OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18.06.2008 - 17 A 2250/07 - asyl.net: M13668
https://www.asyl.net/rsdb/M13668
Leitsatz:

Die Abgabe einer sog. Freiwilligkeitserklärung ist zumutbar, soweit damit lediglich zum Ausdruck gebracht wird, der bestehenden Ausreisepflicht ohne staatlichen Zwang Folge zu leisten (hier: Iran).

Anmerkung der Redaktion: Das Urteil ist rechtskräftig, siehe Urteil des BVerwG v. 10.11.2009 (1 C 19.08, M16642).

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Ausreisehindernis, Passlosigkeit, Iran, Iraner, Mitwirkungspflichten, Passbeschaffung, Passersatzbeschaffung, Verschulden, Zumutbarkeit, Freiwilligkeitserklärung, Altfallregelung, Behinderung der Aufenthaltsbeendigung, Verzögerung der Aufenthaltsbeendigung, Kinder, Eltern, Zurechnung
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5; AufenthG § 48 Abs. 3; AsylVfG § 15 Abs. 2 Nr. 6; AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 4
Auszüge:

Die Abgabe einer sog. Freiwilligkeitserklärung ist zumutbar, soweit damit lediglich zum Ausdruck gebracht wird, der bestehenden Ausreisepflicht ohne staatlichen Zwang Folge zu leisten (hier: Iran).

(Leitsatz der Redaktion)

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Versagung der begehrten Aufenthaltserlaubnisse ist rechtmäßig und verletzt die Kläger daher nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

1. Nach § 25 Abs. 5 AufenthG kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, abweichend von § 11 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist (Satz 1).

Der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Abs. 5 AufenthG steht jedoch entgegen, dass die Kläger nicht unverschuldet an der Ausreise gehindert sind. Ein Verschulden der Klägerin zu 1., das sich die Kläger zu 2. und 3. als ihre minderjährigen Kinder zurechnen lassen müssen, ergibt sich daraus, dass sie zumutbare Anforderungen zur Beseitigung des Ausreisehindernisses nicht erfüllt.

Die Frage, welche Mitwirkungshandlungen dem Ausländer zumutbar sind, beurteilt sich unter Berücksichtigung aller Umstände und Besonderheiten des Einzelfalls (vgl. BVerwG, Beschluss vom 15. Juni 2006 - 1 B 54.06 -, Buchholz 402. 242 § 25 AufenthG Nr. 4; OVG NRW, Beschluss vom 5. Juni 2007 - 18 E 413/07 -, AuAS 2007, 221).

Grundsätzlich sind sämtliche Handlungen zumutbar, die zur Beschaffung eines zur Ausreise oder zur Abschiebung notwendigen Dokuments erforderlich sind und nur vom Ausländer persönlich vorgenommen werden können (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, § 25 AufenthG, Rdnr. 111 mwN (Stand: Februar 2006)).

Eine Mitwirkungshandlung, die von vornherein erkennbar aussichtslos ist, kann dem Ausländer nicht abverlangt werden (vgl. BVerwG, aaO; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14. Juni 2007 - 3 B 34.05 -, Juris; Burr, in: GK-AufenthG, § 25 AufenthG, Rdnr. 177 (Stand: Juni 2007)).

Hiervon ausgehend ist es den Klägern nicht zumutbar, die Ausstellung iranischer Nationalpässe zu beantragen.

