VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 28.01.2010 - 1 K 2326/09.F.A [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 164 ff.] - asyl.net: M16710
https://www.asyl.net/rsdb/M16710
Leitsatz:

1. Das BAMF hat gemäß § 73 Abs. 2 a AsylVfG innerhalb von drei Jahren ab Unanfechtbarkeit der Anerkennungsentscheidung die Prüfung abzuschließen, ob ein Widerruf erfolgen soll und innerhalb dieser Drei-Jahres-Frist der zuständigen Ausländerbehörde das Ergebnis dieser Prüfung mitzuteilen.

2. Ist innerhalb des Drei-Jahres-Zeitraums nach § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG keine Prüfung der Voraussetzungen für den Widerruf erfolgt, so steht der Widerruf nach Satz 4 im Ermessen des BAMF.

3. Nach dem herabgesetzten Prognosemaßstab ist die Verfolgungsgefahr für die Kläger nicht hinreichend sicher weggefallen, insbesondere kann den tschetschenischen Klägern keine inländische Fluchtalternative in der Russischen Förderation zugemutet werden.

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Russische Föderation, Tschetschenien, Ermessen, Ermessensfehler, Prüfungszeitraum, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, "spätestens nach Ablauf von drei Jahren",
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 2a
Auszüge:

[...]

Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zwingend und unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf vorliegen, hat gemäß § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG "spätestens nach Ablauf von drei Jahren" nach Eintritt der Unanfechtbarkeit des Anerkennungsbescheides zu erfolgen. Führt diese Prüfung nicht zu einem Widerruf, so steht "eine spätere Entscheidung" über den Widerruf im Ermessen der Behörde, es sei denn, es liegen bestimmte Umstände vor, die im vorliegenden Fall keine Rolle spielen.

Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass der Gesetzgeber mit dieser Regelung eine Bestimmung treffen wollte, die es gebietet, innerhalb eines bestimmten Zeitraums das weitere Vorliegen der Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft obligatorisch zu prüfen. Folgt man dem Wortlaut des § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG, so ist dieses Ziel allerdings nicht erreicht worden, weil der Gesetzgeber eine Formulierung gewählt hat, die semantisch leer ist. Zeitbestimmungen können u.a. auch mittels der Wortkombinationen "spätestens bis" oder "frühestens nach" konstruiert werden. Die hier gewählte Konstruktion mit "spätestens nach" führt indessen dazu, dass die obligatorische Prüfung zu jedem beliebigen Zeitpunkt sowohl vor als auch nach Ablauf der drei Jahre erfolgen kann. Die Formel führt somit dazu, dass tatsächlich überhaupt keine zeitliche Limitierung erfolgt.

Es kann indessen kein Zweifel daran bestehen, dass dies dem Sinn des Gesetzes nicht entspricht. Allerdings ist der Sinn der Regelung nicht ohne Schwierigkeiten feststellbar. Aus den Gesetzesmaterialien ergibt er sich nicht. Im Regierungsentwurf heißt es hierzu nur, dass durch die Einführung einer obligatorischen Überprüfungspflicht "spätestens nach Ablauf von drei Jahren" erreicht werden soll, dass die Vorschriften über den Widerruf und die Rücknahme, die in der Praxis bislang weitgehend leergelaufen seien, "an Bedeutung gewinnen" sollten (BT-Drs. 15/420, S. 112). Die Vermutung liegt nahe, dass der Gesetzgeber erreichen wollte, dass von der Ermächtigungsgrundlage des § 73 Abs. 1 AsylVfG öfter, ja sogar systematisch regelmäßig Gebrauch gemacht wird. Das Bundesamt sollte dazu angehalten werden, systematisch jeden Fall eines anerkannten Flüchtlings innerhalb von drei Jahren nach Rechtskraft des Anerkennungsbescheides darauf zu überprüfen, ob die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rücknahme vorliegen und gegebenenfalls die Aufhebung des Anerkennungsbescheides betreiben. Dieser Sinn des Gesetzes lässt die Verwendung des Wortes "nach" als redaktionellen Fehler erscheinen. Gemeint ist nicht "spätestens nach", sondern

"spätestens bis". Mit der obligatorischen Prüfung ist so rechtzeitig zu beginnen, dass sie mit Ablauf des dritten Jahres nach Unanfechtbarkeit erfolgt ist.

