VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 22.06.2009 - 11 K 2502/08 - asyl.net: M15944
https://www.asyl.net/rsdb/M15944
Leitsatz:

1. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG sind nur dann ausschließlich vom Bundesamt für Migration und Flüchtling zu prüfen, wenn ein Asylverfahren anhängig ist bzw. war. Liegt dieser Fall nicht vor, so hat die Ausländerbehörde eine eigene Entscheidungszuständigkeit für solche zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote, die sich nicht aus einem Sachverhalt ergeben, der von seiner Thematik her dem Bereich politischer Verfolgung im Verständnis des § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuordnen ist.

2. Die Mitteilung des traumaauslösenden Umstandes ist noch kein materielles Asylgesuch i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG, § 13 Abs. 1 AsylVfG.

3. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt auch dann vor, wenn eine erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustands noch vor Erreichen von potentiellen Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat eintritt.

 

Schlagwörter: Kosovo, Untätigkeitsklage, Aufenthaltserlaubnis, subsidiärer Schutz, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Ausländerbehörde, Bundesamt, Zuständigkeit, sachliche Zuständigkeit, Prüfungskompetenz, Asylgesuch, Asylantrag, Krankheit, psychische Erkrankung, medizinische Versorgung, Kinder, Unabhängigkeitserklärung, Retraumatisierung
Normen: VwGO § 75; AufenthG § 25 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 7; AufenthG § 72 Abs. 2; AsylVfG § 13 Abs. 1; AAZuVO § 7 Nr. 1
Auszüge:

1. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG sind nur dann ausschließlich vom Bundesamt für Migration und Flüchtling zu prüfen, wenn ein Asylverfahren anhängig ist bzw. war. Liegt dieser Fall nicht vor, so hat die Ausländerbehörde eine eigene Entscheidungszuständigkeit für solche zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote, die sich nicht aus einem Sachverhalt ergeben, der von seiner Thematik her dem Bereich politischer Verfolgung im Verständnis des § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuordnen ist.

2. Die Mitteilung des traumaauslösenden Umstandes ist noch kein materielles Asylgesuch i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG, § 13 Abs. 1 AsylVfG.

3. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt auch dann vor, wenn eine erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustands noch vor Erreichen von potentiellen Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat eintritt.

(Amtliche Leitsätze)

 

[...]

Die Klagen sind als Untätigkeitsklagen gemäß § 75 VwGO zulässig. [...]

Die Klagen sind auch begründet. [...]

Die Klägerin zu 4 kann sich - entgegen der Annahme der Beklagten und des Beigeladenen - darauf berufen, dass sie die Voraussetzungen des § 25 Abs. 3 AufenthG erfüllt.

Die Beklagte ist für die Entscheidung nach § 25 Abs. 3 AufenthG sachlich zuständig. Zwar macht die Klägerin zu 4 vorliegend ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geltend. Derartige Abschiebungsverbote sind aber nur dann ausschließlich vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu prüfen, wenn ein Asylverfahren anhängig ist bzw. war (vgl. BVerwG, Urt. v. 07.09.1999 - 1 C 6/99 - NVwZ 2000, 204 und Beschl. v. 03.12.1997 - 1 B 219/97 - NVwZ-RR 1998, 264). Ist bereits ein Asylverfahren durchgeführt worden, in dem das Bundesamt eine positive oder negative Entscheidung zu § 60 Abs. 2-7 AufenthG getroffen hat, ist die Ausländerbehörde an diese Entscheidung nach § 42 Satz 1 AsylVfG gebunden und somit zu einer eigenen Prüfung und Beurteilung nicht mehr befugt. Der Ausländer ist in derartigen Fällen, wenn er eine abweichende Entscheidung zu § 60 Abs. 2-7 AufenthG erstrebt, darauf verwiesen, einen Wiederaufgreifensantrag beim Bundesamt zu stellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 07.09.1999 - 1 C 6/99 - a.a.O. und Urt. v. 21.03.2000 - 9 C 41/99 - BVerwGE 111, 77). Die Klägerin zu 4 hat bislang jedoch ein Asylverfahren nicht durchgeführt, so dass auch keine die Ausländerbehörde bindende Entscheidung des Bundesamtes über Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2-7 AufenthG ergangen ist. Das von der Klägerin zu 4 im Rahmen des vorliegenden Aufenthaltserlaubnisverfahrens geltend gemachte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist somit von der beklagten Ausländerbehörde zu prüfen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 16.05.2002 - 13 S 994/02). Dass der Ausländerbehörde eine entsprechende Entscheidungskompetenz zukommt, erschließt sich im Übrigen ohne Weiteres aus der Regelung des § 72 Abs. 2 AufenthG. Diese Bestimmung verpflichtet allgemein die Ausländerbehörde, vor ihrer Entscheidung über das Vorliegen zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote das Bundesamt zu beteiligen, um dessen besondere Sachkunde hinsichtlich der Verhältnisse im Herkunftsland des Ausländers nutzbar zu machen, setzt also grundsätzlich die Möglichkeit einer Entscheidungszuständigkeit der Ausländerbehörde in diesem Bereich voraus. Für diese eigene Entscheidungszuständigkeit der Ausländerbehörde kommen allerdings nur zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote in Betracht, die sich nicht aus einem Sachverhalt ergeben, der von seiner Thematik her dem Bereich politischer Verfolgung im Verständnis des § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuordnen ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 03.03.2006 - 1 B 126.05 - NVwZ 2006, 830). Dabei ist unerheblich, ob sich Sachfragen des § 60 Abs. 1 AufenthG im Rahmen eines Duldungsbegehrens oder im Zusammenhang mit einem Begehren auf Aufenthaltserlaubnis stellen (vgl. VGH Bad.-