Nach der den Beteiligten bekannten Erkenntnislage ist davon auszugehen, dass ein derartiger Antrag keinen Erfolg haben würde. Ausweislich des Vermerks des Ordnungsamts - Abteilung für Ausländerwesen - der Stadt Kassel vom 11. Dezember 2006 über eine Vorsprache beim Generalkonsulat der Islamischen Republik Iran Frankfurt am Main am 28. November 2006 (im Folgenden: Vermerk Kassel) verlangt das Generalkonsulat von einem Passbewerber den Nachweis über die Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts in Deutschland. Dem entspricht der Inhalt des von dem Generalkonsulat herausgegebenen Informationsblattes "Passerneuerung". Hiernach sind bei der Beantragung eines neuen Passes unter anderem Kopien derjenigen Seiten des abgelaufenen Passes vorzulegen, auf der die Aufenthaltserlaubnis der deutschen Behörde vermerkt ist. Der Umstand, dass der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Teheran ausweislich ihres Schreibens vom 3. Februar 2008 an das Ordnungsamt - Ausländerbehörde - des Landkreise Goslar Fälle bekannt geworden sind, in denen iranischen Staatsangehörigen ein Reisepass ausgestellt worden ist, obwohl sie keinen legalen Aufenthalt im Bundesgebiet hatten, gibt keinen Anlass zu der Annahme, dass eine Passbeantragung ohne Nachweis eines Aufenthaltsrechts Aussicht auf Erfolg haben könnte. Denn offenbar handelt es sich um besonders gelagerte Einzellfälle ("sogar"), deren Hintergründe in Ermangelung näherer Angaben nicht nachvollzogen werden können.

Die Kläger verfügen nicht über einen rechtmäßigen Aufenthalt, sodass für sie die Ausstellung iranischer Nationalpässe nicht in Betracht kommt. Ob sie darüber hinaus - wie von ihnen geltend gemacht - auch nicht zur Beibringung eines aus Sicht des Generalkonsulats akzeptablen Identitätsnachweises in der Lage sind, kann dahinstehen. Eine hiernach von vornherein aussichtslose Passbeantragung kann den Klägern nicht abverlangt werden.

Anders verhält es sich in Bezug auf die Beantragung von Passersatzpapieren. Da sie der Rückführung eines ausreisepflichtigen Ausländers dienen, wird nicht der Nachweis eines Aufenthaltsrechts gefordert, sondern die behördliche Bestätigung der Ausreisepflicht (vgl. Nr. 7 des Vermerks Kassel).

Allerdings machen die iranischen Auslandsvertretungen die Ausstellung eines Passersatzpapiers davon abhängig, dass der Ausländer erklärt, freiwillig in den Iran zurückkehren zu wollen. Dies ergibt sich aus den vorliegenden Erkenntnissen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran (Stand: Februar 2008) vom 18. März 2008, Seite 35; Vermerk Kassel, zu Nr. 8; vom Beklagten im Verfahren 17 E 500/08 vorgelegtes Antragsformular) und ist zwischen den Beteiligten unstreitig.

Die Kläger halten die Abgabe einer solchen "Freiwilligkeitserklärung" für unzumutbar, da sie nicht der Wahrheit entspreche. Sie machen sich damit eine Sichtweise zu eigen, die insbesondere in der Rechtsprechung ordentlicher Gerichte zu den Voraussetzungen der Sicherungshaft (§ 57 Abs. 2 Satz 4, Abs. 3 Satz 2 AuslG, nunmehr: § 62 Abs. 2 Satz 4, Abs. 3 Satz 2 AufenthG) sowie zur Strafbarkeit wegen Verstoßes gegen die Passpflicht (§§ 95 Abs. 1 Nr. 1, 3 Abs. 1, 48 Abs. 2 AufenthG) vertreten wird (vgl. OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 27. Juli 1999 - 20 W 306/99 -, InfAuslR 1999, 465; Kammergericht Berlin, Beschluss vom 25. Oktober 1999 - 25 W 8380/99 -, InfAuslR 2000, 229; OLG Hamm, Beschluss vom 12. Februar 2001 - 19 W 20/01 -, bei Melchior Abschiebungshaft, Anhang; OLG Celle, Beschluss vom 16. Oktober 2003 - 17 W 80/03 -, bei Melchior, aaO.; OLG Düsseldorf , Beschluss vom 3. November 2003 - I - 3 Wx 275/03 -, bei Melchior, aaO.; OLG Köln, Beschluss vom 10. Februar 2006 - 16 Wx 238/05 -, NVwZ-RR 2007, 133; OLG Nürnberg, Urteil vom 16. Januar 2007 - 2 St OLG Ss 242/06 -, juris; aA. wohl BayObLG, Beschluss vom 17. November 2003 - 4 Z BR 73/03 -, bei Melchior, aaO).

