2006 zu erteilen, wird die Revision unter Übergehung der Berufungsinstanz zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (vgl. § 134 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Gleichzeitig wird insoweit die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (vgl. § 124 a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).