EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 21.01.2010 - Bekleyen, C-462/08 - asyl.net: M16594
https://www.asyl.net/rsdb/M16594
Leitsatz:

Kinder türkischer Arbeitnehmer haben auch dann ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht, wenn ihre Eltern während der Berufsausbildung nicht mehr in Deutschland leben. Art. 7 Abs. 2 ARB 1/80 dient nicht dazu, günstige Voraussetzungen für die Familienzusammenführung zu schaffen, sondern soll den Zugang der Kinder türkischer Arbeitnehmer zum Arbeitsmarkt erleichtern.

Schlagwörter: Türkischer Arbeitnehmer, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Kinder, Berufsausbildung, Aufenthaltsrecht, Aufenthaltserlaubnis, Bekleyen,
Normen: ARB 1/80 Art. 7 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Ist Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen, dass das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und das entsprechende Aufenthaltsrecht nach Abschluss einer Berufsausbildung im Aufnahmeland auch dann entsteht, wenn das im Aufnahmeland geborene Kind, nachdem es mit seiner Familie in den gemeinsamen Herkunftsstaat zurückgekehrt war, als Volljähriger allein in den betreffenden Mitgliedstaat zur Aufnahme einer Berufsausbildung zu einem Zeitpunkt zurückkehrt, zu dem seine in der Vergangenheit als Arbeitnehmer beschäftigten Eltern türkischer Staatsangehörigkeit den Mitgliedstaat bereits zehn Jahre zuvor auf Dauer verlassen hatten?

15 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob sich das Kind eines türkischen Arbeitnehmers, der im Aufnahmemitgliedstaat länger als drei Jahre ordnungsgemäß beschäftigt war, in diesem Mitgliedstaat nach Abschluss seiner Berufsausbildung in diesem Staat auch dann auf das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und das entsprechende Aufenthaltsrecht berufen kann, wenn es, nachdem es mit seinen Eltern in den Herkunftsstaat zurückgekehrt war, allein in den betreffenden Mitgliedstaat zurückkehrte, um dort diese Ausbildung aufzunehmen. [...]

18 Der Gerichtshof hat außerdem entschieden, dass Art. 7 Abs. 2, wie unmittelbar aus seinem Wortlaut hervorgeht, das einem Kind eines türkischen Arbeitnehmers eingeräumte Recht, sich im Aufnahmemitgliedstaat auf jedes Stellenangebot zu bewerben, von den zwei Voraussetzungen abhängig macht, dass das Kind des betreffenden Arbeitnehmers im fraglichen Mitgliedstaat eine Berufsausbildung abgeschlossen hat und dass ein Elternteil in diesem Staat seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war (Urteil vom 19. November 1998, Akman, C-210/97, Slg. 1998, I-7519, Randnr. 25).

19 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist nicht erforderlich, dass der Elternteil des Kindes zu dem Zeitpunkt, zu dem das Kind seine Ausbildung abschließt und das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats und damit einen Anspruch auf eine entsprechende Aufenthaltserlaubnis in diesem Staat erwirbt, nach wie vor die Arbeitnehmereigenschaft besitzt oder in diesem Staat wohnt, sofern er dort in der Vergangenheit mindestens drei Jahre lang ordnungsgemäß beschäftigt war (vgl. in diesem Sinne Urteile Akman, Randnr. 51, und vom 16. März 2000, Ergat, C-329/97, Slg. 2000, I-1487, Randnr. 44).

20 Im vorliegenden Fall steht fest, dass Frau Bekleyen in Deutschland eine Berufsausbildung abgeschlossen hat und dass ihre Eltern dort länger als drei Jahre beschäftigt waren.

21 Die dänische und die niederländische Regierung machen allerdings geltend, dass Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 das Recht des Kindes eines türkischen Arbeitnehmers auf Zugang zum Arbeitsmarkt davon abhängig mache, dass Gleichzeitigkeit zwischen der Beschäftigung oder zumindest dem Aufenthalt eines der Elternteile im Aufnahmemitgliedstaat und dem Beginn der Berufsausbildung des Kindes bestehe. Da im Ausgangsverfahren ein solcher zeitlicher Zusammenhang nicht gegeben sei, könne sich Frau Bekleyen nicht auf die durch Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 verliehenen Rechte berufen.

22 Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden.

23 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass eine solche Voraussetzung in Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 nicht ausdrücklich genannt ist und dass, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, diese Bestimmung nicht eng ausgelegt werden darf (Urteil Akman, Randnr. 39).