Diese Sichtweise wird von einigen Verwaltungsgerichten und verschiedenen Literaturstimmen geteilt (vgl. Sächsisches OVG, Beschluss vom 21. Juni 2007 - A 2 B 258/06 -, n.v.; VG Frankfurt am Main, Urteil vom 23. Januar 2008 - 1 E 3668/07 (2) -, n.v.; ebenso: Heinhold, ZAR 2003, 218, 224; Göbel-Zimmermann, ZAR 2005, 275, 280).

Demgegenüber gehen der überwiegende Teil der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zu §§ 25 Abs. 5 und 49 Abs. 1 (jetzt Absatz 2) AufenthG, § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylVfG und zu § 11 Satz 1 BeschVerfV sowie mehrere sozialgerichtliche Entscheidungen zu § 1a Nr. 2 AsylbLG von der Zumutbarkeit der Abgabe einer "Freiwilligkeitserklärung" aus (vgl. Niedersächsisches OVG, Urteil vom 11. Dezember 2002 - 4 LB 471/02 -, NVwZ 2003, Beilage Nr. I 7, 54; Hessischer VGH, Beschluss vom 28. Januar 2005 - 9 UZ 1412/04 -, n.v.; VG Hamburg, Urteil vom 20. Oktober 2006 - 10 K 6115/04 -, juris; LSG NRW, Beschluss vom 29. Januar 2007 - L 20 B 69/06 AY ER, n.v.; OVG Rheinland-Pfalz, Beschlüsse vom 15. März 2007 - 7 B 10213/07.OVG -, Juris (Ls.) und 5. April 2007 - 17 A 10108/07, 7 E 11594/06 -, NVwZ-RR 2007, 494 (Ls.); OVG NRW, Beschluss vom 5. Juni 2007 - 18 E 413/07 -, AuAS 2007, 221; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14. Juni 2007 - 3 B 34.05 -, juris; BayVGH, Beschluss vom 3. August 2007 - 19 ZB 07.1163 -, juris; VG Augsburg, Beschluss vom 27. August 2007 - Au 6 K 07.803, Au 6 K 07.804 -, juris; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 28. September 2007 - L 8 B 11/06 AY ER -, n.v.; ebenso: Hailbronner, aaO., Rdn. 112; Tz. 25.5.3 VAH-AufenthG).

Der Senat folgt der letztgenannten Auffassung. Maßgeblich hierfür sind folgende Erwägungen:

Nach § 48 Abs. 3 AufenthG und § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylVfG ist ein Ausländer, der - wie die Kläger - keinen gültigen Pass oder Passersatz besitzt, verpflichtet, an der Beschaffung des Identitätspapiers mitzuwirken. Hiervon umfasst ist gemäß § 49 Abs. 2 AufenthG die Verpflichtung, im Rahmen der Beschaffung von Heimreisedokumenten die von der Vertretung des Heimatstaats geforderten und mit dem deutschen Recht in Einklang stehenden Erklärungen abzugeben. Zwar werden hiervon nur solche Erklärungen erfasst, die der Ermittlung der Identität und Staatsangehörigkeit dienen (vgl. Tz. 49.1.5 VAH-AufenthG; Zeitler, HTK-AuslR/§ 49 AufenthG/zu Abs. 2 01/2008 Nr. 3) mit der Folge, dass es keine Grundlage für eine selbständig durchsetzbare Pflicht zur Abgabe einer "Freiwilligkeitserklärung" gibt (vgl. Hailbronner, aaO., Rdn. 112).

Es handelt sich hierbei jedoch um eine Obliegenheit, die sich aus der Ausreisepflicht als solcher ergibt (vgl. Hailbronner, aaO).

Für deren Verbindlichkeit ist unerheblich, ob der Ausländer sie akzeptiert oder nicht. Gleiches gilt für die Beurteilung erforderlicher Mitwirkungshandlungen: Der Unwille des Ausländers, derartige Handlungen vorzunehmen, lässt diese nicht von vornherein als unzumutbar erscheinen. So kann von einem Ausländer, der "aus Überzeugung" staatenlos ist und aus diesem Grund seine bisherige Staatsangehörigkeit aufgegeben hat, durchaus verlangt werden, die aufgegebene Staatsangehörigkeit wieder zu (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. November 1998 - 1 C 8.98 -, BVerwGE 108, 21; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14. Juni 2007 - 3 B 34.05 -, juris).

