VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 26.06.2009 - 8 A 146/07 - asyl.net: M15986
https://www.asyl.net/rsdb/M15986
Leitsatz:

Die Ableistung des Wehrdienst im Heimatland ist unzumutbar i.S.d. § 5 Abs. 1 und 2 Nr. 3 AufenthV, wenn der Ausländer einen Freikauf nicht finanzieren kann und durch seine Abwesenheit die familiäre Lebensgemeinschaft zu seinen Kleinkindern unterbrochen würde (hier: Türkei); Anspruch auf Reiseausweis für Ausländer.

Schlagwörter: Reiseausweis für Ausländer, Passbeschaffung, Zumutbarkeit, Wehrdienst, Türkei, Türken, Freikauf, Finanzierbarkeit, Schutz von Ehe und Familie, Eltern-Kind-Verhältnis
Normen: AufenthV § 4 Abs. 1 Nr. 1; AufenthV § 5 Abs. 1; AufenthV § 5 Abs. 2 Nr. 3; GG Art. 6
Auszüge:

[...]

Klage ist zulässig und begründet.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Ausstellung des beantragten Reiseausweises.

Rechtsgrundlage hierfür ist § 4 Abs. 1 Nr. 1 iVm § 5 Abs. 1 AufenthV. Danach kann einem Ausländer, der nachweislich keinen Pass oder Passersatz besitzt und ihn nicht auf zumutbare Weise erlangen kann, ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt werden. Als zumutbar gilt es insbesondere, die Wehrpflicht zu erfüllen, sofern deren Erfüllung nicht aus zwingenden Gründen unzumutbar ist (§ 5 Abs. 2 Nr. 3). Dieser Ausnahmetatbestand ist hier gegeben. Dem Kläger ist die Erfüllung der Wehrpflicht aus zwingenden Gründen unzumutbar.

Grundsätzlich ist es türkischen Staatsangehörigen zumutbar, in der Türkei den Militärdienst abzuleisten, um damit die Voraussetzung für eine Verlängerung des Passes zu schaffen. Es ist ebenfalls grundsätzlich zumutbar, den Betrag aufzuwenden, mit dem der Freikauf vom Militärdienst möglich ist (7.668,-- bzw. 10.224,-- Euro). Es ist völkerrechtlich anerkannt, dass jeder Staat das Recht hat, für seine Staatsangehörigen einen Militärdienst einzuführen und diese Pflicht auch durchzusetzen. Eine Ausnahme vor dieser generellen Pflicht, den Militärdienst zu leisten und damit die Voraussetzungen für die Verlängerung des Reisepasses zu schaffen, ist dann gegeben, wenn im Einzelfall die Ableistung Militärdienstes zu einer unzumutbaren Belastung führt. Ein solcher Fall ist hier gegeben.

Aufgrund der glaubhaften Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung ist davon auszugehen, dass es ihm nicht möglich ist, den Betrag von 7.668,-- Euro, der in einem Betrag zu zahlen ist, aufzubringen. [...]

Somit ist für die Beurteilung die Unzumutbarkeit der Erfüllung der Wehrpflicht auf eine 15-monatige Abwesenheit abzustellen. Dass gelegentliche Besuche der Kinder ... und ... in der Türkei in einem Ausmaß möglich sind, dass ihren Belangen und dem berechtigten Interesse, den Kontakt zum Vater aufrecht zu erhalten, hinreichend Rechnung getragen wird, ist nur theoretisch denkbar.

Zwischen dem Kläger und seinen Söhnen ... und ... besteht eine tatsächliche Verbundenheit, die den Schutz von Art. 6 Abs. 1 iVm Art. 2 GG, Art. 8 EMRK auslöst. Diese wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsrechtliche Maßnahmen die familiären Bindungen des den weiteren Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über Maßnahmen, die den Aufenthaltsstatus berühren, die familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen. Maßgeblich ist insofern die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, wobei grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten ist. Besteht eine solche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen dem Ausländer und seinem Kind und kann diese Gemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht werden, drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange zurück. Dies kann selbst dann gelten, wenn der Ausländer vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat. Derartige schützenswerte Lebensverhältnisse liegen insbesondere vor, wenn ein Kind auf die dauernde Anwesenheit eines Elternteils angewiesen ist, wobei es in diesem Zusammenhang nicht darauf ankommt, ob die Betreuung auch von anderen Personen, beispielsweise der Mutter des Kindes, erbracht werden kann. Der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters wird nicht schon durch die Betreuungsleistungen der Mutter entbehrlich, sondern hat eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes. Bei der vorzunehmenden Bewertung der familiären Beziehungen verbietet sich eine schematische Einordnung und Qualifizierung als entweder aufenthaltsrechtlich grundsätzlich schutzwürdige Lebens- und Erziehungsgemeinschaft oder Beistandsgemeinschaft oder aber als bloße Begegnungsgemeinschaft ohne aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen, zumal auch der persönliche Kontakt mit dem Kind in Ausübung eines Umgangsrechts unabhängig vom Sorgerecht Ausdruck und Folge des natürlichen Elternrechts und der damit verbundenen Elternverantwortung ist und daher ohne den Schutz des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG steht (BVerfG, Beschluss vom 30.01.2002 - 2 BvR 231/00 - NVwZ 2002, 849 mwN ).

Die Grundsätze dieser Entscheidung, die im Fall eines vor Ausweisung und Abschiebung bedrohten Ausländers ergangen sind, gelten auch für die Frage, ob die Erfüllung der Wehrpflicht in der Türkei hier im Einzelfall aus zwingenden Gründen unzumutbar ist. Auch hier geht es um die Frage, ob die 15-monatige Abwesenheit die Vater-Kind-Beziehung in einer Weise beeinträchtigen würde, dass sie die Wertung rechtfertigt, es handele sich um eine unzumutbar lange Trennung. Dem entsprechend heißt es in den vorläufigen Anwendungshinweisen des Bundesinnenministeriums zum Aufenthaltsgesetz (vom Dezember 2004) unter Ziffer 3.3.1.2, dass eine Unzumutbarkeit der Erfüllung der Wehrpflicht im Heimatstaat regelmäßig bei Ausländern vorliege, die mit ihrem minderjährigen deutschen Kind zusammenleben und zur Ausübung der Personensorge berechtigt sind. Hier lebt der Kläger, der zusammen mit der Mutter des Kindes die elterliche Sorge ausübt, mit seinem Sohn ... und dessen Mutter zusammen. ... ist jetzt 1 ½ Jahre alt und würde durch eine 15-monatige Abwesenheit des Vaters in der Entwicklung entscheidend beeinträchtigt werden. Gerade in dieser Lebensphase sind Kinder auf die spezifischen Erziehungsbeiträge beider Elternteile angewiesen. Wenn - wie hier - eine intakte familiäre Gemeinschaft besteht, würde das über 15-monatige Fehlen des Vaters beide Kinder entscheidend negativ prägen. [...]