OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28.04.2009 - 2 B 24.07 - asyl.net: M15934
https://www.asyl.net/rsdb/M15934
Leitsatz:

Das Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU setzt voraus, dass sich der Unionsbürger für fünf Jahre auf Grundlage eines gemeinschaftsrechtlich begründeten Freizügigkeitsrecht in Deutschland aufhielt; das ist nicht der Fall, wenn sein Herkunftsstaat noch kein Mitgliedstaat der EU war (hier: Polen) oder wenn er als nicht erwerbstätiger Unionsbürger nicht über ausreichende Existenzmittel gem. § 4 FreizügG/EU verfügte; es ist nicht erforderlich, dass er sich unmittelbar vor Beantragung des Daueraufenthalts für fünf Jahre in Deutschland aufgehalten hat.

Schlagwörter: Unionsbürger, Daueraufenthaltsrecht, Bescheinigung, Verwaltungsakt, Verpflichtungsklage, Leistungsklage, Aufenthaltsdauer, Polen, Freizügigkeit, ausreichende Existenzmittel, nicht erwerbstätige Unionsbürger, Unionsbürgerrichtlinie
Normen: FreizügG/EU § 5 Abs. 6; FreizügG/EU § 4a Abs. 1; FreizügG/EU § 4; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 5; RL 2004/38/EG Art. 16 Abs. 1; RL 2004/38/EG Art. 7 Abs. 1
Auszüge:

[...]

1. Die Klage auf Erteilung einer Bescheinigung des Daueraufenthaftsrechts ist, anders als das Verwaltungsgericht angenommen hat, nicht als Verpflichtungsklage, sondern als allgemeine Leistungsklage zulässig. Die Erteilung einer Bescheinigung über den Daueraufenthalt gemäß § 5 Abs. 6 FreizügG/EU stellt keinen Verwaltungsakt dar (so auch Epe in GK-AufenthG, Stand: Februar 2009, § 5 FreizügG/EU Rz 12, 73; Hailbronner, AuslR, Stand: Februar 2009, D1, § 5 Rz 5; a.A. Renner, AuslR, 8. Aufl. 2005, § 5 FreizügG/EU Rz 13). Die Kläger haben die Bescheinigungen beantragt. Ihnen steht auch ein Rechtsschutzbedürfnis zur Seite, da der Besitz der Bescheinigungen ihnen den Nachweis eines Daueraufenthaltsrechts mindestens erleichtern würde.

2. Die Klage ist jedoch unbegründet. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Erteilung einer Bescheinigung über das Bestehen eines Daueraufenthaltsrechts. [...]

b) Nach § 5 Abs. 6 Satz 1 FreizügG/EU wird Unionsbürgern auf Antrag unverzüglich ihr Daueraufenthaltsrecht bescheinigt. Ein solches - das Recht auf Einreise und Aufenthalt umfassendes - Daueraufenthaltsrecht haben gemäß § 4a Abs. 1 FreizügG/EU Unionsbürger, ihre Familienangehörigen und Lebenspartner, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, und zwar unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU. [...]

bb) Die Kläger erfüllen nicht die Anforderungen für das Bestehen eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4 a Abs. 1 FreizügG/EU. Zwar halten die Kläger sich seit mehr als fünf Jahren ständig im Bundesgebiet auf. Dieser Aufenthalt stellt sich indes nicht als rechtmäßig im Sinne der Vorschrift dar.

Rechtmäßig im Sinne des § 4 a Abs. 1 FreizügG/EU ist allein ein Aufenthalt, der auf einem gemeinschaftsrechtlich begründeten Freizügigkeitsrecht beruht. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift, wonach das Daueraufenthaltsrecht unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 besteht, der die Gruppen freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger aufzählt. Die Regelung des § 4 a Abs. 1 FreizügG/EU bringt mithin zum Ausdruck, dass ein Unionsbürger über den Zeitraum von fünf Jahren ständig freizügigkeitsberechtigt gewesen sein muss, um ein Daueraufenthaltsrecht zu erwerben, und dass dieses erst nach seiner Entstehung nicht mehr vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU abhängig ist. Dabei ist für den Fünf-Jahres-Zeitraum nicht allein der Aufenthalt unmittelbar vor Beantragung der Bescheinigung über das Daueraufenthaltsrecht in den Blick zu nehmen (a.A. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13. März 2006 - 13 S 220/06 -, juris Rz 8, 13, zu § 2 Abs. 5 FreizügG/EU a.F.), vielmehr genügt es, dass sich ein Unionsbürger irgendwann über fünf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Nach Ablauf der fünf Jahre entsteht das Daueraufenthaltsrecht kraft Gesetzes und erlischt lediglich in den gesetzlich geregelten Fällen (vgl. §§ 4a Abs. 7, 6 Abs. 2, 4 FreizügG/EU). Die Bescheinigung nach § 5 Abs. 6 FreizügG/EU kann daher auch zu einem Zeitpunkt beantragt und ausgestellt werden, in dem gegebenenfalls die Voraussetzungen für eine Freizügigkeit nicht (mehr) vorliegen. Berücksichtigungsfähig können indes allein solche Zeiten sein, in denen der Herkunftsstaat des Unionsbürgers Mitglied der Europäischen Union war. Stellt sich als rechtmäßig im Sinne des § 4 a Abs. 1 FreizügG/EU nur ein solcher Aufenthalt dar, der auf einem gemeinschaftsrechtlich begründeten Freizügigkeitsrecht beruht, so kann diese Bedingung nur in einem Zeitraum erfüllt werden, in dem der Betroffene Unionsbürger ist. Die Republik Polen ist zum 1. Mai 2004 der Europäischen Union beigetreten.

