EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 19.02.2009 - Soysal, C-228/06 - asyl.net: M14967
https://www.asyl.net/rsdb/M14967
Leitsatz:

Die Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG/Türkei vom 23.11.1970 verbietet es, ein Visum für die Einreise türkischer Staatsangehöriger zu verlangen, die im Mitgliedstaat für ein in der Türkei ansässiges Unternehmen Dienstleistungen erbringen wollen, wenn ein solches Visum bei Inkrafttreten des Zusatzprotokolls am 1.1.1973 nicht erforderlich war (hier: Einreise eines Fernfahrers nach Deutschland); dem steht die Visa-Verordnung nicht entgegen, da sie im Einklang mit dem Zusatzprotokoll auszulegen ist.

Schlagwörter: Türken, Assoziierungsabkommen, Stillhalteklausel, Visum, Visumspflicht, Fernfahrer, Dienstleistung, Dienstleistungsfreiheit, Schengen-Visum, Visa-Verordnung, Vorlageverfahren, EuGH, Zuständigkeit, letztinstanzliches Gericht
Normen: EG Art. 68 Abs. 1; EG Art. 234; Zusatzprotokoll zum Assoziierungsabkommen Art. 41 Abs. 1; AufenthG § 4 Abs. 1; AufenthG § 6 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

38 Die deutsche Regierung ist der Auffassung, dass das vorliegende Ersuchen um Vorabentscheidung "unzulässig" sei, weil die vorgelegten Fragen die Gültigkeit einer auf Titel IV des Dritten Teils des EG-Vertrags gestützten Verordnung des Rates beträfen und der Gerichtshof von einem Gericht angerufen werde, das kein Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden könnten, im Sinne von Art. 68 Abs. 1 EG sei.

39 Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden.

40 Wie sich nämlich bereits aus dem Wortlaut der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen ergibt, beziehen sich diese ausdrücklich und ausschließlich auf die Auslegung des Rechts der Assoziation EWG–Türkei und insbesondere auf Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls.

41 Daher ist der Gerichtshof wirksam nach Art. 234 EG angerufen worden (vgl. Urteil vom 20. September 1990, Sevince, C-192/89, Slg. 1990, I-3461, Randnrn. 8 bis 11 und die dort angeführte Rechtsprechung), so dass der Umstand, dass das vorlegende Gericht nicht zu den in Art. 68 Abs. 1 EG, der eine Ausnahme von Art. 234 EG darstellt, bezeichneten Gerichten gehört, unerheblich ist.

42 Der Gerichtshof ist demnach für die Entscheidung über die vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg vorgelegten Fragen zuständig.

Zu den Vorlagefragen

43 Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, fragt das vorlegende Gericht, ob Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dahin auszulegen ist, dass er es ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Protokolls verbietet, das Erfordernis eines Visums für die Einreise türkischer Staatsangehöriger wie der Kläger des Ausgangsverfahrens in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einzuführen, wenn diese dort für ein in der Türkei ansässiges Unternehmen Dienstleistungen erbringen wollen.

44 Vorab ist daran zu erinnern, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens türkische Fernfahrer sind, die in der Türkei wohnen, bei einer in diesem Staat ansässigen Gesellschaft für internationalen Güterkraftverkehr beschäftigt sind und regelmäßig Transporte zwischen diesem Land und Deutschland mit in Deutschland zugelassenen Lastkraftwagen durchführen. Hierzu hat das vorlegende Gericht festgestellt, dass sowohl diese Transporte als auch die Tätigkeiten der Fahrer bei deren Durchführung völlig rechtmäßig sind.

45 Um die genaue Tragweite von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens zu ermitteln, ist zunächst daran zu erinnern, dass diese Bestimmung nach ständiger Rechtsprechung unmittelbare Wirkung hat. Sie enthält nämlich eine klare, präzise und nicht an Bedingungen geknüpfte, eindeutige Stillhalteklausel, die eine Verpflichtung der Vertragsparteien begründet, die rechtlich eine reine Unterlassungspflicht ist (vgl. Urteile Savas, Randnrn. 46 bis 54 und 71 zweiter Gedankenstrich, Abatay u. a., Randnrn. 58, 59 und 117 erster Gedankenstrich, und vom 20. September 2007, Tum und Dari, C-16/05, Slg. 2007, I-7415, Randnr. 46). Folglich können sich türkische Staatsangehörige, auf die die Bestimmung anwendbar ist, vor den nationalen Gerichten auf die Rechte, die sie ihnen verleiht, berufen (vgl. u. a. Urteile Savas, Randnr. 54, und Tum und Dari, Randnr. 46). [...]