Zwar kann einem ausreisepflichtigen Ausländer nicht angesonnen werden, dass er zum Zwecke der Erlangung von Passersatzpapieren die Auslandsvertretung seines Heimatstaats über die Motive seiner Rückkehrabsicht belügt. Derartiges wird von den Klägern allerdings auch nicht verlangt. Die Erklärung, freiwillig in den Iran zurückkehren zu wollen, erschöpft sich in der Bekundung der Bereitschaft, der bestehenden Ausreisepflicht ohne staatlichen Zwang Folge zu leisten. Diese Bereitschaft kann und muss jedoch von den Klägern erwartet werden. Denn die Funktionsfähigkeit einer Rechtsordnung setzt voraus, dass nicht nur Rechte in Anspruch genommen, sondern auch Pflichten akzeptiert werden.

Anhaltspunkte dafür, dass der in Rede stehenden "Freiwilligkeitserklärung" ein über die Akzeptanz der Ausreisepflicht hinausgehender Bedeutungsgehalt zukäme, liegen nicht vor. Ausweislich des zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Antragsformulars hat die schriftlich abzugebende "Erklärung zur freiwilligen Rückkehr in die Islamische Republik Iran" folgenden Wortlaut:

"Hiermit erkläre ich, dass ich freiwillig in die Islamische Republik Iran zurückkehren möchte."

Irgendwelche Hinweise darauf, dass der Freiwilligkeit Motive zugrunde liegen müssen, die über die Bereitschaft zu einem rechtstreuen Verhalten hinausgehen, lassen sich hieraus nicht entnehmen. Sie ergeben sich auch nicht aus dem Umstand, dass der Bewerber um ein Passersatzpapier die Gründe seines Ausreisewunsches handschriftlich darlegen und im Rahmen einer Befragung durch Konsulatsmitarbeiter erläutern muss. Diese Prozedur dient offensichtlich der Authentifizierung der formblattmäßigen Freiwilligkeitserklärung, lässt für sich genommen aber nicht den Rückschluss zu, dass aus iranischer Sicht der Wille des Bewerbers, die deutsche Rechtsordnung zu respektieren, kein für die Annahme von Freiwilligkeit ausreichendes Motiv sei. Zwar lehnen die iranischen Auslandsvertretungen die Ausstellung eines Passersatzpapiers ab, wenn der Bewerber darauf hinweist, dass er die "Freiwilligkeitserklärung" nur abgebe, um strafrechtlichen Sanktionen zu entgehen (vgl. die in dem Urteil des OLG Nürnberg vom 16. Januar 2007 - 2 St OLG Ss 242/06 -, juris, zitierten Feststellungen der Vorinstanz).

Dies widerspricht jedoch nicht dem zugrunde gelegten Verständnis der "Freiwilligkeitserklärung", da in einem derartigen Fall deutlich wird, dass die Erklärung gerade nicht Ausdruck der Akzeptanz der Ausreisepflicht ist, sondern ausschließlich aus zweckorientierten Motiven abgegeben wird.

Informatorisch wird angemerkt, dass sich die Frage der Zumutbarkeit einer "Freiwilligkeitserklärung" in einem anderen Lichte stellen würde, wenn sich im Rahmen eines von den Klägern erst noch durchzuführenden Antragsverfahrens - wider Erwarten - erweisen sollte, dass das iranische Generalkonsulat die Ausstellung von Passersatzpapieren davon abhängig macht, dass auch unabhängig von der Ausreisepflicht ein Rückkehrwunsch besteht.

2. Ein Anspruch auf Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnisse ergibt sich auch nicht aus § 104a Abs. 1 AufenthG.

Die in dieser Norm getroffene Altfallregelung setzt unter anderem voraus, dass der Ausländer behördliche Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung nicht vorsätzlich hinausgezögert oder behindert hat, § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG. Dies ist jedoch bei den Klägern der Fall.