Die vorstehenden Überlegungen haben in Literatur und Rechtsprechung teilweise zu der Annahme geführt, dass die Fristenregelung des § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG ausschließlich im behördlichen Interesse liege und keinerlei Außenwirkung habe (Heindel ZAR 2009, 269 [270]; HessVGH, B. v. 01.08.2005 - 7 UE 1364/05.A -, InfAuslR 2005, 491; a.A. VG Frankfurt, Gerichtsbescheid v. 16.03.2009 - 5 K 324/09.F.A -, Asylmagazin 9/2009, S. 29). Die Rechte des betroffenen Ausländers blieben davon unberührt, so dass es dessen rechtliche Position auch nicht tangieren könne, wenn das Bundesamt die ihm gesetzte Frist nicht einhalte. Diese Betrachtungsweise übersieht jedoch den funktionalen Zusammenhang zwischen der Regelung des § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG und der Regelung des § 26 Abs. 3 AufenthG. Nach der letztgenannten Vorschrift hat ein Flüchtling, dem aufgrund des § 25 Abs. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist, nach Ablauf von deren dreijähriger Gültigkeitsfrist einen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis. Die Ausländerbehörde ist dem Ausländer gegenüber, also mit Außenwirkung, verpflichtet, die Niederlassungserlaubnis zu erteilen. Das soll nach dem Willen des Gesetzgebers nur dann nicht gelten, wenn zum fraglichen Zeitpunkt die Flüchtlingseigenschaft bzw. die Asylberechtigung materiell bereits weggefallen und deshalb der Widerruf des Anerkennungsbescheides zu erwarten ist. Um zu verhindern, dass sich der Widerruf des Zuerkennungsbescheides und die Erteilung der Niederlassungserlaubnis gleichsam kreuzen, hat der Gesetzgeber in § 26 Abs. 3 AufenthG vorgesehen, dass die Erteilung der Niederlassungserlaubnis neben dem Ablauf der dreijährigen Aufenthaltserlaubnis auch noch voraussetzt, dass das Bundesamt gemäß § 73 Abs. 2a AsylVfG mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für den Widerruf (oder die Rücknahme) nicht vorliegen. § 73 Abs. 2a Satz 2 AsylVfG enthält die damit korrespondierende Regelung, dass das Ergebnis der obligatorischen Prüfung nach Satz 1 der Ausländerbehörde mitzuteilen ist. Das Recht des Flüchtlings auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis hängt also davon ab, ob und wann diese Mitteilung erfolgt und die Mitteilung steht am Ende der Prüfung. Dies zeigt, dass die Prüfung und das dafür vorgesehene Zeitfenster keineswegs ein bloßes Behördeninternum darstellt. Sie hat vielmehr unmittelbare Auswirkungen darauf, ob und wann dem Flüchtling ein Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis erwächst.

Wenn der Flüchtling somit einerseits nach Ablauf der für drei Jahre erteilten Aufenthaltserlaubnis einen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis haben soll, diese aber andererseits nur erteilt werden kann, wenn zuvor geprüft worden ist, ob die Flüchtlingseigenschaft noch vorliegt, dann folgt daraus logisch, dass die diesbezügliche Prüfung im rechtlichen Interesse des betroffenen Ausländers rechtzeitig vor Ablauf der Aufenthaltserlaubnis durchgeführt und ihr Ergebnis der Ausländerbehörde mitgeteilt werden muss. In diesem Zusammenhang gewinnt die Regelung des § 73 Abs. 2a AsylVfG an Bedeutung, wonach der Beginn des Fristlaufs nicht an den Zeitpunkt der Erteilung der dreijährigen Aufenthaltserlaubnis geknüpft ist, sondern an die Bestandskraft des Anerkennungsbescheides. Da die Aufenthaltserlaubnis stets erst nach Unanfechtbarkeit des Anerkennungsbescheides erteilt wird, ist mit dieser Regelung sichergestellt, dass der dreijährige Prüfungszeitraum noch vor Ablauf der dreijährigen Aufenthaltserlaubnis abläuft, so dass die Mitteilung des Prüfungsergebnisses an die Ausländerbehörde noch vor Ablauf der Aufenthaltserlaubnis erfolgen und ggf. nahtlos eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden kann. Erfolgt dagegen die Prüfung oder die Mitteilung des Prüfungsergebnisses erst nach Ablauf der Dreijahresfrist, so führt dies zu einer Verkürzung des Rechts des Flüchtlings auf die Niederlassungserlaubnis in zeitlicher Hinsicht.