47 Schließlich ist nach ständiger Rechtsprechung zwar die in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls enthaltene Stillhalteklausel nicht aus sich heraus geeignet, türkischen Staatsangehörigen allein auf der Grundlage des Gemeinschaftsrechts ein Niederlassungsrecht und ein damit einhergehendes Aufenthaltsrecht zu verleihen, und kann ihnen auch weder ein Recht auf freien Dienstleistungsverkehr noch ein Recht zur Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verschaffen (vgl. Urteile Savas, Randnrn. 64 und 71 dritter Gedankenstrich, Abatay u.a., Randnr. 62, und Tum und Dari, Randnr. 52). Eine solche Klausel verbietet jedoch allgemein die Einführung neuer Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung dieser wirtschaftlichen Freiheiten durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls in dem betreffenden Mitgliedstaat galten (vgl. Urteile Savas, Randnrn. 69 und 71 vierter Gedankenstrich, Abatay u. a., Randnrn. 66 und 117 zweiter Gedankenstrich, sowie Tum und Dari, Randnrn. 49 und 53).

48 Der Gerichtshof hat daher entschieden, dass Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls es verbietet, in das nationale Recht eines Mitgliedstaats das – bei Inkrafttreten des Protokolls für diesen Staat nicht bestehende – Erfordernis einer Arbeitserlaubnis für die Erbringung von Dienstleistungen durch ein in der Türkei ansässiges Unternehmen und seine Beschäftigten, die türkische Staatsangehörige sind, in diesem Mitgliedstaat einzuführen (Urteil Abatay u. a., Randnr. 117 sechster Gedankenstrich).

49 Der Gerichtshof hat ferner festgestellt, dass diese Bestimmung von dem Zeitpunkt an, zu dem das Zusatzprotokoll in Kraft getreten ist, auch neuen Beschränkungen der Ausübung der Niederlassungsfreiheit entgegensteht, die die materiell- und/oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die Aufnahme türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet des fraglichen Mitgliedstaats betreffen, die sich dort zur Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit niederlassen wollen (Urteil Tum und Dari, Randnr. 69).

50 In diesen Rechtssachen ging es um die Frage, ob nationale Regelungen, mit denen für türkische Staatsangehörige für die Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats oder die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit strengere materiell- und/oder verfahrensrechtliche Voraussetzungen als diejenigen eingeführt wurden, die für sie in dem betreffenden Mitgliedstaat zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls galten, als neue Beschränkungen im Sinne von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls angesehen werden konnten.

51 Darum geht es auch im Ausgangsverfahren. Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich nämlich, dass türkische Staatsangehörige wie die Kläger des Ausgangsverfahrens, die Dienstleistungen im internationalen Güterkraftverkehr für ein türkisches Unternehmen erbringen, bei Inkrafttreten des Zusatzprotokolls für die Bundesrepublik Deutschland, also am 1. Januar 1973, berechtigt waren, zu diesem Zweck ohne Visum in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einzureisen.

52 Erst seit dem 1. Juli 1980 schreibt das deutsche Ausländerrecht für Drittstaatsangehörige einschließlich türkischer Staatsangehöriger, die solche Tätigkeiten in Deutschland ausüben wollten, ein Visum vor. Gegenwärtig ist für türkische Staatsangehörige wie die Kläger des Ausgangsverfahrens die Visumpflicht für die Einreise nach Deutschland im Aufenthaltsgesetz enthalten, das die Durchführungsverordnung zum Ausländergesetz mit Wirkung ab 1. Januar 2005 ersetzt hat.

53 Mit dem Aufenthaltsgesetz wird zwar nur ein Akt des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts, hier die Verordnung Nr. 539/2001, in dem betreffenden Mitgliedstaat umgesetzt, die, wie sich aus ihrem ersten Erwägungsgrund ergibt, eine flankierende Maßnahme ist, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem freien Personenverkehr in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts steht, und auf der Grundlage von Art. 62 Nr. 2 Buchst. b Ziff. i EG erlassen wurde.

