VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Beschluss vom 27.06.2008 - 1 K 737/08 - asyl.net: M13893
https://www.asyl.net/rsdb/M13893
Leitsatz:

Der Anspruch aus § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist ein "gesetzlicher Anspruch" i.S.d. §§ 10 Abs. 1, 16 Abs. 2 AufenthG, weil er sich regelhaft und unmittelbar aus dem Gesetz ergibt und wenn Anhaltspunkte für einen atypischen Fall - erst sein Vorliegen eröffnet auf der Rechtsfolgenseite ein Ermessen der Ausländerbehörde - von vornherein ausscheiden.

 

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Studium, Änderung des Aufenthaltszwecks, Anspruch, gesetzlicher Anspruch, subsidiärer Schutz, Krankheit, HIV/Aids, Russland, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Familienzusammenführung, sonstige Familienangehörige, außergewöhnliche Härte, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; AufenthG § 60 Abs. 2; AufenthG § 25 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 7; AufenthG § 36 Abs. 2
Auszüge:

Der Anspruch aus § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist ein "gesetzlicher Anspruch" i.S.d. §§ 10 Abs. 1, 16 Abs. 2 AufenthG, weil er sich regelhaft und unmittelbar aus dem Gesetz ergibt und wenn Anhaltspunkte für einen atypischen Fall - erst sein Vorliegen eröffnet auf der Rechtsfolgenseite ein Ermessen der Ausländerbehörde - von vornherein ausscheiden.

(Amtlicher Leitsatz)

 

Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig.

Der Antrag ist auch begründet.

Anders als das Landratsamt erachtet die Kammer jedoch in materiell-rechtlicher Hinsicht einen Anspruch der Antragstellerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit überwiegender Wahrscheinlichkeit für gegeben.

Rechtsgrundlage für ein sehr wahrscheinlich erfolgversprechendes Aufenthaltsbegehren der Antragstellerin ist hingegen § 25 Abs. 3 AufenthG. Aufgrund der Einschlägigkeit dieser Vorschrift ist sowohl die Frage des gesicherten Lebensunterhalts (bislang bei der Antragstellerin allerdings kein Problem) als auch eines erforderlichen Visumsverfahrens (im Fall der Antragstellerin wohl entbehrlich, vgl. § 39 Nr. 1 AufenthV) nicht mehr relevant, weil von der Anwendung des § 5 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG abzusehen ist (vgl. § 5 Abs. 3, erster Halbsatz AufenthG). Unschädlich ist angesichts dieses humanitären Aufenthaltsanspruchs schließlich auch, dass die Antragstellerin den Aufenthaltszweck geändert hat. Allerdings bestimmt der hier entsprechend anwendbare § 16 Abs. 2 AufenthG (vgl. § 16 Abs. 5 Satz 2 AufenthG), dass während eines Aufenthalts zum Zweck des Sprachkurses in der Regel keine Aufenthaltserlaubnis für einen anderen Aufenthaltszweck erteilt werden soll, sofern nicht ein gesetzlicher Anspruch besteht. Es kann jedoch dahinstehen, ob diese Vorschrift in Fällen wie hier einschlägig ist, in denen der Aufenthaltszweck erst nach Zweckerreichung bzw. erfolgreichem Abschluss der ursprünglichen Ausbildung und nicht schon während der Geltung der ursprünglichen AE geändert wird (eine Anwendbarkeit der Sperrwirkung in diesen Fällen verneinend: Hailbronner, AuslR Band 1, § 16 Rdnr. 47 [Februar 2005]; ferner Storr/Kreuzer, in: Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Harms, Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2. Aufl. 2008, § 16 Rdrn. 19; a.A.: Hamb. OVG, Beschl. v. 30.5.2007 - 3 Bs 390/05 -, ZAR 2007, 333; offen lassend: VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 25.2.2008 - 11 S 2746/07 - juris). Denn der Anspruch der Antragstellerin aus § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist ein gesetzlicher Anspruch, weil er sich regelhaft bereits unmittelbar aus dem Gesetz ergibt und Anhaltspunkte für einen atypischen Fall - erst sein Vorliegen eröffnet auf der Rechtsfolgenseite ein Ermessen der Ausländerbehörde - hier von vornherein ausscheiden (in diesem Sinne auch: Hailbronner, a.a.O., § 25 Rdnr. 47 und § 16 Rdrn. 46; Wenger, in: Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Harms, a.a.O., § 10 Rdnrn. 4 und 8; Renner, AuslR, 8. Aufl. 2005, § 5 Rdnr. 25 und § 16 Rdrn. 16; Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 3. Aufl. 2007, Seite 190 unter Hinweis auf Hess. VGH, Urt. v. 1.9.2006 - 9 UE 1650/06).

