VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 09.04.2009 - 13 S 342/09 - asyl.net: M15647
https://www.asyl.net/rsdb/M15647
Leitsatz:

Dem Europäischen Gerichtshof werden gem. Art. 234 Abs. 1 lit. a) EG folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist der in Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG vom 29.04.2004 verwendete Begriff der "zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit" dahingehend auszulegen, dass nur unabweisbare Gefährdungen der äußeren oder inneren Sicherheit des Mitgliedstaats eine Ausweisung rechtfertigen können und hierzu nur zählen die Existenz des Staates mit seinen wesentlichen Einrichtungen, deren Funktionsfähigkeit, das Überleben der Bevölkerung sowie die auswärtigen Beziehungen und das friedliche Zusammenleben der Völker?

2. Unter welchen Voraussetzungen geht der nach einem zehnjährigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erreichte erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 28 Abs. 3 lit. a RL 2004/38/EG wieder verloren? Ist in diesem Zusammenhang der Verlusttatbestand für das Daueraufenthaltsrecht nach Art. 16 Abs. 4 RL 2004/38/EG entsprechend anzuwenden?

3. Für den Fall, dass die Frage Ziffer 2 und eine entsprechende Anwendbarkeit des Art. 16 Abs. 4 RL bejaht werden: Geht der erhöhte Ausweisungsschutz allein durch den Zeitlablauf verloren, unabhängig von den maßgeblichen Gründen für die Abwesenheit?

4. Ebenfalls für den Fall, dass die Frage Ziffer 2 und eine entsprechende Anwendbarkeit des Art. 16 Abs. 4 RL bejaht werden: Ist eine zwangsweise Rückkehr in den Aufnahmemitgliedstaat im Rahmen einer Strafverfolgungsmaßnahme vor Ablauf des Zweijahreszeitraums geeignet, den erhöhten Ausweisungsschutz zu erhalten, auch wenn im Anschluss an die Rückkehr zunächst für längere Zeit von den Grundfreiheiten kein Gebrauch gemacht werden kann?

 

Schlagwörter: D (A), Unionsbürger, Gemeinschaftsrecht, Vorlagebeschluss, Vorabentscheidungsverfahren, EuGH, zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit, Verlust, Auslandsaufenthalt
Normen: EG Art. 234 Abs. 1 Bst. a; RL 2004/83/EG Art. 28 Abs. 3; RL 2004/83/EG Art. 16 Abs. 4; FreizügG/EU § 6 Abs. 5
Auszüge:

Dem Europäischen Gerichtshof werden gem. Art. 234 Abs. 1 lit. a) EG folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist der in Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG vom 29.04.2004 verwendete Begriff der "zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit" dahingehend auszulegen, dass nur unabweisbare Gefährdungen der äußeren oder inneren Sicherheit des Mitgliedstaats eine Ausweisung rechtfertigen können und hierzu nur zählen die Existenz des Staates mit seinen wesentlichen Einrichtungen, deren Funktionsfähigkeit, das Überleben der Bevölkerung sowie die auswärtigen Beziehungen und das friedliche Zusammenleben der Völker?

2. Unter welchen Voraussetzungen geht der nach einem zehnjährigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erreichte erhöhte Ausweisungsschutz nach Art. 28 Abs. 3 lit. a RL 2004/38/EG wieder verloren? Ist in diesem Zusammenhang der Verlusttatbestand für das Daueraufenthaltsrecht nach Art. 16 Abs. 4 RL 2004/38/EG entsprechend anzuwenden?

3. Für den Fall, dass die Frage Ziffer 2 und eine entsprechende Anwendbarkeit des Art. 16 Abs. 4 RL bejaht werden: Geht der erhöhte Ausweisungsschutz allein durch den Zeitlablauf verloren, unabhängig von den maßgeblichen Gründen für die Abwesenheit?