Das Gesetz regelt allerdings nur, bis wann die Prüfung abgeschlossen sein muss, nicht aber, bis wann das Bundesamt das Ergebnis der Ausländerbehörde mitzuteilen hat (§ 73 Abs. 2a Satz 2 AsylVfG). Die Antwort auf diese Frage, auf die es im vorliegenden Fall allerdings nicht ankommt, ergibt sich jedoch aus dem vorstehend explizierten Sinn der Fristenregelung. Da die Ausländerbehörde nach Ablauf der drei Jahre entscheiden können muss, ob die Niederlassungserlaubnis erteilt wird oder nicht, muss die Mitteilung des Bundesamtes auch bis dahin vorliegen. Im Ergebnis umfasst die Drei-Jahres-Frist des § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG also auch die Mitteilung an die Ausländerbehörde. Zum Zeitpunkt des Ablaufs der Frist muss die Mitteilung bei der Ausländerbehörde eingegangen sein. Dem steht die Bemerkung des Bundesverwaltungsgerichts in seinem Urteil vom 12.06.2007 (- 10 C 24.07 - TZ 15) nicht entgegen, wonach zu dem Drei-Jahres-Zeitraum noch ein angemessener Prüfungszeitraum hinzuzurechnen sei. Diese Bemerkung bezieht sich nämlich auf den Zeitraum, innerhalb dessen der (zwingende) Widerrufsbescheid zu erlassen ist, nicht aber darauf, bis wann die Prüfung abgeschlossen sein muss und die Prüfungsmitteilung zu ergehen hat. Es wäre auch schwerlich nachvollziehbar, mit welcher Legitimation dem gesetzlich fixierten Prüfungszeitraum noch ein weiterer nicht kodifizierter ("angemessener") Prüfungszeitraum kraft Richterrechts hinzugerechnet werden könnte.

Allerdings bleibt bisher noch offen, welche Rechtsfolge eintritt, wenn die Frist gleichwohl nicht eingehalten wird. Einige Stimmen in Rechtsprechung und Literatur vertreten die Auffassung, dass die behördliche Verletzung der Fristenregelung des § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG keinerlei rechtliche Folgen hat (Bell ZAR 2008, 351; Heindel a.a.O.; HessVGH a.a.O). Insbesondere führe sie nicht etwa dazu, dass nach ergebnislosem Ablauf der Prüfungsfrist der Widerruf nicht mehr zwingend sei, sondern im Ermessen der Behörde stehe. Das wird daraus gefolgert, dass die rechtlichen Voraussetzungen dafür, dass aus der gebundenen Entscheidung über den Widerruf eine Ermessensentscheidung wird, in § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG geregelt seien. Danach stehe die "spätere Entscheidung" über den Widerruf nur dann im Ermessen der Behörde, wenn "nach der Prüfung" kein Widerruf erfolgt sei. Die Regelung setze also für die Eröffnung des Ermessens voraus, dass die obligatorische Prüfung nach Satz 1 und die Entscheidung, nicht zu widerrufen, erfolgt sei, wobei es nicht darauf ankomme, ob dies fristgerecht oder verspätet geschehen sei.

Diese Auslegung ist vom Wortlaut her zwar möglich, aber nicht zwingend. Der Ausdruck "nach der Prüfung" in Satz 4 referiert zwar zweifellos auf die Prüfung im Sinne des Satzes 1. Was aber unter "Prüfung" im Sinne des Satzes 1 verstanden werden soll, ist keineswegs eindeutig. Denkbar ist es, mit den zitierten Stimmen aus Rechtsprechung und Literatur darunter einfach nur die erste Prüfung zu verstehen, die nach Eintritt der Unanfechtbarkeit des Zuerkennungsbescheides vorgenommen wird, unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt diese auch immer erfolgen mag. Dieser Begriff von "Prüfung" zeichnet sich also dadurch aus, dass das Merkmal "innerhalb von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit" nicht als Merkmal des Begriffs "Prüfung" betrachtet wird. Traditionell gesprochen: Die Fristgerechtigkeit wird nicht als Wesensmerkmal, sondern nur als Eigenschaft aufgefasst, die die Prüfung im Sinne des Satzes 1 haben kann oder auch nicht.