Die Voraussetzungen des § 25 Abs. 3 AufenthG sind zu Gunsten der Antragstellerin aller Voraussicht nach erfüllt. Vorbehaltlich eines atypischen Falles, für den es hier keine Anhaltspunkte gibt, ist danach einem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn die Voraussetzungen für die Aussetzung der Abschiebung u. a. nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegen. Bei der Krankheit der Antragstellerin, einer HIV-Infektion im Stadium A2, handelt es sich um ein sog. zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis i. S. v. § 60 Abs. 7 AufenthG.

Die Gefahr, der sich die Antragstellerin bei einer Rückkehr ausgesetzt sähe, stellt danach wohl sehr wahrscheinlich eine solche allgemeiner Art dar. Schätzungen zur Zahl der in Russland HIV- bzw. AIDS-erkrankten Personen belaufen sich zum Ende des Jahres 2007 auf mindestens eine Million Menschen, innerhalb derer die Gruppe der 15- bis 30-jährigen (zu denen die Antragstellerin gehört) etwa 80 Prozent ausmachten. Angesichts des bislang epidemischen Charakters der Neuerkrankungen belaufen sich Schätzungen für das Jahr 2010 auf 3 bis 4 Mio. Krankheitsfälle (Center for Strategic and International Studies: HIV/AIDS in Russia [October 2007], Seiten 1, 3; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Erkenntnisse zur russischen Föderation, Tschetschenienkonflikt, Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion [Januar 2008], Seite 12), so dass selbst angesichts einer Bevölkerungsanzahl von (im Juli 2002 geschätzt) 144.978.573 Menschen (vgl. HTK-AuslR > Länderseite > Russische Föderation > Allgemeine Information) nicht mehr nur von einem schwerpunktmäßig singulären Sachverhalt ausgegangen werden kann. Auch wenn damit im Fall der Antragstellerin wohl ein strenger Prognosemaßstab gilt, so dürfte die Schwelle der extremen Gefahr gleichwohl bei Rückkehr sehr wahrscheinlich erreicht sein. In medizinischer Hinsicht ergibt sich aus den fachärztlichen Attesten des Universitätsklinikums Freiburg vom 27.3.2008, 17.12.2007 und 10.11. 2006, dass sich die Antragstellerin einerseits zwar "noch" im asymptomatischen Stadium A2 befindet, in dem noch keine Krankheitszeichen vorhanden sind. Gleichwohl ist dem aktuellsten ärztlichen Attest (GAS. 17/19) sehr deutlich zu entnehmen, dass es jederzeit zu einem kritischen Abfall der CD4-Zellzahl, zu einem Viruslastanstieg und zum Auftreten opportunistischer Infektionen kommen kann. Gerade deshalb ist auch die von den behandelnden Ärzten geforderte engmaschige Wiedervorstellung in Abständen von einem bis maximal drei Monaten besonders wichtig.