4. Ebenfalls für den Fall, dass die Frage Ziffer 2 und eine entsprechende Anwendbarkeit des Art. 16 Abs. 4 RL bejaht werden: Ist eine zwangsweise Rückkehr in den Aufnahmemitgliedstaat im Rahmen einer Strafverfolgungsmaßnahme vor Ablauf des Zweijahreszeitraums geeignet, den erhöhten Ausweisungsschutz zu erhalten, auch wenn im Anschluss an die Rückkehr zunächst für längere Zeit von den Grundfreiheiten kein Gebrauch gemacht werden kann?

(Amtliche Leitsätze)

 

[...]

Der Senat setzt das Verfahren in entsprechender Anwendung von § 94 VwGO aus, um gem. Art. 234 Abs. 1 lit. a) EG ein Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof zu richten. [...]

1. Zur ersten Vorlagefrage: [...]

Der Beklagte versteht den Begriff der öffentlichen Sicherheit entgegen der im angegriffenen Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vertretenen Auffassung in einem weiteren Sinne. Nach seiner Sichtweise werden hiervon auch schwere kriminelle Taten, wie Betäubungsmitteldelikte erfasst, die sich aber vornehmlich gegen individuelle Rechtsgüter richten. Der Beklagte geht somit von einem Begriffsverständnis aus, dass die öffentliche Sicherheit die gesamte Rechtsordnung, insbesondere die Strafrechtsordnung umfasst.

Diese Auffassung teilt der Senat nicht. Vielmehr entnimmt er der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung des primärrechtlichen Begriffs der „öffentlichen Sicherheit“, dass hierunter nur die innere und äußere Sicherheit in dem in der Vorlagefrage Ziffer 1 beschriebenen engen Sinne zu verstehen ist (vgl. insbesondere U.v. 10.07.1984 - Rs. 72/83 - Campus Oil - Slg. 1984, 2727; U.v. 04.10.1991 - C-367/89 - Richardt und Les Accessoires Scientifique - Slg. I-4621; U.v. 26.10.1999 - C-273/97 - Sirdar - Slg. I-7403; U.v. 11.03.2003 - C-186/01 - Dory - Slg. I-2479). Dieses wird nach Auffassung des Senats auch in besonderem Maße deutlich zum Ausdruck gebracht im Urteil des Gerichtshofs v. 29.04.2004 (C-482/01 und C-4937/01 - Orfanopoulos und Olivieri - Slg. I-5257), in dem die schwere Kriminalität, namentlich auch aus dem Bereich der Drogendelikte ausschließlich und durchgängig unter dem Aspekt der "öffentlichen Ordnung" erörtert wird. Die Betroffenheit bzw. Gefährdung eines "Grundinteresses der Gesellschaft" im Sinne der ständigen Spruchpraxis der Europäischen Gerichtshofs (vgl. U.v. 29.04.2004 C-482/01 und C-4937/01 – a.a.O.) ist damit lediglich eine notwendige Bedingung für die Bejahung eines zwingenden Grundes der öffentlichen Sicherheit.

Es sind für den Senat keine durchgreifenden Einwände ersichtlich, weshalb dieses Begriffsverständnis nicht auf die sekundärrechtliche Bestimmung des Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG zu übertragen sein sollte. Dann aber kann die nationale Bestimmung des § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU, die zwingende Gründe dann als gegeben ansieht, wenn neben einer strafgerichtlichen Verurteilung "die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist" nicht abweichend ausgelegt und angewandt werden. Darüber hinaus wäre die Verurteilung zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens 5 Jahren, weder eine notwendige noch eine hinreichende gemeinschaftsrechtliche Bedingung für die Eröffnung eines Ausweisungsermessens.