Württ., Urt. v 28.05.2008 - 13 S 136/08 - VBlBW 2008, 389). Asylrechtlicher Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG ist ausschließlich dem Bundesamt zugewiesen; insoweit hat der Ausländer kein Wahlrecht (vgl. BVerwG, Beschl. v. 03.03.2006 - 1 B 126.05 - a.a.O.).

Das Begehren der Klägerin zu 4 kann der Sache nach nicht als asylrechtliches Schutzersuchen im Sinne von § 13 Abs. 1 AsylVfG gedeutet werden, da sie das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausschließlich damit begründet, dass eine adäquate Behandlung ihrer Erkrankung im Kosovo nicht möglich sei. [...] Soweit in der Stellungnahme des Gesundheitsamtes Stuttgart vom 20.10.2006 im Rahmen der Anamnese ausgeführt wird, die Klägerin zu 4 habe im Jahre 2001 im Kosovo mit ansehen müssen, wie ihre Tante im Nachbarhaus durch einen Bombeneinschlag getötet worden sei, kann in der Mitteilung dieses traumaauslösenden Umstandes allein noch kein materielles Asylgesuch im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG, § 13 Abs. 1 AsylVfG erblickt werden. Die Klägerin zu 4 kann deshalb nicht als Asylsuchende angesehen werden, so dass es bei der sachlichen Zuständigkeit der Ausländerbehörde verbleibt, im Rahmen des Begehrens auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auch über das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu entscheiden. Die Rechtsauffassung des OVG Lüneburg (Beschl. v. 14.06.2006 - 9 ME 187/06 - juris -), wonach die Entscheidung über alle zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote ausschließlich dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge obliege, widerspricht der oben dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und ist auch mit § 72 Abs. 2 AufenthG nicht vereinbar.

Der sachlichen Zuständigkeit der Beklagten für eine Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG steht auch nicht § 7 Nr. 1 AAZuVO vom 11.01.2005 (GBl. S. 93) entgegen. Diese Bestimmung, die nach § 15 Abs. 1 Nr. 2 AAZuVO in der Fassung vom 02.12.2008 (GBl. S. 465) vorliegend weiter Anwendung findet, sieht vor, dass bei Ausländern, die keinen Asylantrag gestellt haben, die Regierungspräsidien für die Entscheidung zuständig sind, ob Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen. Hieraus ergibt sich jedoch keine unmittelbare Zuständigkeit der Regierungspräsidien für Entscheidungen nach § 25 Abs. 3 AufenthG, die die Inzidentprüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG einschließt.

Nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG soll einem Ausländer unter anderem dann eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegt.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. [...]

Da die Klägerin zu 4 aus dem Kosovo stammt, ist zu prüfen, ob dort die beschriebene konkrete Gefahr besteht. Dies galt schon bislang, da auf der Grundlage des deutsch-jugoslawischen Rückübernahmeübereinkommens vom 16.09.2002 keine Minderheitenangehörige aus dem Kosovo in das restliche Gebiet der Bundesrepublik Jugoslawien zurückgeführt werden durften. Seit der Unabhängigkeitserklärung der Republik Kosovo vom 17.02.2008 und der Anerkennung der Republik Kosovo durch die Bundesrepublik Deutschland am 20.02.2008 gilt dies erst recht, auch wenn aus völkerrechtlichen Gesichtspunkten nichts dafür spricht, dass die seit dem Jahr 2001 im Ausland sich befindlichen Kläger die kosovarische Staatsangehörigkeit erlangt haben (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 24.09.2008 - 13 S 1812/07 - NVwZ-RR 2009, 354 -; VG Stuttgart, Urt. v. 26.11.2007 - 11 K 3108/06 - juris -).

Auch die drohende Verschlimmerung einer Krankheit wegen ihrer nur unzureichenden medizinischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen (vgl. BVerwG, Urt. vom 25.11.1997 - 9 C 58/96 - BVerwGE 105, 383 = NVwZ 1998, 524; Urt. vom 27.04.1998 - 9 C 13/97 - NVwZ 1998, 973; Urt. vom 21.09.1999 - 9 C 8/99 - NVwZ 2000, 206 und Urt. v. 07.12.2004 - 1 C 14/04 - BVerwGE 122, 271). [...]

