OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 14.07.2009 - 4 Bs 109/09 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 36 ff.] - asyl.net: M16312
https://www.asyl.net/rsdb/M16312
Leitsatz:

Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes für eine türkische Staatsangehörige, um im Hauptsacheverfahren zu prüfen, ob ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht erlischt, wenn sie sich wegen einer Zwangsehe jahrelang im Ausland aufhält.

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, Assoziationsberechtigte, Verlassen des Aufnahmemitgliedstaats, berechtigte Gründe, EuGH, psychische Zwangslage, Zwangsehe
Normen: AufenthG § 37, AufenthG § 25 Abs. 5, ARB 1/80 Art. 7
Auszüge:

[...]

Die Antragstellerin bringt mit ihrer Beschwerde dagegen u.a. vor, entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts habe sie ihren assoziationsrechtlichen Aufenthaltsstatus nicht durch die erzwungene Eheschließung und den anschließenden, ebenfalls unfreiwilligen Aufenthalt in der Türkei verloren. Sie macht dazu der Sache nach geltend, von berechtigten Gründen, bei deren Vorliegen das Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 trotz langjähriger Abwesenheit vom Bundesgebiet nicht erlösche, sei schon dann auszugehen, wenn eine psychisch bedingte Zwangslage, durch welche die freie Willensbetätigung einschränkt gewesen sei, Anlass für die Ausreise und den Verbleib in der Türkei gewesen sei. Eine solche Zwangslage habe in ihrem Fall u.a. wegen ihrer strengen Erziehung und ihrer tiefgehenden Prägung durch ihre Eltern vorgelegen. Deren Absicht, sie in der Türkei gegen ihren Willen zu verheiraten, habe sie sich seinerzeit ebenso wenig widersetzen können wie nach der Zwangsheirat der ständigen Überwachung und den Anweisungen ihres türkischen Ehemannes bzw. dessen Familie. Die Antragstellerin hat hierzu im Beschwerdeverfahren eine umfangreiche eidesstattliche Versicherung vom 26. Juni 2009 vorgelegt, in der sie neben den Einzelheiten der Ausreise und Eheschließung u.a. auch die Gründe schildert, aus denen sie sich 1995 und 1996 nach den Besuchsaufenthalten in Hamburg gezwungen sah, wieder in die Türkei zurückzukehren.

Mit diesem Vorbringen, dessen Einzelheiten gegebenenfalls im Hauptsacheverfahren weiter zu vertiefen und durch eine Beweisaufnahme festzustellen sein werden (vgl. dazu unten), hat die Antragstellerin eine die Entscheidung des Verwaltungsgerichts tragende Begründung – ihrer Abschiebung stünde ein assoziationsrechtlicher Aufenthaltsstatus nicht entgegen – ausreichend erschüttert. Denn es dürfte nicht anzunehmen sein, dass das seinerzeit von der Antragstellerin nach Art. 7 ARB 1/80 erworbene Aufenthaltsrecht (hier aufgrund der abgeschlossenen Ausbildung der Antragstellerin nach Satz 2 dieser Norm) im Falle des Verlassens des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum nur unter den vom Verwaltungsgericht angenommenen (engen) Voraussetzungen fortbesteht, dass eine türkische Staatsangehörige unter Gewalteinwirkung oder sonstiger physischer Ausschaltung des freien Willens in die Türkei verschleppt und dort (zwangs-)verheiratet worden ist und sie danach ebenfalls durch Zwang objektiv daran gehindert war, wieder in das Bundesgebiet zurückzukehren bzw. hier dauerhaft zu verbleiben. Vielmehr ist ernsthaft in Betracht zu ziehen, dass der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften – EuGH - "berechtigte Gründe", die nach dessen ständiger Rechtsprechung das Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 auch bei längerer Abwesenheit unberührt lassen (vgl. dazu Urt. v. 16.3.2000 - C-329/97 - , Ergat, InfAuslR 2000, 217 ff.; Urt. v. 11.11.2004 - C-467/02 -, Cetinkaya, NVwZ 2005, 198 ff.; Urt. v. 7.7.2005 - C-373/03 -, Aydinli, DVBl. 2005, 1256 ff.; Urt. v. 16.2.2006 - C-502/04 -, Torun, NVwZ 2006, 556 ff.; Urt. v. 18.7.2007 - C-325/05 -, Derin, InfAuslR 2007, 326 ff.; Urt. v. 4.10.2007 - C-349/06 -, Polat, NVwZ 2008, 59 ff.), schon dann annehmen wird, wenn eine türkische Staatsangehörige in einer soziokulturell bedingten psychischen Zwangslage, welche die freie Willensbetätigung wesentlich beeinträchtigt, einen Aufnahmemitgliedstaat verlässt und nach einer - von ihren Eltern und denen ihres künftigen Ehemannes arrangierten - Zwangsheirat aus denselben Gründen zu einer dauerhaften Rückkehr in den Aufnahmemitgliedstaat über einen längeren Zeitraum nicht in der Lage ist. Den durch den vorliegenden Fall insoweit aufgeworfenen Fragen nach der Auslegung assoziationsrechtlicher Vorschriften, insbesondere in Bezug auf die Auslegung des Begriffs der "berechtigten Gründe" in der o.g. Rechtsprechung des EuGH, ist nicht im Eilverfahren nachzugehen. Das hat im Hauptsacheverfahren zu geschehen und hierzu könnte eine Vorlage an den EuGH nach Art. 234 EG in Betracht kommen. [...]