Jedenfalls ab diesem Zeitpunkt waren die Kläger nicht freizügigkeitsberechtigt im Sinne von § 2 Abs. 2 FreizügG/EU, da sie als nicht erwerbstätige Unionsbürger nicht über ausreichende Existenzmittel verfügten (§ 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU). Sie bezogen in der gesamten Zeit staatliche Sozialleistungen.

Zeiten des Sozialleistungsbezugs sind jedoch - anders als bei Arbeitnehmern und selbständig Erwerbstätigen (vgl. § 2 Abs. 3 FreizügG/EU) - in den Fällen des § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU gemeinschaftsrechtlich nicht als Zeiten rechtmäßigen Aufenthalts im Sinne von § 4a FreizügG/EU zu berücksichtigen (a.A. Epe, a.a.O., § 4 a FreizügG/EU Rz 11 a.E.).

c) Die - wie dargelegt - in § 4 a Abs. 1 FreizügG/EU enthaltene Voraussetzung des fünfjährigen Bestehens eines gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsrechts für das Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts ist mit den Maßgaben der Freizügigkeitsrichtlinie, insbesondere mit Art. 16 Abs. 1 FreizügRL, vereinbar und setzt diese Maßgaben - nach Auffassung des Senats - auch insoweit vollständig um, als sie für diesen Zeitraum das Bestehen eines Freizügigkeitsrechts fordert. Vermag ein Unionsbürger nicht für fünf Jahre die Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts gemäß § 2 FreizügG/EU (respektive Art. 7 FreizügRL) zu erfüllen, erwirbt er kein Daueraufenthaltsrecht (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14. März 2006 - 13 S 220106 -, juris Rz 13; Urteil vom 29. November 2006 - 13 S 2435/05 -, InfAuslR 2007, 91, 92; Harms in: Storr/Wenger/Eberle, Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2. Auf). 2008, § 4 a FreizügG/EU Rz 6; Kloesel/ Christ/Häußer, Deutsches Aufenthalts- und Ausländerrecht, Stand: April 2008, § 2 FreizügG/EU Rz 85; a.A.: VG Berlin, Gerichtsbescheid vom 14. Februar 2007 - 27 A 11.07 -, Urteil vom 3. Mai 2007 - 11 A 109.07 -; VG Sigmaringen, Urteil vom 26. Juli 2007 - 8 K 1339/06 -, juris Rz 37, Huber/Göbel-Zimmermann, AuslR, 2. Aufl. 2008, Rz 1444).

Nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 FreizügRL hat jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Das Daueraufenthaltsrecht ist nach Satz 2 nicht an die Voraussetzungen des Kapitels 111 geknüpft, welches die Vorschriften über das Aufenthaltsrecht und insbesondere in Art. 7 die Anforderungen an das Freizügigkeitsrecht für einen Aufenthalt von über drei Monaten enthält.

Für Nichterwerbstätige wie die Kläger fordert Art. 7 Abs. 1 Buchstabe b FreizügRL als Voraussetzung für das Entstehen eines Freizügigkeitsrechts unter anderem, dass sie über ausreichende Existenzmittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen. Der Wortlaut gibt damit nichts für die Annahme her, dass bereits für die Entstehung des Daueraufenthaltsrechts diese Voraussetzungen keine Rolle spielen. Vielmehr erscheint es danach möglich, dass das einmal entstandene Daueraufenthaltsrecht nicht mehr vom fortdauernden (§ 4 a Abs. 1 FreizügG/EU: "weiteren") Vorliegen dieser Voraussetzungen abhängig ist.