Die Klägerin zu 4 leidet nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme an einer Störung der emotionalen Entwicklung mit ausgeprägter Trennungsangst auf dem Hintergrund einer traumatisch geprägten Entwicklung (ICD-10: F 93.0), an einer depressiven Störung (ICD-10: F 33.9), an einer generalisierten Angststörung (ICD-10: F 41.1) und an somatoformen Schmerzstörungen in Form von Kopfschmerzen (ICD-10: F 45.4). [...]

Nach dem eingeholten Sachverständigengutachten benötigt die Klägerin zu 4 eine konsequente, langfristige Kinder- bzw. Jugendlichenpsychotherapie. Es kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass diese Behandlung im Kosovo erhältlich ist.

Im Kosovo sind die Kapazitäten des Sektors für psychische Erkrankungen in keiner Weise ausreichend, um die Behandlungsbedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen. Es gibt im Bereich der psychiatrischen Versorgung ein eklatantes Defizit an Psychiatern. Klinische Psychologen gibt es kaum. Die Versorgung bei psychischen Erkrankungen besteht aus einer biologisch orientierten medikamentösen Behandlung mit fehlenden oder sehr limitierten sozio- oder psychotherapeutischen Maßnahmen. "Behandlungsgespräche" beschränken sich in der Regel auf die Erläuterung der Medikamenteneinnahme. Nach Angaben der WHO erhalten 90 bis 95 % der Personen, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, keine angemessene Behandlung. Die Diskrepanz zwischen notwendiger und vorhandener Versorgungskapazität ist erheblich und derzeit nicht überbrückbar (vgl. zum Ganzen UN Kosovo Team: Defizite in der Gesundheitsversorgung, Bericht vom Januar 2007, Asylmagazin 4/2007, 31; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Kosovo - Update zur medizinischen Versorgungslage - Juni 2007, S. 9). In einem am 30.10.2006 verfassten Memorandum des kosovarischen Gesundheitsministers Sadik Idriz hielt dieser fest, dass Psychotraumata weiterhin ein erhebliches Gesundheitsproblem im Kosovo darstellten, dass die vorhandenen Ressourcen nicht ausreichten, um das Problem anzugehen und dass es auch nicht kurzfristig möglich sei, das gewünschte Niveau zu erreichen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe aaO.). Das ist aufgrund der Vielzahl der durch den vorangegangenen Bürgerkrieg psychisch erkrankten Personen und der begrenzten Zahl von entsprechend ausgebildeten Ärzten und Einrichtungen im Kosovo plausibel (vgl. Gierlichs, Zur psychiatrischen Versorgung im Kosovo, ZAR 2006, 277). Auch das Auswärtige Amt stellt in seinem Lagebericht vom 02.02.2009 fest, dass Traumapatienten weiterhin primär medikamentös behandelt werden. Zwar bieten einzelne, privat praktizierende Fachärzte für Psychiatrie nichtmedikamentöse Behandlungsformen wie z.B. Psychotherapie an. Die Kosten einer solchen Behandlung muss der Patient jedoch selbst tragen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 02.02.2009). Angesichts der prekären Einkommenssituation im Kosovo und des Umstandes, dass Angehörige der Minderheitengruppen, zu denen die Kläger zählen, vom Arbeitsmarkt weitgehend ausgeschlossen sind (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Kosovo - Update zur medizinischen Versorgungslage - Juni 2007, S. 3), kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin zu 4 die erforderliche psychologische Behandlung im Kosovo erreichen kann (vgl. auch VG Stuttgart, Urt. v. 03.11.2008 - A 11 K 6178/07 - juris). Bei der gebotenen Gesamtschau steht somit zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die psychische Erkrankung der Klägerin zu 4 im Kosovo nicht behandelt würde und eine Rückkehr der Klägerin zu 4 in den Kosovo mit einer deutlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes verbunden wäre.

Selbst wenn aber die Erkrankung der Klägerin zu 4 im Kosovo behandelbar wäre und die Klägerin zu 4 eine solche Behandlung unter finanziellen Gesichtspunkten erreichen könnte, hätte eine Rückführung der Klägerin zu 4 in den Kosovo eine deutliche Verschlimmerung ihres Gesundheitszustandes zur Folge. Nach dem vom Gericht eingeholten Sachverständigengutachten wäre schon eine gravierende Schädigung (erhebliche Verstärkung der Angstsymptomatik, Somatisierung der emotionalen Störung in Form von Schmerzen) der Klägerin zu 4 eingetreten, noch bevor eine adäquate Kinder- und Jugendpsychotherapeutische Behandlung begonnen würde. Damit ist vorliegend eine Fallkonstellation gegeben, in der die erhebliche und konkrete Gesundheitsgefährdung im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bereits vor Erreichen der potentiellen Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat eintritt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.09.2007 - 2 BvR 1613/07 - NVwZ 2008, 418). [...]

Die Kläger zu 1-3 und der Kläger zu 5 erfüllen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG. [...]