VG Berlin

Merkliste
Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 13.01.2010 - 13 K 62/09 V - asyl.net: M16592
https://www.asyl.net/rsdb/M16592
Leitsatz:

Ausnahmefall von der Voraussetzung der Lebensunterhaltssicherung für die Erteilung eines Visums zum Ehegattennachzug, da die in Deutschland lebende Ehefrau staatenlos und an Multipler Sklerose erkrankt ist und der ägyptische Ehemann in Spanien erwerbstätig war.

Schlagwörter: Visumsverfahren, Familienzusammenführung, Spanien, Sicherung des Lebensunterhalts, atypischer Ausnahmefall
Normen: AufenthG § 6 Abs. 4, AufenthG § 27 Abs. 1, AufenthG § 30 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 5 Abs. 1, AufenthG § 2 Abs. 3 S. 1
Auszüge:

[...]

Nach diesen Maßstäben ist der Lebensunterhalt des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig nicht gesichert, wobei dahinstehen kann, ob bei der Berechnung auf die mit dem Ausländer gebildete Bedarfsgemeinschaft abzustellen ist (so wohl BVerwG, Urteil vom 7. April 2009 - BVerwG 1 C 17/08 -, InfAuslR 2009, S. 270 [274]) oder ob die Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG bereits dann erfüllt ist, wenn allein der den Nachzug begehrende Ehegatte für seine Person über hinreichendes Einkommen verfügt (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27. August 2009 - OVG 11 B 1.09 -, InfAuslR 2009, S. 448). [...]

Das der Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zugrunde liegende öffentliche Interesse daran, die öffentlichen Haushalte vor möglichen Belastungen zu schützen, hat hier jedoch zurückzutreten. Denn es liegt ein atypischer Sachverhalt vor, der sich von der Menge gleich liegender Fälle durch besondere Umstände unterscheidet und die Anwendung des Regeltatbestandes grob unpassend erscheinen ließe. Dies folgt hier aus einer Gesamtschau aller Umstände:

Im Regelfall kann ein Ausländer darauf verwiesen werden, die Gemeinschaft mit seinen ausländischen Familienangehörigen im gemeinsamen Heimatland herzustellen und zu wahren, wenn die Voraussetzungen für einen Ehegattennachzug nach den einschlägigen Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes, wozu auch die Sicherung des Lebensunterhalts zählt, nicht vorliegen. Das trifft hier nicht zu. Die Kläger gehören nicht nur vollkommen unterschiedlichen Kulturkreisen an, die Klägerin zu 1. ist zudem staatenlos und steht damit außerhalb eines ihr Schutz gewährenden Staatsverbandes. Sie lebt seit ihrem 15. Lebensjahr über einen Zeitraum von nunmehr 14 Jahren durchgehend in der Bundesrepublik Deutschland und hat hier ihre schulische und berufliche Integration erfahren. Ihre nächsten Familienangehörigen, namentlich ihre Mutter, leben in der Bundesrepublik Deutschland und haben die deutsche Staatsangehörigkeit erworben. Selbst wenn es einem Ausländer unter diesen Umständen zumutbar sein sollte, die eheliche Lebensgemeinschaft, wenn schon nicht in seinem Heimatland oder in dem Herkunftsstaat des Ehegatten, so doch in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zu führen, fällt hier zusätzlich die gesundheitliche Verfassung der Klägerin zu 1. ins Gewicht. Nach den plausiblen Angaben des Neurologen Prof. Dr. E. ist die Klägerin zu 1. infolge ihrer Erkrankung des zentralen Nervensystems auf eine immunmodulatorische Basistherapie mit täglichen Injektionen und eine engmaschige neurologisch fachärztliche Überwachung angewiesen. Kann auch die Behandelbarkeit einer MS-Erkrankung in Spanien nicht ernstlich zweifelhaft sein, ist der tatsächliche Zugang der Klägerin zu 1. zu einer adäquaten medizinischen Versorgung infolge der Sprachbarriere, bezüglich derer auch der Kläger zu 2. keine wesentliche Hilfestellung zu geben vermag, gleichwohl erheblich beeinträchtigt. Vor allem in einer Anfangsphase besteht daher die Gefahr einer Gesundheitsbeeinträchtigung. Soweit die Klägerin zu 1. infolge ihrer psychoreaktiven Problematik zusätzlich auf familiäre Unterstützung angewiesen ist, vermag sie hierauf in Spanien gleichfalls nicht zurückzugreifen. Hinzu kommt, dass nach den Erwerbsbiographien der Kläger und dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindruck der Lebensunterhalt in der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig zwar nicht sicher gestellt, die dauerhafte Inanspruchnahme öffentlicher Mittel andererseits auch nicht überwiegend wahrscheinlich ist. Die Klägerin zu 1. war ungeachtet ihrer MS-Erkrankung bis zu dem jüngsten Krankheitsschub bereit und gesundheitlich in der Lage, über einen längeren Zeitraum einer Erwerbstätigkeit in Vollzeit nachzugehen. Der Kläger zu 2. selbst vermochte die Voraussetzungen für die wiederholte Erteilung spanischer Aufenthaltstitels durch eigene Erwerbstätigkeit zu schaffen. Es spricht wenig dafür, dass die Kläger zu Erzielung nachhaltiger Einkünfte in der Bundesrepublik Deutschland in der Zukunft außerstande sein werden. Dass die Klägerin zu 1. krankheitsbedingt nicht in der Lage sein würde, den Unterhaltsbedarf der Bedarfsgemeinschaft alleine zu decken, war nach ihren glaubhaften Bekundungen im Zeitpunkt der Eheschließung Anfang des Jahre 2006 noch nicht abzusehen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Klägerin zu 1. in der Ausbildung zur sozialpädagogischen Assistentin, einer beruflichen Qualifikation, welche unter normalen Umständen zur Sicherung des Lebensunterhalts einer aus zwei Personen bestehenden Bedarfsgemeinschaft ausreichend ist. Die MS-Erkrankung, welche in der Folgezeit die Eingehung eines Arbeitsverhältnisses mit einer angemessen Vergütung ersichtlich erschwerte, war in ihrem genauen Ausmaß und ihren Folgen im damaligen Zeitpunkt noch nicht festgestellt. [...]