Es ist derzeit nichts dafür ersichtlich, dass die Antragstellerin bereits diese stabilisierenden medizinischen Rahmenbedingungen in der Russischen Föderation so bzw. gleichwertig vorfinden könnte. Insoweit hat sie glaubhaft vorgetragen, dass die für sie zuständige Klinik in Brjansk (150 km vom früheren Wohnort entfernt) nur den CD4-Zellstatus, nicht hingegen den Immunstatus (Zahl der Helferzellen) feststellen kann. Ganz wesentlich sprechen aber auch die sonstigen persönlichen Bedingungen der Antragstellerin dafür, dass sich alsbald nach Rückkehr ihr derzeitiger Gesundheitszustand rapide verschlechtern und eine Kausalkette in Gang gesetzt würde, die zwangsläufig zum Auftreten einer tödlichen, HIV-opportunistischen Folgeerkrankung führt (zur besonderen Gefährdung im Fall abgebrochener Prophylaxe und Therapie sowie aufgrund sozialer Diskriminierung vgl. Gölz, Basisinformationen zu HIV und AIDS in Abschiebeverfahren, Asylmagazin 2000, 13, 16). Wie die Antragstellerin bislang durchaus glaubhaft dargelegt hat, hat sie in Russland weder Arbeitsplatz noch Verwandte. In wirtschaftlicher Hinsicht gibt es ferner keine Anhaltspunkte, dass die Antragstellerin erforderliche Kontrollen bzw. künftig eine Antiretrovirale Therapie bezahlt erhalten würde. Insoweit ist speziell in ihrem Fall durch die Auskunft des Regionalarztes der Deutschen Botschaft Moskau vom 17.1.2008 belegt, dass die Kosten häufig von Patienten selbst zu tragen sind und dies sogar regelmäßig so ist, wenn - wie hier - keine Behandlungsmöglichkeiten am Wohnort bestehen. Dieses Bild, wonach trotz vorhandener Kontroll- und Behandlungsmöglichkeiten sowie Einrichtungen zur Kostentragung erhebliche Zweifel an deren Erreichbarkeit für - ohnedies der Stigmatisierung und Diskriminierung ausgesetzte - Menschen mit HIV und AIDS bestehen, wird auch durch andere dem erkennenden Gericht zugängliche Erkenntnisquellen gestützt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 17.3.2007; Schweizer Flüchtlingshilfe: Armenien und Russische Föderation, Behandlungsmöglichkeiten [Stand: 15.6.2007], Seite 7; vgl. ferner die Auflistung einschlägiger Dokumente in European Country of Origin Information Network = ecoi.net > Russische Föderation > Themenpapier > Gesundheit > HIV/AIDS: 31.01.2008 Human Rights Watch; 14.11.2006 UK Home Office; 8.3.2006 US Department of State; 12.2005 World Health Organization).

Hält man § 16 Abs. 2 AufenthG nicht für anwendbar (zum Streitstand s.o.), so kommt hier schließlich auch durchaus ein Anspruch aus § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG (i.V.m. §§ 27, 29 AufenthG) in Betracht.

Führt man sich die körperliche und vor allem auch seelische Verfassung der Antragstellerin vor Augen, die sich im summarischen Verfahren aus den Akten und dem sonstigen Vortrag entnehmen lässt, so liegt es überaus nahe, in ihrem Fall einer außergewöhnliche Härte anzunehmen, welche die Anwesenheit bei und Pflege durch ihre (hierzu bereite) Mutter zwingend erfordert. Mit Blick auf das betroffene Grundrecht dürfte schließlich die Erteilung des Aufenthaltstitels auch nicht an den (in atypischen Fällen nicht geltenden bzw. im Ermessenswege disponiblen) Bestimmungen in § 5 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG scheitern und auf der Rechtsfolgenseite des § 36 Abs. 2 AufenthG ernsthaft eine Ermessensreduktion auf Null in Betracht kommen. Mit Blick auf die Ausführungen zu § 25 Abs. 3 AufenthG bedarf es jedoch hier keiner näheren Darlegung.