AG Erding

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Zitieren als:
AG Erding, Urteil vom 29.04.2009 - 5 Cs 35 Js 28732/08 - asyl.net: M15722
https://www.asyl.net/rsdb/M15722
Leitsatz:

Türkische Staatsangehörige, die in Deutschland Dienstleistungen erbringen oder in Anspruch nehmen wollen, bedürfen für einen Besuchsaufenthalt von höchsten drei Monaten (bei Geschäftsreisenden zwei Monaten) kein Visum, da die Einführung der Visumspflicht der Standstillklausel des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG/Türkei widerspricht.

Schlagwörter: D (A), Strafrecht, unerlaubter Aufenthalt, Türkei, Assoziierungsabkommen EWG/Türkei, Stillhalteklausel, Standstillklausel, Visum, Visumspflicht, Dienstleistungsfreiheit, Türken, passive Dienstleistungsfreiheit, Schengenvisum, Visum, nationales Visum
Normen: AufenthG § 95 Abs. 1; AufenthG § 4 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Dem Angeklagten wird vorgeworfen, sich ohne erforderlichen Aufenthaltstitel nach § 4 Abs. 1 S. 1 AufenthG im Bundesgebiet aufgehalten zu haben, strafbar als unerlaubter Aufenthalt ohne Aufenthaltstitel gem. § 95 Abs. 1 AufenthG. Das Gericht hat ihn aus Rechtsgründen freigesprochen. [...]

Der Angeklagte befand sich im Zeitraum vom 12.08.2008 bis 24.08.2008 bei einer Bautagung. Er übernachtete während der Bautagung gegen ein Entgelt in einem Hotel, benutzte öffentliche Verkehrsmittel und war ebenfalls auch touristisch unterwegs. Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass der Angeklagte im Zeitraum seines Aufenthalts vom 12.08.2008 bis 24.08.2008 Empfänger von Dienstleistungen gewesen ist.

Nach Ansicht des Gerichts dürfen türkische Staatsangehörige, unter Berücksichtigung der Rechtslage vom 01.01.1973 ohne Visum nach Deutschland einreisen, wenn sie entsprechend § 1 Abs. 2 Nr. 1 DVAuslG von 1965 einen Aufenthalt von höchstens 3 Monaten planen und keine Erwerbstätigkeit aufnehmen wollen oder für höchstens 2 Monate als Geschäftsreisende nach Maßgabe des § 1 Abs. 2 Nr. 2 DVAuslG 1965 kommen.

Nach § 4 Abs. 1 AufenthG bedürfen Ausländer für die Einreise und einen Aufenthalt im Bundesgebiet einen Aufenthaltstitel, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder aufgrund des Abkommens vom 12.09.1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei ein Aufenthaltsrecht besteht.

Nach Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG/Türkei haben die Vertragsparteien vereinbart, keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einzuführen. Die Beurteilung der rechtlichen Situation von türkischen Geschäftsleuten, sofern sie - wie hier vorliegend - Dienstleistungsempfänger sind, richtet sich nach Art. 41 des Zusatzprotokolls nach der Rechtslage des Ausländergesetzes im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls, d.h. dem 01.01.1973, sofern diese günstiger ist.

Die erst im Jahre 1980 eingeführten zeitlichen Begrenzungen durch Visavorschriften engen türkische Staatsangehörige ein und stellen sie im Vergleich schlechter. Auch mit dem Urteil vom 19.02.2009 - "Soysal-Entscheidung“, RS C-228/06 - hat der EuGH entschieden, dass Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG/Türkei dahingehend auszulegen ist, dass er es ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Protokolls zum 01.01.1973 verbietet, ein Visum für die Einreise türkischer Staatsangehöriger in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates zu verlangen, die dort Dienstleistungen für ein in der Türkei ansässiges Unternehmen erbringen wollen, wenn ein solches Visum zu jenem Zeitpunkt nicht verlangt wurde.

Eine Trennung in aktive oder passive Dienstleistungsfreiheit sieht weder das Urteil des EuGH noch das Zusatzprotokoll vor.

Es erscheint lebensfremd, die Soysal-Entscheidung nicht auf türkische Geschäftsleute oder Touristen anzuwenden, die Dienstleistungen in Anspruch nehmen, mit der Begründung, das sei lediglich eine passive Dienstleistung, die von dem Zusatzprotokoll nicht erfasst werden sollte. Auch im Kommentar Westphal/Stoppa wird die Auffassung vertreten, dass türkische Staatsangehörige, die als Touristen einen Aufenthalt von höchstens drei Monaten planen und keine Erwerbstätigkeit aufnehmen wollen oder für höchstens 2 Monate als Geschäftsreisende in die Bundesrepublik kommen wollen, keines Visums bedürfen.

Auch die Argumentation, dass ein Schengenvisum gegenüber den Voraussetzungen, die in Deutschland zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls in diesem Mitgliedsstaat für türkische Staatsangehörige galt, nunmehr bestimmte Vorteile aufweise, kann nicht dazu führen, dass eine Visumspflicht türkischer Staatsangehöriger rechtens wäre. Während nämlich ein türkischer Staatsangehöriger nur ein auf das deutsche Hoheitsgebiet beschränktes Einreiserecht hat, räumt ihm ein nach § 6 Abs. 2 des AufenthG erteiltes Visum Freizügigkeit im Gebiet aller Staaten ein, die Parteien des Schengenraumes sind. Eine solche Visumspflicht stellt dennoch eine Beschränkung im Sinne von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls für das Rechts türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in der Türkei dar, in Deutschland freie Dienstleistungen zu erhalten oder zu erbringen.

Der Vorrang der von der Gemeinschaft geschlossenen völkerrechtlichen Übereinkommen vor den Rechtsakten des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts verlangt, letztere in Übereinstimmung mit diesen Übereinkommen auszulegen (vgl. EuGH, Urt. vom 10.09.1995, C-61/94, Urt. EuGH 1. Kammer vom 19.02.2009, C-228/06).

Wenn der Angeklagte jedoch nach Ansicht des Gerichts eines Visums nicht bedurfte, um die Bautagung in Deutschland zu besuchen, konnte er auch keine Straftat des unerlaubten Aufenthalts begehen und war daher freizusprechen. [...]