Für ein enges Verständnis des Begriffs der "zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit" spricht zudem der dreistufige Schutzmechanismus des Art. 28 RL 2004/38/EG, der auf der ersten und zweiten Stufe noch die Gründe der öffentlichen Ordnung als für eine Ausweisung bzw. Verlustfeststellung relevant anerkennt, nicht mehr jedoch auf der - hier zu erörternden - dritten Stufe, während zugleich die bereits bei der Gruppe der Daueraufenthaltsberechtigten (Absatz 2) erforderlichen "schwerwiegenden Gründe" nochmals in ihrem Gewicht nach in den Fällen des Absatzes 3 erhöht werden, wenn hiernach zwingende, d.h. unabweisbare Gründe gefordert werden. Dass die Ausweisung auf der dritten Stufe nur äußerstenfalls und im Sinne einer "ultima ratio" erfolgen soll, wird auch unübersehbar im 23. und 24. Erwägungsgrund zum Ausdruck gebracht und nicht zuletzt auch durch den Umstand unterstrichen, dass der Kommissionsentwurf ursprünglich schon bei Daueraufenthaltsberechtigten (vgl. Art. 26 Abs. 2 des Entwurfs) einen absoluten Ausweisungsschutz vorsah (vgl. KOM/2001/0257 endg - ABl. C Nr. 270 E v. 25.09.2001. 150; wie hier auch etwa Harms, in: Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2. Aufl., § 6 FreizügG/EU, Rdn. 21 ff.).

2. Zur zweiten Vorlagefrage: [...]

Der vorliegende Fall gibt allerdings Anlass, die Frage aufzuwerfen, ob und unter welchen Voraussetzungen der erhöhte Ausweisungsschutz wieder entfallen kann. Die Richtlinie selbst enthält keine Regelung, die sich unmittelbar mit dieser Frage befasst. Der Senat vermag allerdings keinen nachvollziehbaren Grund zu erkennen, weshalb diese Rechtsstellung gewissermaßen auf Lebenszeit beibehalten werden soll, wenn der oder die Betroffene auf Dauer keinerlei inhaltlichen und räumlichen Bezug zu diesem Mitgliedstaat mehr hat und eine dauerhafte Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat oder auch in einem Drittstaat erfolgt. Der Senat entnimmt vielmehr dem Art. 16 Abs. 4 RL 2004/38/EG, der sich mit den Voraussetzungen eines Verlustes des Daueraufenthaltsrechts befasst, eine Wertung, die auch auf den Fall des erhöhten Ausweisungsschutzes nach Art. 28 Abs. 3 lit. a RL 2004/38/EG übertragen werden kann und eine entsprechende Anwendung rechtfertigt. Nicht möglich ist nach Auffassung des Senats hingegen ein Rückgriff auf Art. 16 Abs. 3 RL 2004/38/EG. Denn bei dieser Bestimmung handelt es sich um einen Regelungskomplex, der eine gänzlich andere Ausgangs- und Interessenlage betrifft, geht es hierbei doch um die Frage, welche Unterbrechungen des Aufenthalts, die vor dem Erwerb des erhöhten Ausweisungsschutzes liegen, schädlich bzw. unschädlich für den Erwerb dieser Rechtsstellung sind. Zudem hätte dies zur Folge, dass der höhere Ausweisungsschutz nach Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG u. U. leichter verloren gehen könnte als der weniger starke Schutz nach Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG.

3. Zur dritten Vorlagefrage:

Art. 16 Abs. 4 RL 2004/38/EG stellt nach seinem Wortlaut lediglich darauf ab, dass den oder die Betreffende für die Dauer von mehr als zwei aufeinander folgenden Jahren vom Aufnahmemitgliedstaat abwesend war, ohne nach den Gründen für diese Abwesenheit zu fragen. Insbesondere wird hiernach nicht darauf abgestellt, dass etwa bis zu zweijährige Abwesenheiten nur dann unschädlich sein sollen, wenn sie aus einem der Natur nach nur vorübergehenden Grund erfolgt sind, wie dies der Tendenz nach in Art. 16 Abs. 3 RL 2004/38/EG getan wird. Umgekehrt ist nach dem Wortlaut auch eine Abwesenheit von über zwei Jahren schädlich, selbst wenn sie auf einem der Natur nach nur vorübergehenden Grund beruhen sollte. Der Wortlaut der Bestimmung des Art. 16 Abs. 4 RL 2004/38/EG und der hiernach deutliche Gegensatz zu Art. 16 Abs. 3 RL 2004/38/EG lässt nach Auffassung des Senats auch keine entsprechende Einschränkung zu, weshalb es allein auf den bloßen Zeitablauf ankommt, nicht jedoch auf die für die Betroffenen maßgeblichen Gründe für die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat. [...]