Soweit sich dieser Vortrag der Antragstellerin über eine die freie Willensbestätigung beeinträchtigende Zwangslage im Hauptsacheverfahren als im Wesentlichen zutreffend erweisen sollte, ist im Hauptsacheverfahren die Rechtsfrage zu entscheiden, ob in einer derartigen Fallgestaltung (Zwangsehe) das aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 abgeleitete Aufenthaltsrecht nicht erlischt. Dafür spricht Einiges:

Nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH kann der aus Art. 7 ARB 1/80 folgende aufenthaltsrechtliche Status nur in zwei Fällen beschränkt werden: Entweder stellt die Anwesenheit des assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 dar oder der Betroffene hat das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen (vgl. Urt. v. 16.3.2000 - C-329/97 -, Ergat, InfAuslR 2000, 217 ff.; Urt. v. 11.11.2004 - C-467/02 -, Cetinkaya, NVwZ 2005, 198 ff.; Urt. v. 7.7.2005 - C-373/03 -, Aydinli, DVBl. 2005, 1256 ff.; Urt. v. 16.2.2006 - C-502/04 -, Torun, NVwZ 2006, 556 ff.; Urt. v. 18.7.2007 - C-325/05 -, Derin, InfAuslR 2007, 326 ff.; Urt. v. 4.10.2007 - C-349/06 -, Polat, NVwZ 2008, 59 ff.).

Nähere Ausführungen bzw. konkrete Maßstäbe zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen von einem Verlassen des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum "ohne berechtigte Gründe" auszugehen ist, lassen sich der Rechtsprechung des EuGH bisher jedoch nicht entnehmen. Allerdings hat dieses Gericht zu diesem Begriff bereits in einer Entscheidung vom 17. April 1997 (C-351/95 - Kadiman - Rn. 48, NVwZ 1997, 1104) zum Ausdruck gebracht, dass im Rahmen der Beurteilung einer längeren Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat maßgebend auf die Freiwilligkeit abzustellen sei. Es sei zu prüfen, ob der auf längere Zeit angelegte Aufenthalt in der Türkei vom Willen des Betroffenen getragen war oder nicht. Auch wenn diese Entscheidung des EuGH zu der Frage ergangen ist, ob ein ununterbrochener dreijähriger gemeinsamer Wohnsitz als Voraussetzung für die Entstehung der Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1, 1. Spiegelstrich ARB 1/80 vorgelegen hat, dürften diese Ausführungen Rückschlüsse auf die Frage zulassen, unter welchen Voraussetzungen nach Auffassung des EuGH von einem Verlust eines nach dieser Vorschrift begründeten Aufenthaltsrechts durch Abwesenheit vom Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum "ohne berechtigte Gründe“ auszugehen ist (ebenso: OVG Lüneburg, Urteil 27.3.2008, InfAuslR 2009, 54; VGH, München, Beschl. v. 21.3.2006 - 24 ZB 06.233 -, juris).

Bei Berücksichtigung dieser Anhaltspunkte spricht Überwiegendes dafür, dass der EuGH schon dann "berechtigte Gründe" annehmen wird, die trotz längerer Abwesenheit die Aufrechterhaltung des aufenthaltrechtlichen Status nach Art. 7 ARB 1/80 rechtfertigen, wenn eine türkische Staatsangehörige in einer soziokulturell bedingten psychischen Zwangslage, welche die freie Willensbetätigung wesentlich beeinträchtigt, einen Aufnahmemitgliedstaat verlässt und nach einer - von ihren Eltern und denen ihres künftigen Ehemannes arrangierten - Zwangsheirat aus denselben Gründen zu einer dauerhaften Rückkehr in den Aufnahmemitgliedstaat (zunächst) nicht in der Lage ist. Dagegen ist nicht zu erwarten dass der EuGH im Falle einer mittels psychischem Druck durchgesetzten Zwangsehe die Aufrechterhaltung der Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 an die vom Verwaltungsgericht für zutreffend erachteten engen Voraussetzungen knüpft wird, wonach die türkische Frau unter Gewalteinwirkung oder sonstiger Ausschaltung des freien Willens in die Türkei verschleppt worden und es ihr danach objektiv unmöglich gewesen sein muss, wieder dauerhaft in das Bundesgebiet zurückzukehren. Soweit sich die aufgeworfene Frage im Hauptsacheverfahren nicht schon anhand der bisherigen Rechtsprechung des EuGH eindeutig beantworten lassen sollte, wäre insoweit gegebenenfalls eine Vorlage an den EuGH nach Art. 234 EG in Betracht zu ziehen. [...]