Denkbar ist es aber auch, das Merkmal der Fristgerechtigkeit als Wesensmerkmal des Begriffs Prüfung aufzufassen. Dafür spricht, dass es nicht um irgendeine Prüfung geht, sondern um genau die im Sinne des Satzes 1. In Satz 1 geht es aber gerade um eine Prüfung innerhalb eines bestimmten Zeitfensters und nicht um eine zeitlich ungebundene Prüfung. Nach dieser Lesart ist "Prüfung" immer eine "Prüfung im Sinne des Satzes 1", also eine "Prüfung innerhalb des Zeitfensters" nach Satz 1. Satz 4 lässt sich dann auch so lesen: Ist auf eine Prüfung nach Satz 1 ein Widerruf schon deshalb nicht erfolgt, weil innerhalb des Drei-Jahres-Zeitraums eine solche Prüfung nicht stattgefunden hat und wegen Zeitablaufs auch nicht mehr stattfinden kann, dann steht jede spätere Entscheidung über den Widerruf im Ermessen der Behörde.

Dass diese zuletzt genannte Lesart des Satzes 4 auch die zutreffende ist, ergibt sich aus einer an Sinn, Zweck und systematischem Zusammenhang orientierten Betrachtungsweise. Die Regelung, wonach der Widerruf des Zuerkennungsbescheides in den ersten drei Jahren nach Eintritt seiner Unanfechtbarkeit obligatorisch sein, danach aber im Ermessen der Behörde stehen soll, hat ihren Grund darin, dass nach Ablauf einer gewissen Aufenthaltszeit des Flüchtlings zur Rechtfertigung des weiteren Aufenthalts der Schutz vor Verfolgung zunehmend an Bedeutung verliert, während andere Gründe an Gewicht gewinnen, nämlich solche, die mit der Integration des Flüchtlings in die deutsche Gesellschaft zu tun haben. Zwar ist es Sache der Ausländerbehörde, im Rahmen des ihr nach § 52 AufenthG eingeräumten Ermessens bei der Entscheidung über den etwaigen Widerruf des Aufenthaltstitels nach Wegfall des Flüchtlingsstatus Aspekte der bisher erfolgten und noch zu erwartenden Integration zu berücksichtigen. Indessen wäre es eine sinnlose Vergeudung behördlicher Ressourcen, nach Bestandskraft des Anerkennungsbescheides bei jedem Wegfall der Verfolgungsgefahr den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung obligatorisch zu machen, wenn wegen der nach Art. 8 EMRK geschützten und deshalb zu berücksichtigenden Integration des Ausländers der Widerruf des Aufenthaltstitels ohnehin nicht in Betracht kommt. Deshalb macht es Sinn, dem Bundesamt für die Entscheidung über den Widerruf des Zuerkennungsbescheides einen Ermessenspielraum einzuräumen, innerhalb dessen es die erfolgte Integration des betroffenen Ausländers berücksichtigen kann. Der Ermessensspielraum ermöglicht es, ein Widerrufsverfahren nur in den Fällen einzuleiten, in denen eine erfolgreiche Integration des Ausländers nicht stattgefunden hat und ihm deshalb keine Rechtsposition aus Art. 8 EMRK erwachsen ist, beispielsweise also im Falle erheblicher Konflikte mit dem Strafgesetz.

Würde man sich nun von der in der zitierten Literatur und Rechtsprechung präferierten Lesart des § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG leiten lassen, so würde das dazu führen, dass bei Wegfall der Verfolgungsgefahr obligatorisch der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung erfolgen müsste, obwohl andererseits der weitere und dauerhafte Aufenthalt des Ausländers in Deutschland nicht beendet werden dürfte, weil dem aufgrund der erfolgten Integration das Menschenrecht des Privatlebens (Art. 8 EMRK) entgegenstünde. Der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung samt des nachfolgenden Gerichtsverfahrens über möglicherweise drei oder vier Instanzen erwiese sich als eine schlechterdings unvertretbare Fehlallokation behördlicher und gerichtlicher Ressourcen.

