VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 26.06.2008 - 10 A 134.08 - asyl.net: M13745
https://www.asyl.net/rsdb/M13745
Leitsatz:

Die Ausnahmeregelung des § 104 a Abs. 3 S. 2 AufenthG ist auch auf Kinder des straffällig gewordenen Familienangehörige anwendbar; eine besondere Härte i.S.d. § 104 a Abs. 3 S. 2 AufenthG kann vorliegen, wenn den Kindern des straffällig gewordenen Familienangehörigen der Abbruch ihrer Schulausbildung unzumutbar ist.

 

Schlagwörter: D (A), Duldung, Ermessensduldung, dringende persönliche Gründe, Altfallregelung, Aufenthaltserlaubnis, Straftaten, Familienangehörige, Ehegatte, Kinder, besondere Härte, Schulbesuch, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung
Normen: AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 6; AufenthG § 104a Abs. 3; VwGO § 123; AufenthG § 60a Abs. 2
Auszüge:

Die Ausnahmeregelung des § 104 a Abs. 3 S. 2 AufenthG ist auch auf Kinder des straffällig gewordenen Familienangehörige anwendbar; eine besondere Härte i.S.d. § 104 a Abs. 3 S. 2 AufenthG kann vorliegen, wenn den Kindern des straffällig gewordenen Familienangehörigen der Abbruch ihrer Schulausbildung unzumutbar ist.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Antrag der aus dem ehemaligen Jugoslawien stammenden Antragsteller, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen Duldungen zu erteilen, ist gemäß § 123 Abs. 1 VwGO zulässig. Für die Dauer eines Erteilungsverfahrens für eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104 a Abs. 1 AufenthG kann ausnahmsweise durch eine einstweilige Anordnung gemäß § 123 VwGO eine Aussetzung der Abschiebung erwirkt werden, wenn nur so sichergestellt werden kann, dass eine ausländerrechtliche Regelung einem möglicherweise Begünstigten zugute kommt, wobei das Vorliegen der Voraussetzungen glaubhaft zu machen ist. In diesem Fall ist zur Sicherung eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) eine Ausnahme von dem Grundsatz zu machen, wonach die Erteilung einer Duldung für die Dauer eines Aufenthaltsgenehmigungsverfahrens aus gesetzessystematischen Gründen ausscheidet, wenn ein vorläufiges Bleiberecht nach § 81 AufenthG – wie hier – nicht eingetreten ist (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12.02.2008 – 18 B 230/08 – zitiert nach Juris).

Der Antrag ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang auch begründet. Den Antragstellern zu 1., 3. und 4. steht ein Anordnungsanspruch auf Erteilung einer Duldung gemäß § 60 a Abs. 2 Satz 3 AufenthG zu.

Dringende persönliche Gründe liegen vor, wenn sich bei der erforderlichen Interessenabwägung ergibt, dass dem privaten Interesse des Ausländers an einem vorübergehenden Aufenthalt im Bundesgebiet ein deutlich höheres Gewicht zukommt als der umgehenden Ausreise (vgl. dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.11.2007 – 17 B 1779/07 – zitiert nach Juris). Dies ist hier der Fall. Das öffentliche Interesse der Allgemeinheit an einer Ausreise der ausreisepflichtigen Antragsteller zu 1., 3. und 4. und an einer Beendigung ihres Bezugs öffentlicher Leistungen wird vorliegend überwogen durch das Interesse dieser Antragsteller an einem weiteren Verbleib in Deutschland, wobei insbesondere der Schulbesuch der in Deutschland geborenen Antragsteller zu 3. und 4. zu berücksichtigen ist.

Für den Antragsteller zu 1. kommt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG in Betracht.

Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG an den Antragsteller zu 1. ist schließlich auch insbesondere nicht gemäß § 104 a Abs. 3 Satz 1 AufenthG ausgeschlossen. Danach führt es zur Versagung der Aufenthaltserlaubnis für andere Familienmitglieder, wenn ein in häuslicher Gemeinschaft lebendes Familienmitglied Straftaten im Sinne von § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG begangen hat.

Dies ist – zwar – bei der Antragstellerin zu 2. der Fall – weswegen für diese die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG und damit vorliegend auch einer Duldung ausscheidet (siehe dazu unten).

Gemäß § 104 a Abs. 3 Satz 2 AufenthG findet jedoch § 104 a Abs. 3 Satz 1 AufenthG auf den Antragsteller zu 1. – und im Ergebnis ebenso auf die Antragsteller zu 3. und 4. – keine Anwendung. Danach gilt letztgenannte Regelung – zunächst – nicht für den Ehegatten eines Ausländers, der Straftaten im Sinne von § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG begangen hat, wenn der Ehegatte – wie ausgeführt – die Voraussetzungen des Absatzes 1 im Übrigen erfüllt und es zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich ist, ihm den weiteren Aufenthalt zu ermöglichen. Beide Kinder haben zudem ebenfalls vor dem Hintergrund von Nr. 104 a 3.3 der "Vorläufigen Anwendungshinweise der Ausländerbehörde Berlin" einen auf Gleichbehandlungsgrundsätzen beruhenden Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß §§ 104 a Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 AufenthG. Wird nach den Anwendungshinweisen dem Ehegatten eines Straftäters wegen besonderer Härte eine Aufenthaltserlaubnis nach der gesetzlichen Bleiberechtsregelung erteilt, gilt dies auch ohne eine ausdrückliche gesetzliche Regelung ebenso für die minderjährigen ledigen Kinder, soweit auch hier – wie vorliegend – die anderen Erteilungsvoraussetzungen erfüllt sind.

Eine besondere Härte im Sinne von § 104 a Abs. 3 Satz 2 AufenthG liegt vor. Eine die Antragsteller zu 1., 3. und 4. gegenüber anderen Antragstellern besonders treffende, atypische Fallgestaltung liegt in Gestalt des Schulbesuchs der beiden Antragsteller zu 3. und 4. in Verbindung mit der für diese altersbedingt bestehenden Betreuungsnotwendigkeit vor. Der 1995 geborene Antragsteller zu 3. besucht die S.-Schule, die 1994 geborene Antragstellerin zu 4. die Schule a.. Beide Kinder sind in Deutschland geboren, soweit aus den vorgelegten Zeugnissen und den dokumentierten Schulnoten ersichtlich auch integriert und beherrschen insbesondere die deutsche Sprache in Wort und Schrift. Den Antragstellern zu 3. und 4. ist vor diesem Hintergrund ein Abbruch ihres Grundschulbesuches nicht zumutbar. Es erschiene absurd, müssten die Antragsteller zu 3. und 4. nach erfolgtem mehrjährigen Schulbesuch ihre Schulausbildung abbrechen und ohne Abschluss die Schule verlassen, lediglich weil ihre Mutter in den Jahren 2004 und 2005 mehrfach schwarzgefahren ist. Zur Weiterführung des Schulbesuchs bedürfen die Antragsteller zu 3. und 4. darüber hinaus auf Grund ihres Lebensalters der Betreuung durch ein Elternteil, hier den Antragsteller zu 1. (vgl. § 104 a Abs. 3 Satz 3 AufenthG).