24 Der Beschluss Nr. 1/80 soll die allmähliche Integration der türkischen Staatsangehörigen, die die Voraussetzungen einer der Bestimmungen dieses Beschlusses erfüllen und damit in den Genuss der darin vorgesehenen Rechte kommen, im Aufnahmemitgliedstaat fördern (Urteil vom 18. Dezember 2008, Altun, C-337/07, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 29).

25 Nach ständiger Rechtsprechung stellt Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 eine gegenüber Abs. 1 des Artikels günstigere Bestimmung dar, die darauf abzielt, unter den Familienangehörigen der türkischen Arbeitnehmer die Kinder besonders zu behandeln, indem sie ihnen den Eintritt in den Arbeitsmarkt nach Abschluss einer Berufsausbildung zu erleichtern sucht, damit gemäß dem Zweck dieses Beschlusses schrittweise die Freizügigkeit der Arbeitnehmer verwirklicht wird (Urteile Akman, Randnr. 38, und Torun, Randnr. 23).

26 Anders als Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80, der verlangt, dass der Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers bei diesem für gewisse Zeit ununterbrochen seinen Wohnsitz hat (Urteil Altun, Randnr. 30), enthält Art. 7 Abs. 2 keine Voraussetzung eines tatsächlichen Zusammenlebens in häuslicher Gemeinschaft mit dem Arbeitnehmer.

27 Grund dafür ist, dass Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 nicht dazu dient, günstige Voraussetzungen für die Familienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat zu schaffen (Urteil Akman, Randnr. 43), sondern den Zugang der Kinder türkischer Arbeitnehmer zum Arbeitsmarkt erleichtern soll.

28 Diese Feststellung spricht dafür, Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen, dass er die Rechte, die er den Kindern türkischer Arbeitnehmer verleiht, nicht davon abhängig macht, dass ein Elternteil zu dem Zeitpunkt, zu dem das Kind seine Berufsausbildung im Aufnahmemitgliedstaat beginnt, nach wie vor die Arbeitnehmereigenschaft besitzt oder in diesem Staat wohnt.

29 Sind die in Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 genannten Voraussetzungen erfüllt, verleiht diese Bestimmung dem Kind eines türkischen Arbeitnehmers ein eigenes Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt im Aufnahmemitgliedstaat und entsprechend ein Recht, sich dort aufzuhalten.

30 Zwar hat das Recht des Kindes eines türkischen Arbeitnehmers auf freien Zugang zum Arbeitsmarkt seine Grundlage in der Arbeit, die der Arbeitnehmer in der Vergangenheit im Aufnahmemitgliedstaat verrichtet hat.

31 Wie der Generalanwalt in Nr. 63 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, darf aber nach der spezifischen Funktion, die Art. 7 Abs. 2 im Rahmen der Integration der Kinder türkischer Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats hat, das Erfordernis, dass ein Elternteil seit mindestens drei Jahren in diesem Staat gearbeitet hat, nicht so verstanden werden, dass der betreffende Elternteil zu dem Zeitpunkt, zu dem das Kind seine Berufsausbildung beginnt, nach wie vor die Rechtsstellung eines Arbeitnehmers haben muss. Dieses Erfordernis soll lediglich zusammen mit der Berufsausbildung des Kindes sicherstellen, dass dieses in ausreichendem Maß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert ist, so dass es in den Genuss der besonderen Behandlung nach dieser Bestimmung kommen kann.

32 Die Erfordernisse, dass der Elternteil die Rechtsstellung eines Arbeitnehmers behalten hat und dass bei Beginn der Berufsausbildung ein zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Aufenthalt der Eltern im Aufnahmemitgliedstaat und dem des Kindes besteht, wären schwer mit dem Ziel von Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 in Einklang zu bringen, der, wie in Randnr. 27 des vorliegenden Urteils erläutert, nicht dazu dient, günstige Voraussetzungen für die Familienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat zu schaffen. [...]

45 Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass sich das Kind eines türkischen Arbeitnehmers, der im Aufnahmemitgliedstaat länger als drei Jahre ordnungsgemäß beschäftigt war, in diesem Mitgliedstaat nach Abschluss seiner Berufsausbildung in diesem Staat auch dann auf das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und das entsprechende Aufenthaltsrecht berufen kann, wenn es, nachdem es mit seinen Eltern in den Herkunftsstaat zurückgekehrt war, allein in den betreffenden Mitgliedstaat zurückkehrte, um dort seine Ausbildung aufzunehmen. [...]