Diese sinnlose und kostenträchtige Konsequenz sollte bei der vernünftigen Auslegung des Gesetzes berücksichtigt werden. Das nötigt dazu, der zweiten Lesart des § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG den Vorzug zu geben. Ist also innerhalb des Drei-Jahres-Zeitraums nach § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG keine Prüfung der Voraussetzungen für den Widerruf erfolgt, so steht der Widerruf des Zuerkennungsbescheides nach § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG im Ermessen des Bundesamtes.

Diesen Überlegungen steht auch nicht der Umstand entgegen, dass das Gesetz eine Ermessensentscheidung überhaupt nur beim Widerruf der Feststellung der Asylberechtigung bzw. der Flüchtlingseigenschaft vorsieht, nicht aber beim Widerruf des subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2, 3, 7 Satz 2 sowie Absatz 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG. In diesen Fällen ist der Widerruf vielmehr dauerhaft obligatorisch, so dass auch unter dem Gesichtspunkt fortgeschrittener Integration davon nicht abgewichen werden kann (§ 73 Abs. 3 AufenthG). Diese Differenzierung beruht nämlich erkennbar auf dem Ziel des Gesetzgebers, den rechtlichen Schutz erfolgter Integration und damit die Realisierung des Rechts auf Privatleben (Art. 8 EMRK) für Ausländer, denen bloß aus subsidiären Schutzgründen ein Aufenthaltsrecht gewährt worden ist, im Vergleich zu jenen zu erschweren, denen das Aufenthaltsrecht wegen ihrer Flüchtlingseigenschaft oder Asylberechtigung gewährt worden ist. Das zeigt sich daran, dass Ausländer, die den subsidiären Schutzstatus genießen, nicht drei, sondern mindestens sieben Jahre warten und weitere Hürden überwinden müssen, um einen unbefristeten Aufenthaltstitel zu erlangen (§ 26 Abs. 4 AufenthG). Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Differenzierung sachgerecht ist oder möglicherweise deshalb willkürlich, weil ein sinnhafter Zusammenhang zwischen dem Umfang des Rechts auf Privatleben (Art. 8 EMRK) einerseits und den verschiedenen Gründen der Schutzbedürftigkeit andererseits nicht erkennbar ist. Im vorliegenden Zusammenhang genügt es festzustellen, dass aus den Regeln über den Widerruf des subsidiären Status jedenfalls keinerlei Schlüsse für die Auslegung der Regeln über den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft oder der Asylberechtigung gezogen werden können.

Die Rechtsauffassung des erkennenden Gerichts steht nicht im Widerspruch zu der bisher hierzu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung. In seinem Urteil vom 12.06.2007 (10 C 24.07) hat das Bundesverwaltungsgericht die Frage nach den Rechtsfolgen einer pflichtwidrigen Unterlassung der Prüfung nach § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG ausdrücklich offen gelassen. Es hat aber auch entschieden, dass die Drei-Jahres-Frist eine bereichsspezifische Regelung ist, die die allgemeine Widerrufsfrist nach §§ 49 Abs. 3 Satz 2, 48 Abs. 4 VwVfG verdrängt. Da der Fristenregelung des § 48 Abs 4 VwVfG rechtliche Außenwirkung zukommt und es sich dabei nicht nur um ein Behördeninternum handelt, deren Verletzung die subjektiven Rechte des Betroffenen unberührt lässt (vgl. Bader/Ronellenfitsch, VwVfG München 2009 § 48 Rn 103f.), muss das auch für jene bereichsspezifische Regelung gelten, die an deren Stelle tritt. Insofern stützt das Bundesverwaltungsgericht die hier vertretene Auffassung.

In seinem Urteil vom 25.11.2008 (10 C 53.07) hat das Bundesverwaltungsgericht allerdings ausgeführt, dass der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung erst dann nach § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG im Ermessen des Bundesamtes steht, wenn dieses zuvor in dem nach § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG vorgeschriebenen Verfahren die Widerrufsvoraussetzungen sachlich geprüft und verneint hat. Diese Aussage steht indessen der hier vertretenen Rechtsauffassung nicht entgegen, weil sie ganz offensichtlich auf einen anderen Fall bezogen ist, nämlich den, dass es vor Inkrafttreten des § 73 Abs. 2a AsylVfG nach altem Recht bereits eine Prüfung der Widerrufsvoraussetzungen gegeben hat. Das Bundesverwaltungsgericht hat in diesem Urteil also nur entschieden, dass eine nach früherem Recht durchgeführte Prüfung nicht eine nach § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG durchzuführende Prüfung ersetzt. Was indessen gilt, wenn nach Inkrafttreten der Neuregelung die erste Prüfung nach Bestandskraft der Anerkennungsentscheidung nicht innerhalb der Drei-Jahres-Frist des § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG durchgeführt wird, sondern erst später, dazu verhält sich die genannte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht.