54 Es trifft auch zu, wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung bemerkt hat, dass die Voraussetzungen für ein Schengen-Visum wie das nach § 4 Abs. 1 und § 6 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes gegenüber den Voraussetzungen, die in Deutschland zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls in diesem Mitgliedstaat für türkische Staatsangehörige in der Situation der Kläger des Ausgangsverfahrens galten, bestimmte Vorteile aufweisen. Während nämlich ein türkischer Staatsangehöriger nur ein auf das deutsche Hoheitsgebiet beschränktes Einreiserecht hatte, räumt ihm ein nach § 6 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes erteiltes Visum Freizügigkeit im Gebiet aller Staaten ein, die Parteien des am 14. Juni 1985 in Schengen (Luxemburg) von den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik unterzeichneten Übereinkommens betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 13) sind; dieses Übereinkommen wurde durch die Unterzeichnung eines Durchführungsübereinkommens am 19. Juni 1990 in Schengen (ABl. 2000, L 239, S. 19) konkretisiert, das Kooperationsmaßnahmen zur Sicherung des Schutzes des Gebiets aller Vertragsparteien als Ausgleich für den Wegfall der Binnengrenzen vorsieht.

55 Hinsichtlich türkischer Staatsangehöriger wie der Kläger des Ausgangsverfahrens, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats von der Dienstleistungsfreiheit nach dem Assoziierungsabkommen Gebrauch machen wollen, ist jedoch eine nationale Regelung, die diese Tätigkeit von der Erteilung eines Visums abhängig macht, das von Gemeinschaftsangehörigen nicht verlangt werden kann, geeignet, die tatsächliche Ausübung dieser Freiheit zu beeinträchtigen, und zwar insbesondere aufgrund des zusätzlichen und wiederholten Verwaltungs- und finanziellen Aufwands, den die Erlangung einer solchen Erlaubnis, deren Gültigkeit zeitlich befristet ist, mit sich bringt. Wird zudem der Visumantrag wie im Ausgangsverfahren abgelehnt, hindert eine solche Regelung die Ausübung dieser Freiheit.

56 Demnach hat eine solche Regelung, die am 1. Januar 1973 nicht bestand, zumindest zur Folge, die Ausübung der im Assoziierungsabkommen garantierten wirtschaftlichen Freiheiten durch türkische Staatsangehörige wie die Kläger des Ausgangsverfahrens strengeren Voraussetzungen als denjenigen zu unterwerfen, die in dem betreffenden Mitgliedstaat zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls galten.

57 Unter diesen Umständen stellt eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende eine "neue Beschränkung" im Sinne von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls für das Recht türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in der Türkei dar, in Deutschland frei Dienstleistungen zu erbringen.

58 Dieses Ergebnis wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die gegenwärtig in Deutschland geltende Regelung lediglich die Umsetzung einer Vorschrift des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts ist.

59 Insoweit genügt der Hinweis, dass es der Vorrang der von der Gemeinschaft geschlossenen völkerrechtlichen Übereinkommen vor den Rechtsakten des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts verlangt, Letztere nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit diesen Übereinkommen auszulegen (vgl. Urteil vom 10. September 1996, Kommission/Deutschland, C-61/94, Slg. 1996, I-3989, Randnr. 52).

60 Darüber hinaus kann auch dem vom vorlegenden Gericht angeführten Einwand nicht gefolgt werden, dass die Anwendung der in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls enthaltenen Stillhalteklausel dazu führen würde, die dem Gesetzgeber zustehende Regelungsbefugnis zu zementieren.

61 Der Erlass von Vorschriften, die in gleicher Weise auf türkische Staatsangehörige und auf Gemeinschaftsangehörige Anwendung finden, steht nämlich nicht im Widerspruch zu dieser Klausel. Wenn im Übrigen solche Vorschriften für Gemeinschaftsangehörige gälten, nicht aber für türkische Staatsangehörige, befänden sich diese in einer günstigeren Position als jene, was offenkundig gegen Art. 59 des Zusatzprotokolls verstieße, wonach der Republik Türkei keine günstigere Behandlung gewährt werden darf als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten untereinander aufgrund des Vertrags einräumen. [...]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls, das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnet und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde, ist dahin auszulegen, dass er es ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Protokolls verbietet, ein Visum für die Einreise türkischer Staatsangehöriger wie der Kläger des Ausgangsverfahrens in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlangen, die dort Dienstleistungen für ein in der Türkei ansässiges Unternehmen erbringen wollen, wenn ein solches Visum zu jenem Zeitpunkt nicht verlangt wurde. [...]