Was die Systematik der Richtlinie angeht, so spricht diese dafür, dass das Daueraufenthaltsrecht eine fünfjährige gemeinschaftsrechtliche Freizügigkeitsberechtigung voraussetzt. Das insoweit für die Gegenauffassung vorgebrachte Argument, dass Art. 14 Abs. 3 FreizügRL einen Automatismus der Ausweisung bei Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen verbiete, verfängt nicht. Denn Gegenstand dieser Regelung ist die Aufenthaltsbeendigung und nicht das Daueraufenthaltsrecht oder die Freizügigkeitsberechtigung. Bei näherer Betrachtung des Regelungssystems der Richtlinie spricht vielmehr alles für das Erfordernis eines gemeinschaftsrechtlich rechtmäßigen Aufenthalts. Die Freizügigkeitsrichtlinie hat ein (neues) dreistufiges System der rechtlichen Einordnung von Aufenthalten von Unionsbürgern in anderen Mitgliedsstaaten entwickelt. Die erste Stufe bildet das in Art. 6 Abs. 1 FreizügRL geregelte Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten. Der Unionsbürger benötigt hierfür allein ein gültiges Personaldokument. Die zweite Stufe stellt das Aufenthaltsrecht für mehr als drei Monate nach Art. 7 FreizügRL dar, welches für Arbeitnehmer und Selbständige unbedingt gilt und für in Ausbildung Stehende und Erwerbslose an bestimmte Voraussetzungen geknüpft wird, nämlich für Erwerbslose u.a. an die Sicherstellung ausreichender Existenzmittel. Es entfällt gemäß Art. 14 Abs. 2 Unterabsatz 1 FreizügRL, wenn diese Voraussetzung nicht mehr vorliegt. Die dritte Stufe, auf der dem Unionsbürger die am stärksten gesicherte rechtliche Position vermittelt wird, stellt das Daueraufenthaltsrecht dar. Für den Daueraufenthaltsberechtigten gelten nicht (mehr) die Anforderungen des Art. 7 FreizügRL. Das Recht geht lediglich nach einer mehr als zweijährigen Abwesenheit (Art. 16 Abs. 4 FreizügRL) oder nach Ausweisung (Art. 27, 28 Abs. 2, 3 FreizügRL) verloren. Es erscheint kaum systemgerecht, wenn das so gesicherte Aufenthaltsrecht von einem Unionsbürger erlangt werden könnte, ohne dass zuvor die Anforderungen der zweiten Stufe erfüllt wurden, und zwar, wie Art. 16 Abs. 1 FreizügRL zum Ausdruck bringt, fünf Jahre lang ununterbrochen. Ohnehin erschiene es systemwidrig, wenn das stärkste gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers durch die Erfüllung von aufenthaltsrechtlichen Tatbeständen des jeweiligen nationalen Rechts des Mitgliedsstaats vermittelt werden könnte. Die Freizügigkeitsrichtlinie ist ein in sich geschlossenes System (vgl. Harms in: Storr/ Wenger/Eberle, a.a.O., Rz 6 a.E.), so dass es klar zum Ausdruck kommen müsste, wenn sie die Normierung der Anforderungen für ihren systematischen Kern, das Daueraufenthaftsrecht, an den nationalen Gesetzgeber delegierte. Da Art. 16 Abs. 1 FreizügRL kein sonstiges Aufenthaltsrecht als maßgeblich nennt, kann sich das Rechtmäßigkeitserfordernis nur auf das aus der Unionsbürgerschaft (Art. 18 Abs. 1 EGV) folgende Freizügigkeitsrecht beziehen (so auch Kloesel/Christ/Häußer, a.a.O., Rz 85 a.E.).

Darüber hinaus stützt eine Berücksichtigung der Erwägungsgründe der Richtlinie diese dem Regelungssystem entnommene Auslegung. Nach Erwägungsgrund 17 soll für alle Unionsbürger, die sich "gemäß den in dieser Richtlinie festgelegten Bedingungen" fünf Jahr lang ununterbrochen in dem Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben und gegen die keine Ausweisungsmaßnahme angeordnet wurde, ein Recht auf Daueraufenthalt vorgesehen werden. Das auf diese Weise "einmal erlangte Recht auf Daueraufenthalt" soll nach Erwägungsgrund 18 keinen Bedingungen unterworfen werden. Damit bringen beide Erwägungsgründe klar zum Ausdruck, dass allein ein fünfjähriger Aufenthalt auf der Grundlage des Freizügigkeitsrechts das Daueraufenthaltsrecht entstehen lässt und erst nach der Entstehung die zuvor geltenden Bedingungen außer Betracht bleiben sollen.

Auch mit Blick auf den Sinn und Zweck des Daueraufenthaltsrechts ist keine andere Betrachtungsweise geboten. Zweck des Daueraufenthaltsrechts ist - wie dargestellt - die Stärkung des Gefühls der Unionsbürgerschaft. Es soll zum sozialen Zusammenhalt beitragen. Diese allgemein gehaltenen Ziele erfordern es nicht, jedem sich legal fünf Jahre im Aufnahmestaat aufhaltenden Unionsbürger das Daueraufenthaftsrecht zu gewähren. Vielmehr enthalten bereits die Erwägungsgründe, die die genannten Ziele formulieren, auch den Hinweis auf das Erfordernis der in der Richtlinie festgelegten Bedingungen, also mittelbar auch auf die wirtschaftlichen Voraussetzungen bei nicht erwerbstätigen Unionsbürgern gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchstabe b FreizügRL.

Nach alldem stellt Art. 16 Abs. 1 FreizügRL keine geringeren Anforderungen an das Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts als § 4 a Abs. 1 FreizügG/EU. Beide Vorschriften fordern einen fünfjährigen Aufenthalt auf der Grundlage des gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsrechts und damit für Erwerbslose die durchgehende Sicherstellung ausreichender Existenzmittel. [...]