Soweit der deutsche Gesetzgeber den Widerruf der Flüchtlingsanerkennung aufgrund einer Prüfung, die nach Ablauf von drei Jahren erfolgt, in das Ermessen der Beklagten stellt, ist dies auch mit vorrangigem Recht vereinbar. Zwar sieht Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie des Rates 2004/83/EG die obligatorische Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft vor, wenn die Flüchtlingseigenschaft weggefallen ist. Abgesehen davon, dass diese Vorschrift nur für Anträge auf internationalen Schutz gilt, die nach Inkrafttreten der Richtlinie gestellt wurden, auf den vorliegenden Fall also nicht anwendbar ist, steht die deutsche Ermessensregelung dem schon deshalb nicht entgegen, weil die Mitgliedstaaten nach Art. 3 der Richtlinie berechtigt sind, für den Flüchtling günstigere Regelungen zu erlassen.

Die vorstehenden rechtlichen Überlegungen führen im vorliegenden Fall zu folgendem Ergebnis: Die Unanfechtbarkeit der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründenden Entscheidung ist mit ihrer Zustellung bei den Klägern eingetreten. Das war nach der Fiktion des § 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG spätestens der dritte Tag nach Absendung, also der 11.06.2006. Die Mitteilung des Bundesamtes über das Ergebnis der Prüfung hätte somit bis zum 11.06.2009 bei der Ausländerbehörde eingehen müssen. Tatsächlich hat das Bundesamt ausweislich der vorgelegten Akten aber erst am 04.06.2009 ein Anhörungsschreiben an die Kläger verfasst und darin eine einmonatige Anhörungsfrist gesetzt. Schon deshalb konnte die eigentliche Prüfung erst nach Ablauf der Drei-Jahres-Frist abgeschlossen werden. Die Mitteilung des Ergebnisses der Prüfung an die Ausländerbehörde der Stadt A-Stadt ist sogar erst unter dem 13.08.2009 erfolgt.

Damit war die Prüfung nicht mehr rechtzeitig abgeschlossen. Die Folge davon ist, dass ein Widerruf der Flüchtlingseigenschaft nur noch im Rahmen des § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG möglich ist. Danach steht die Entscheidung im Ermessen der Beklagten. Die Beklagte hat das ihr eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt, weil sie davon ausging, im Rahmen gebundener Verwaltung zu handeln. Damit hat sie das Recht der Kläger auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung (§ 40 VwVfG) verletzt.

Da die angefochtene Entscheidung schon aus den vorstehenden Gründen aufzuheben ist, kann dahingestellt bleiben, ob die Voraussetzungen für den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft überhaupt vorliegen. Die Beklagte wird in diesem Zusammenhang gut beraten sein, zu überdenken, ob sie insoweit den zutreffenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt hat. Der angefochtene Bescheid beruht, was die Verfolgungsprognose innerhalb Tschetscheniens angeht, auf der Überlegung, dass die flächendeckende Bedrohung der tschetschenischen Zivilbevölkerung durch russische Sicherheitskräfte "heute so nicht mehr festgestellt werden" könne und die asylrelevanten Übergriffe "merklich zurückgegangen" seien.

Soweit damit eine hinreichende Verfolgungsgefahr in Tschetschenien verneint wird, hat die Beklagte offenbar den "beachtlichen" Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde gelegt, also darauf abgestellt, ob die Verfolgung des Klägers im Falle seiner Rückkehr überwiegend wahrscheinlich ist. Indessen ist für die Frage, ob die spezielle Verfolgungssituation, derentwegen die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfolgt ist, noch fortbesteht, der herabgesetzte Prognosemaßstab anzuwenden. Nur dann, wenn diese Verfolgungssituation vom Betroffenen selbst nicht mehr behauptet wird und dieser sich darauf beruft, jetzt aus anderen Gründen erneuter Verfolgung ausgesetzt zu sein, soll hierfür nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der Prognosemaßstab "beachtlicher" Wahrscheinlichkeit gelten (BVerwG, Urt. v. 18.07.2006 – 1 C 15.05 –, BVerwGE 126, 243, TZ 26). Legt man im vorliegenden Fall also richtigerweise den herabgesetzten Prognosemaßstab zugrunde, so muss man auf der Basis der Tatsachenlage, von der die Beklagte selbst ausgeht, zu dem Ergebnis kommen, dass die Verfolgungsgefahr noch nicht hinreichend sicher weggefallen ist. Denn die Beklagte führt in dem angefochtenen Bescheid selbst aus, dass die Sicherheitslage in Tschetschenien nach wie vor besorgniserregend und prekär sei.

Es kann deshalb nur darauf ankommen, ob dem Flüchtling nunmehr eine inländische Fluchtalternative zugemutet werden kann. Auch insoweit ist der herabgestufte Prognosemaßstab anzuwenden. Dazu ist zunächst festzustellen, ob tschetschenischen Volkszugehörigen innerhalb der Russischen Förderation außerhalb Tschetscheniens mit hinreichender Sicherheit keine Verfolgung mehr droht und sie dort auch das Existenzminimum sichern können. Hierzu hat die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid festgestellt, es sei den Klägern nunmehr möglich und zumutbar, ihren Wohnsitz irgendwo anders in der Russischen Föderation zu nehmen, weil es seit Inkrafttreten der Verordnung Nr. 779 vom 20.12.2006 tschetschenischen Volkszugehörigen ohne Weiteres möglich sei, überall in der Russischen Föderation registriert zu werden und einen Inlandspass zu erhalten. Aufgrund der Registrierung sei auch der Zugang zu Wohnung, Arbeit und Krankenversicherung ohne weiteres möglich.

Es trifft zwar zu, dass diese Verordnung erlassen worden ist (AA an VG Köln v. 04.12.2007). Ob und inwieweit dieses Gesetz aber die Situation tschetschenischer Binnenflüchtlinge verbessert hat, ist nicht vom bloßern Erlass einer Rechtsnorm abhängig, sondern von ihrer Umsetzung. Dazu hat das Bundesamt keine Feststellungen getroffen. Dies dürfte auch schwer fallen, da es nicht einmal verlässliche statistische Erfassungen der Binnenflüchtlinge in der Russischen Förderation gibt (AA an VG Ansbach v. 22.06.2007). Das UNHCR ist jedenfalls noch im April 2009 der Auffassung, dass eine interne Schutzalternative für tschetschenische Asylsuchende weder innerhalb von Tschetschenien noch in anderen Regionen der Russischen Föderation besteht (UNHCR an ACCORD v. 07.04.2009). Selbst das Auswärtige Amt stellt in seinem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Republik vom 30.07.2009 fest, das in den großen Städten eine Regulierung des Zuzugs stattfindet und dies im Zusammenhang mit der antikaukasischen Stimmung besonders stark die Möglichkeit zurückgeführter Tschetschenen beschränkt, sich legal dort niederzulassen. Das AA verweist in diesem Zusammenhang auf den Menschenrechtsbeauftragten der Russischen Föderation, der bereits mehrfach darauf hingewiesen habe, dass Tschetschenen landesweit, insbesondere in den Großstädten die Registrierung verweigert werde (a.a.O. S. 24). Bestätigt wird das auch von dem Bericht zur Russischen Föderation des Internal Dispacement Monitoring Centre beim Norwegischen Flüchtlingsrat (Norwegian Refugee Council) vom 12.10.2009 und vom Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ("Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 25.11.2009"). Die beiden letztgenannten Berichte wie auch der Bericht von Amnesty International an das VG Köln vom 14.05.2008 belegen an Fallbeispielen, dass die Rückkehr von Tschetschenen in ihre Heimat mit erheblichen konkreten Gefahren für Leib und Leben verbunden ist. Angesichts dieser Befunde erscheint die Einschätzung der Lage, wie sie die Beklagte vorgenommen hat, und die rechtliche Schlussfolgerung, die Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, seien weggefallen, schwerlich nachvollziehbar. [...]